Dienstag, 20. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 6: Konsens und Dissens

Konsens und Dissens

Wie geht das zusammen, dass wir mit der Wirklichkeit im Einklang sein sollen und uns zugleich mit ihr auseinander-setzen, sprich in Gegensatz zu ihr gehen?

Wir brauchen die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und wir brauchen den Dissens mit ihr. Die Akzeptanz bringt uns in einen Zustand des Seelenfriedens, die Kritik lässt uns aktiv werden. Wenn wir einerseits Meditierer und andererseits Aktivisten sind, sorgen wir bestmöglich dafür, dass unsere Motive und Absichten klar und unbeeinflusst von selbstsüchtigen Interessen bleiben. Als Meditierer pflegen wir das Verbundensein mit dem Ganzen, als Aktivisten arbeiten wir an den Details, die verbessert werden sollten. In der Verbundenheit erlangen wir mehr Integrität, die der Zielgerichtetheit und Ganzheitsbezogenheit unserer Handlungen zugute kommt. Unsere Handlungen sind immer und grundsätzlich relativ. Aber die Offenheit für die Akzeptanz des So-Seins hält den Kontakt mit dem Absoluten aufrecht, sodass wir eine Prüfinstanz dafür haben, dass unsere Handlungen nicht nur eigene, sondern auch allgemeine Interessen bedienen.

Das Ganze entwickelt sich weiter, und es braucht unser Zutun, damit es sich in eine menschengerechte Richtung weiterentwickelt. Denn es gibt viele menschliche Motive, die auf den eigenen Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit ausgerichtet sind. Diese Motive müssen eingedämmt werden, damit die Menschheit zu einem Niveau der Gleichheit der Chancen und Lebensmöglichkeiten gelangt.

Generationen vor uns haben sich dafür engagiert und oft ihr Leben eingesetzt, dass wir frei unsere Meinung äußern und Kritik üben können. Sie haben für gerechte Entlohnung demonstriert und die Gleichstellung von Frauen und Männern erstritten. Letztendlich haben sie dafür gesorgt, dass wir in vielen Bereichen der Welt ein abgesichertes Leben mit Wohlstand und Freiheitsrechten führen können. Es liegt an uns, auf diesen Errungenschaften aufzubauen und hier und heute diese Entwicklung weiterzuführen und unsere Kräfte und Fähigkeiten dem Fortschritt der Menschheit hin zu mehr Menschlichkeit zu widmen.

Das stimmige Ganze und die unstimmigen Teile

Aber warum gibt es überhaupt Dissens in einem stimmigen Ganzen, in dem alles so ist, wie es ist?

Zum einen folgt aus dem, was schon beschrieben wurde, dass der Widerspruch zwischen dem Ganzen und seinen Teilen aus dem menschlichen Verstand kommt, der nicht nur die Wirklichkeit bemäkelt, wo sie dem Ego nicht passt, sondern auch Alternativen erschaffen kann für Bereiche, die im Ungleichgewicht sind. Z.B. dienen die sozialutopischen Entwürfe von Thomas Morus angefangen über die Proklamierung der Menschenrechte, über verschiedene technologische Utopien und die Ideen für eine kommunistischen Gesellschaft bis hin zu den Visionen des Metamodernismus dazu, die Welt im Sinn der Umsetzung und Durchsetzung der Menschlichkeit auf möglichst vielen Ebenen weiterzuentwickeln.

Hier können wir einen weiteren Gesichtspunkt hinzufügen. Die Welt ist ein dynamische Gebilde, das aus Spannungszuständen hin zu harmonischen, kohärenten Zuständen tendiert. Spannungszustände sind also Übergangszustände, die in sich die Kräfte bergen, die in einen Gleichgewichtszustand zurückführen, der dann ein höheres Komplexitätsniveau aufweisen kann. Die verschiedenen Systemen der Wirklichkeit haben einen Zug und eine Attraktion zu fließenden Gleichgewichtszuständen, die sich dynamisch selbst regulieren. Ein Beispiel bildet unser autonomes Nervensystem, das aus Spannungszuständen, z.B. Stress, herauskommen will und möglichst bald wieder in Entspannungszustände übergeht, in denen es sich regenerieren kann. Es ist so beschaffen, dass es Stresszustände nur in Ausnahmefällen und nur über begrenzte Zeit aufrechterhalten kann und Entspannungszustände zur Erholung und zur kreativen Neuorientierung braucht. Ein anderes Beispiel sind soziale Systeme, die immer wieder Konflikte hervorbringen, aber am besten – für die Mitglieder der Systeme und für den kreativen Output – funktionieren, wenn Konflikte in neue ausgeglichene Dynamiken übergeführt werden können, z.B. durch Mediation.

