Dienstag, 23. Juli 2019

Die Solidaritätsschranke

Unser Steinzeithirn und die Herausforderungen unserer Zeit


Wir tragen alle eine Gehirn-Architektur in uns, die Millionen von Jahren alt ist. Durch diese urtümliche Ausstattung kommt es zu starken Diskrepanzen zwischen unseren emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, und darin liegen viele Wurzeln unserer gegenwärtigen Probleme. 

Unsere Kultur hat sich vor allem durch die kognitiven Kapazitäten rapide weiterentwickelt, vor allem in den letzten zweihundert Jahren, während unser Gehirn insgesamt mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnte. Es hat sich vor allem in seinen emotionalen Zentren und Verschaltungen seit der Frühzeit kaum weiterentwickelt. Die Evolution hat die Menschen mit einer schier unbegrenzten Lernfähigkeit im mentalen Bereich ausgestattet, während die tiefer im Gehirn gelagerten Gefühlsareale noch gemäß den Erfordernissen der Jäger- und Sammlerkulturen in den ersten Jahrhunderttausenden der Menschheitsgeschichte gebaut sind. Wir sind, nach Ingmar Bergmann, noch immer „Analphabeten der Gefühle“. 

Die sehr langsam ablaufenden genetischen Anpassungen können mit dem Tempo der zivilisatorischen Entwicklungen nicht mithalten. Die Evolution passt die Organismen über sehr lange Zeiträume an geänderte Umweltbedingungen an. Die Entstehung des Homo aus seinen Vorfahren hat Millionen Jahre erfordert. Den homo sapiens gibt es seit ungefähr 300 000 Jahren.  Er hat bis zur Erfindung des Single-Daseins im 20. Jahrhundert immer in Gruppen in einer rauen und gefährlichen Umgebung gelebt, und für diese Zwecke haben sich die Gehirnstrukturen entwickelt, die die dafür notwendigen emotionalen Abläufe regeln. 

Deshalb  hat jeder Mensch die Fähigkeit, sich empathisch und solidarisch zu verhalten, allerdings beschränkt auf einen Kreis von vertrauten Menschen, maximal ungefähr 160 Personen. Für alles, was darüber hinaus geht, verfügt er über einen Mechanismus des Misstrauens. Der Fremde könnte ein möglicher Feind sein, dem man sich nur äußerst vorsichtig nähern sollte. In einer Gruppe von 160 Personen sind Gesicht-zu-Gesicht-Kontakte möglich, jeder kennt also das Gesicht von jedem, jeder kann jeden emotional einschätzen. Über diese Gruppengröße hinaus sind unsere primären Vertrauenskapazitäten erschöpft, wie bei einem elektronischen Gerät, das nur für eine begrenzte Anzahl von Kontakten Speicherplatz hat. Jenseits dieser Grenze braucht es viel mehr, um ein Gefühl von Sicherheit entstehen zu lassen.


Die Fremdenangst


Unschwer erkennen wir  diesen Mechanismus in der Haltung vieler Menschen zu Fremden, Randgruppen, Ausländern, Flüchtlingen und Migranten. Wir wissen von vielen Nazigrößen, die als liebevolle Familienmenschen geschildert wurden, während sie KZ-Insassen mit äußerster Grausamkeit quälen konnten. Es gibt Berichte von Wehrmachtssoldaten, die die sehnsuchtsvollen Gedanken an ihre Liebsten zuhause nicht von der brutalen Ermordung von Babys abschreckten. Jeder Diktator hat Menschen, mit denen er freundschaftlich oder liebend verbunden ist, ohne dass er einen Widerspruch zwischen diesen Gefühlen und den unmenschlichsten Taten, zu denen er fähig ist, merken würde.

Die genetisch verankerte Solidaritätsschranke ist die Grundlage der Ausgrenzungen und Gruppenegoismen, die bis heute den gesellschaftlichen Diskurs und die Politik bestimmen. Wer dazugehört, soll sich sicher fühlen können, wer draußen ist, wird nur unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen hereingelassen. Die Republik Österreich z.B. fordert von Neuankömmlingen zehn Jahre rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt im Land, damit die Staatsbürgerschaft, also die sichere Zugehörigkeit verliehen werden KANN. Zehn Jahre lang muss die Person unter Beweis stellen, dass sie nicht gefährlich oder böse ist, dann erst wird eine Einbürgerung überlegt. Wir sind also im 21. Jahrhundert stark vom Misstrauen gelenkt und noch weit von Solidargemeinschaften entfernt, die den eigenen engen Tellerrand überschreiten.