Die Beispiele stammen aus der Menschenwelt, weil diese den komplexesten Teil der Wirklichkeit ausmacht. Die nicht-menschliche Natur kennt keine Probleme – Pflanzen- und Tierarten entstehen und vergehen wieder, Landschaftsformationen verändern sich, Sterne explodieren und neue ballen sich zusammen usw., ohne dass sich die „Akteure“ und die „Betroffenen“ dazu äußern oder darunter leiden. Der Kosmos befindet sich in permanenter Bewegung und Umgestaltung, und diese Veränderungen werden ohne jeden Wertmaßstab gelenkt. Es ist dem Kosmos egal, wie viele Sonnensysteme und Galaxien er enthält. Es gibt, nach allem, was wir wissen, kein Bewusstsein in all den Vorgängen, das dazu Gefühle oder Erklärungen entwickelt. Selbst wenn wir einen Gott annehmen, macht es wenig Sinn, ihn mit Gefühls- und Bewertungsattributen zu versehen: Ein Gott, der sich ärgert, weil ein Sonnensystem kollabiert, oder der sich ängstigt, weil sich das Universum ausdehnt, erscheint uns nicht sehr glaubwürdig.

Vielmehr macht es den Anschein, dass das kosmische Geschehen ein Vorbild für die Haltung des Akzeptierens für unseren menschlichen Verstand darstellt: Alles im Universum ist, wie es ist, und geschieht, wie es geschieht. Erst die höher entwickelte Gehirnrinde der Menschen hat all die Fragen und Problematisierungen hervorgebracht, die das Akzeptieren so schwierig macht. Unser Denken ist in der Lage, sich immer Alternativen auszumalen zu dem, was ist: Was wäre, wenn die Sonne schon viel früher als bei ihrem prognostizierten Ende in fünf Milliarden Jahren zuerst zum roten Riesen und dann zum weißen Zwerg mutierte und nebenbei das Leben auf der Erde zerstörte? Was wäre, wenn ein Riesenkomet mit der Erde kollidierte? Was wäre, wenn die vorausberechnete Klimaerwärmung ausbliebe oder wenn eine neue Eiszeit käme? Das „Was-wäre-wenn“-Denken ist nicht nur die Quelle für utopische oder dystopische Romane und Filme, sondern auch ein alltäglich aktiver Produzent von Ängsten und Sorgen.

Wir leben mit einer grundsätzliche Unsicherheit und Ungewissheit, was unsere Zukunft anbetrifft. Das „Was-wäre-wenn“-Denken potenziert diese Unsicherheit bis hin zu pathologischen Angstzuständen und Wahnideen. Das Akzeptieren des So-Seins im Moment ist ein wirksames Gegenmittel, indem es die Ungewissheit in eine Haltung der Hingabe transformiert. Das Ego tritt zurück und macht einer höheren Weisheit Platz, von der wir immer nur ein Zipfelchen erhaschen.

Das menschengemachte System: Der Egoismus und seine Eindämmung

Die Menschen haben auf unserem Planeten ein System errichtet, das die gleichen Grundprinzipien wie alle anderen Systeme aufweist, das aber so viele teils einander widersprechende Selbstregulationsformen eingebaut hat, dass es dauernd zu Spannungszuständen kommt. Dadurch wird es immer schwieriger, dauerhafte Entspannungszustände herzustellen. Deshalb gibt es beispielsweise bis heute Kriege, die große Schäden und Zerstörungen anrichten, immenses Leid verursachen, und deren Befriedigung äußerst komplex und herausfordernd ist. Fast alle Menschen würden wohl, wenn man sie fragt, den Frieden dem Krieg vorziehen, aber es gibt so viele unausgeglichene Entwicklungen in den menschlichen Systemen, dass bestimmte Gruppen in bestimmten Situationen annehmen, es gäbe keinen anderen Weg zum Ausgleich als durch Gewalt. Andererseits ist es gelungen, Systeme aufzubauen, die die individuelle Gewalt eindämmen (die modernen Staaten mit ihrem Gewaltmonopol) und die kollektive Gewalt zurückdrängen (übergeordnete Strukturen, die die Staaten regulieren, wie z.B. die UNO oder die EU).