Aus der Wurzel der Fremdenangst speisen sich die Gefühle und Motive der Hassposter, die scheinbar ohne Scham an die Öffentlichkeit gebracht werden, und Hassverbrecher, die oft ohne Reue Unschuldige ermorden. Es manifestiert sich ein grundlegendes Misstrauen gegen Fremde und Fremdes, das als fraglos und selbstverständlich angenommen wird, sodass es für diese Personen unverständlich wird, warum es von jemandem angezweifelt werden könnte. Im Brustton der Überzeugung wird jeder, der die eigene Position in Frage stellt, als Bedrohung gesehen und bekämpft. Die sture Überzeugung, die die Vertreter des Fremdenhasses an den Tag legen, nährt sich aus diesem Zusammenhang. Die rechtspopulistischen  Parteien schlagen aus diesem von irrationalen Ängsten genährten Muster ihr politisches Kapital. 


Weltkrisen und Solidarität


Mit der Entstehung der Weltgesellschaft ist eine globale Form der Solidarität gefragt. Während das Kapital und die Handelsgeschäfte mühelos die Grenzen des Gruppenvertrauens überspringen und weltweite Netze aufziehen, gelingt das in den Bereichen der moralischen Verantwortung viel schwieriger. Die als Folge der Ausbeutungsstrukturen der Industrialisierung entstandene Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts wusste schon, dass sie ihre sozialen Probleme nur durch eine internationale Zusammenarbeit lösen kann. Die nach dem 1. und 2. Weltkrieg gegründeten weltweiten Organisationen folgten diesem Prinzip in Hinblick auf die Vermeidung von Kriegen. Inzwischen gibt es viele Bereiche der weltweiten Kooperation, doch stehen diese Bemühungen noch immer – und in unseren Tagen offensichtlich vermehrt – in einem Spannungsfeld mit den Gruppenegoismen, die die Solidarität immer wieder einschränken wollen. 

Die Prediger der Entsolidarisierung bekommen reichlichen Zulauf, während die Probleme, die nur global gelöst werden können, daneben Ausmaße annehmen, die kaum mehr bewältigbar erscheinen. Wir wissen zwar, dass wir unser Verhalten ändern müssten, doch schafft es dieses Wissen nicht bis zur Motivation, weil das Element der Solidarität und der Empathie fehlt. Diese können wir mit unseren Nächsten empfinden, aber nicht mit 7 oder 8 Milliarden Menschen, die von den Folgen unserer verschwenderischen Handlungen leiden betroffen sind. Unser implantierter Gruppenegoismus sorgt dafür, dass wir nonchalant die weiterreichenden Wirkungen unseres Tuns ausblenden können. Das Hemd ist uns eben näher als der Rock. 

Die in unsere Software eingebaute Solidaritätsschranke verhindert dazu noch, dass wir unsere Verantwortung auf zukünftige Generationen ausdehnen, wie es notwendig wäre, wenn wir bedenken, wie wir in den letzten 200 Jahren die Rohstoffe dieser Erde geplündert haben, die unseren Nachfahren nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie verhindert auch, dass wir unser Mitgefühl in den nichtmenschlichen Bereich des Lebens hinein ausweiten. Nur wenige sind zur Solidarität mit Tieren und Pflanzen bereit, geschweigedenn mit der Mutter Erde als Ganzer oder dem gesamten Universum. 

Je weiter weg, desto abstrakter wird die Verantwortung und desto schwächer die Motivation für entsprechende Handlungen.


Die Bildung der Gefühle


Wir sprechen hier von der untersten und auch ältesten Schicht des menschlichen Gefühlslebens. Sie regelt unsere primären Vertrauens-Misstrauensreaktionen und sie übernehmen das Kommando, sobald wir von Ängsten bestimmt sind. Sie reicht jedoch nicht aus, um sich in einer komplexeren Gesellschaft zu bewegen. Deshalb mussten sich die Menschen bemühen, auch auf dieser Ebene weiter zu lernen. So dient z.B. das Gefühl der Scham auch zur Gefühlserziehung: Bestimmte, sozial erwünschte Gefühle sollen häufiger gezeigt und unerwünschte Affekte unterlassen werden. Wo es zu Fehlern kommt, meldet sich das unangenehme Schamgefühl. Es gibt die ausgeprägte Kultur der Höflichkeit, die einen Kanon von bestimmten emotionalen Verhaltensweisen festlegt. Die Grundlagen für Achtung und Respekt, die für alle Menschen gelten, sind darin fixiert.