Der Ausweg aus Spannungen über die Gewalt ist immer nur ein scheinbarer Ausweg. Vielmehr ist es der Weg in die Vermehrung der Spannungen bis hin zur Ausbildung von Dauerspannungen. Ein Beispiel ist der Nahostkonflikt, der seit seiner Entstehung vor 100 Jahren zu keiner Lösung gefunden hat. Gewalt ist die extremste Form egoistischen Handelns. Darunter kann man im systemischen Zusammenhang das Handeln aus Eigennutz ohne Berücksichtigung des Gesamtnutzens verstehen. Wenn ein oder einzelne Teile eines Systems ohne Rücksicht auf das Ganze des Systems ihr Programm durchziehen, bringen sie das System ins Ungleichgewicht, bis hin zum Zusammenbruch. Dafür dient die Krebserkrankung als Beispiel: Einzelne Zellen halten sich nicht mehr an die Funktionen, die sie in ihrem System in Abstimmung mit den Kolleginnen ausüben sollen, sondern ziehen ihr eigenes Programm durch, sprich sie vermehren sich ungehemmt weiter und führen zu Wucherungen und Auswüchsen, die Entzündungen hervorrufen und schließlich den ganzen Organismus zerstören.

Was das Krebsbeispiel anschaulich macht, ist die Wirkung des Egoismus, der einer der mächtigsten Gegenspieler zur Liebe darstellt. Der Egoismus ist immer aus einem Überlebensprogramm gespeist, das die Rücksichtnahme auf die anderen Mitspieler im System verwehrt. Damit das System überleben kann, muss der Egoismus eingedämmt und der Geist der Verbundenheit gestärkt werden. Das Ego muss überzeugt werden, dass es ihm selbst am meisten dient, wenn es sich der Gemeinschaft unterordnet. Die Überlebensprogramme müssen mit dem Realitätsbezug in Kontakt gebracht werden, um ihre Macht auf das Innenleben zu schmälern und damit die Ängste zu reduzieren.

Am Wohl der Allgemeinheit bedachte Kritik dient dem Aufzeigen der egoistischen Anteile in allen gesellschaftlichen Belangen. Nur was bewusst gemacht wird, kann verändert werden. Die Scham spielt dabei eine Rolle: Egoistisches Verhalten erzeugt Scham, sobald es offenbar wird. Die Scham fordert eine Verhaltenskorrektur im sozialen Sinn.

Die Meta-Ebene des Akzeptierens

Auch wenn wir Kritik an der Wirklichkeit üben, sind wir Teil der Wirklichkeit. Die Einstellung der Akzeptanz umfasst also auch jede Äußerung und jeden Gedanken von Kritik, von uns selbst wie auch von anderen, sie umfasst eben alles, was ist. Die kritische Auseinandersetzung mit der Realität gehört zur Welt des Relativen, während die bedingungslose und bewertungsfreie Akzeptanz aus dem Kontakt mit dem Absoluten kommt. Darin liegt auch der Grund, warum diese absolute Form der Akzeptanz nur ein Bestreben sein kann, das in Momenten des inneren Friedens erfüllt ist, aber nicht von Dauer ist und weicht, sobald sich Angstgefühle einmischen. Wohl aber stellt sie einen Orientierungspunkt dar, zu dem wir uns hinbewegen können, insbesondere dann, wenn wir an den Umständen oder Personen in unserem Leben leiden, wenn wir also mit der Wirklichkeit um uns herum auseinander fallen.

Es ist, wie es ist, und ich tue, was zu tun ist. Mit dieser einfachen Formel können wir das Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Geschehenlassen und Eingreifen, von Akzeptanz und Gestaltung zusammenfassen, das unser Leben in Balance hält. Das Üben von Kritik ist ein wichtiger Teilaspekt des Tuns, der im besten Fall für die Wirklichkeit Wege findet, wie sie immer mehr mit sich selber in Einklang kommen kann.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

Metamodernismus - eine Übersicht

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