Offensichtlich aber fällt das Lernen in diesem Bereich schwerer als im Bereich von Wissen und Fertigkeiten. Wir merken uns viele Wissenselemente und können sie auch wieder auffrischen, wenn wir sie vergessen haben. Im emotionalen Bereich verlieren wir schnell unsere Haltung und fallen wir leicht auf primitivere Ebenen zurück, sobald das subjektive Bedrohungsgefühl steigt. 

Es sind die urtümlichen Überlebensängste, die sehr schnell einrasten, wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten. Seit Urzeiten ausgestattet mit effektiven Kampf-Flucht-Strategien vermeinen wir, damit Probleme lösen und Konflikte schlichten zu können. Tatsächlich jedoch verringern diese Mechanismen unsere sozialen Fähigkeiten, weil sie vom individuellen Überlebenstrieb gesteuert werden. 


Die Kultur von Empathie und Solidarität


Dringend bräuchte es die Ausweitung von solidarischer Verantwortung – nicht mehr und nicht weniger steht die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel. Wie kann Abhilfe geschehen? Seit mehr als hundert Jahren gibt es jetzt die Methoden der Psychotherapie, die sich besonders der emotionalen Nacherziehung und Weiterbildung widmen. Die uralten Stressreaktionen durch die Stärkung der mentalen Kontrolle zu entmachten, ist ein Hauptziel der therapeutischen Arbeit. Sie entwickelt und festigt die Gehirnstrukturen zur Kontrolle der Angstareale. Das Verständnis, dass Gefühlsreaktionen kommen und gehen und dass sie ihren Ursprung immer im eigenen Inneren haben und deshalb der eigenen Verantwortung unterliegen, trägt zur Entwicklung einer humanen Grundhaltung bei. Im Maß, wie das Vertrauen zu sich selbst wächst, weitet sich auch das Vertrauen zu anderen Menschen aus. Das Verständnis für das eigene Leiden öffnet die mitfühlenden Augen für das Leiden aller anderen.

In Achtsamkeitskursen und Meditationen werden mit Hilfe geistiger Konzentration Zustände von Gelassenheit und innerer Ruhe kultiviert. Die Schulung von Nächstenliebe und Mitgefühl ist Teil vieler religiöser und spiritueller Praktiken. 

Menschen also, die ihre Traumatisierungen und reaktiven Gefühlsreaktionen in einer Psychotherapie behandelt haben und durch eine spiritueller Praxis beständig ihre Innenwelt erforschen, kommen häufiger in Zustände von Empathie und Mitgefühl, der Basis einer Solidarität, die sich nicht auf die eigene Gruppe mit den bekannten Personen beschränkt, sondern prinzipiell alle Menschen umfasst. 

Von der Polyvagaltheorie wissen wir, dass diese Zustände mit dem neueren Vagus-System zusammenhängen, das zur Gestaltung von sozialen Gefühlen und Kommunikationsformen entstanden ist. Es kann das Misstrauen, das von den älteren Gehirnzentren aktiviert wird, beruhigen und durch proaktive Gefühle ersetzen. Je mehr wir dieses System stärken, desto leichter fällt es uns, die Motivation für solidarisches Handeln und globale Verantwortung zu entwickeln und zu kultivieren.

In der Kultivierung unserer Innenwelt, die in einer Läuterung von Egoismen und Gruppenbeschränkungen besteht, ist eine zentrale Hoffnung begründet, wie auf dem Planeten ein menschenwürdiges Leben für alle im Einklang mit der Natur gefunden und entwickelt werden kann. Wir alle sind dazu aufgerufen.

Zum Weiterlesen:
Die Dritte Aufklärung

Hass im Internetzeitalter
Reich und arm, Demut und Würde


Hinweis:
Achtsamkeitskurs im Herbst 2019
8 Abende zwischen dem 16. September und 11. November 2019
Montags von 19:00 - 20:30, Cervantesgasse 5/5, 1140 Wien

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