Die Scham ist ein soziales Gefühl, das darauf aufmerksam macht, dass die Zugehörigkeit zur Bezugsgruppe gefährdet ist. Es betrifft die eigene Person als ganze, die moralisch als fehler- und mangelhaft erscheint und deshalb ausgeschlossen werden könnte. Es braucht die explizite Akzeptanz durch die anderen Gruppenmitglieder, damit sich die Scham auflösen kann.
Welche Rolle kann dann aber dann die Selbstakzeptanz bei der
Schamheilung spielen?
Wenn die Bedrohung der Zugehörigkeit zur eigenen Familie immer
wieder aufgetaucht ist, entwickelt sich eine dauerhafte Schambelastung.
Erfolgten in der Kindheit immer wieder Beschämungen und Demütigungen durch die
Eltern und Erziehungspersonen, so wird die Scham zu einem angelernten
Persönlichkeitszug. Sie setzt sich gewissermaßen in allen Zellen fest. Sie hinterlässt
ihre Spuren im Gesicht und in der Körperhaltung. Und sie führt zu Stressbelastungen,
neurotischen Symptomen und seelischen Erkrankungen.
Die krankhafte Scham, die viele Erwachsene mit sich
herumtragen, hat nichts mehr mit einer akuten Bedrohung der Zugehörigkeit zu
tun. Sie beruht auf frühen Erfahrungen, die zu übertrieben schambezogenen Deutungen
von aktuellen Situationen führen. Viel zu vieles, was im eigenen Leben
geschieht, wird als schamvoll oder beschämend interpretiert. Die Alternative
dazu stellt das Ausweichen in die Unverschämtheit dar: Statt mich selber zu
schämen, beschäme ich lieber andere.
In solchen Erfahrungen fehlt die Grundakzeptanz der eigenen
Person. Sie wird als abnormal und ungeeignet, als unfähig und gestört erlebt. Sie
sollte besser nicht sein, weil sie nicht besser sein kann. Die
Selbstablehnung kann im Extremfall bis zu Gedanken oder Aktionen der
Selbstauslöschung führen.
Selbstakzeptanz üben
Die Übung der Selbstakzeptanz ist deshalb ein wichtiges und
wirksames Gegenmittel zur Heilung von krankmachenden Schambelastungen. Sie
beruht auf dem Verständnis, dass diese Form der Scham eine erlernte
Überlebensstrategie zur Anpassung an ein gestörtes Familiensystem darstellt.
Gestört ist nicht die eigene Person, sondern der soziale Zusammenhang, in dem
das eigene Aufwachsen erfolgt ist. Ohne immer wieder in die Schamposition zu
gehen, war es nicht möglich, Zuwendung und Liebe zu bekommen. Damit wird die
Schamhaltung (oder die Schamvermeidungshaltung) zur Lebenshaltung, die in
Situationen stärkerer Belastung im späteren Leben immer wieder aktiviert wird.
Die Selbstannahme dreht den Lernprozess um, weil die
ursprünglich erworbene Überlebensstrategie nicht mehr gültig ist und nicht mehr
gebraucht wird. Alles, was an Ablehnung und Nichtakzeptanz durch die
Bezugspersonen geschehen ist, bekommt jetzt ein Gegengewicht durch bewusste
Akte der Selbstannahme und Selbstakzeptanz. Die Selbstbeziehung wird also umgepolt
und damit auf eine gesunde Grundlage gestellt, die sich von den dysfunktionalen
und defizitären Familienstrukturen der eigenen Kindheit distanziert hat.
Jede beschämende und demütigende Abwertung, die in der frühen
Entwicklung erlebt werden musste, hat die Akzeptanz des eigenen Selbst unterminiert.
Ganz arge Demütigungen können sogar das Selbst zerbrechen oder spalten. In der Selbstannahme
wird das Selbst wieder restauriert und in sein Recht gesetzt. Wir nehmen uns in
unserer Person auf der tiefsten Ebene bedingungslos an und löschen damit die
Spuren, die die Verletzungen unserer Persönlichkeit hinterlassen haben.
Wie üben wir die Selbstakzeptanz?
Wichtig ist es zu erkennen, wann und wo wir uns selbst
ablehnen und nicht zu uns selbst stehen. Wir müssen (und sollten) nicht alles
gutheißen, was wir tun oder unterlassen. Wir brauchen ein gutes Maß an
Selbstkritik, damit wir aus unseren Fehlern lernen können. Was wir aber niemals
zulassen sollten, ist die Infragestellung unseres Eigenwertes und unserer Selbstachtung.
Angriffe auf uns als Person gehören aufgezeigt und zurückgewiesen, ob sie von
anderen oder von uns selbst kommen. Niemand hat das Recht, unsere Person und
unsere Existenz zu kritisieren, auch wir selbst nicht. Kritik darf sich nur auf
Handlungen oder Gedanken, die wir äußern, beziehen, aber nicht auf uns als
Menschen. Denn unsere Würde bleibt bestehen und intakt, was immer wir in der
Welt anstellen.
Die Selbstakzeptanz, die wir nicht mit einer kritiklosen
Akzeptanz all unseres Tuns verwechseln dürfen, ist der direkte Weg zu unserer
persönlichen Würde. Ihr Schutz sollte uns ein wichtiges Anliegen sein. Oft sind
es wir selber, die auf diese Würde losgehen, als würden wir sie nicht
verdienen.
Selbstabwertung und Selbstkritik
Es ist nicht schwer, Selbstabwertungen, die sich auf uns als
Person richten, und Selbstkritik, die sich auf das bezieht, was wir machen, zu
unterscheiden. Wir brauchen nur darauf zu achten, was die Konsequenz der Infragestellung
ist. Im einen Fall, wenn sie auf unsere Person als ganze gerichtet ist, sind
wir macht- und hilflos: Wir können kein anderer Mensch werden, wir sind in
unserem Sein und Wesen so, wie wir sind. Wir können nicht zu einer anderen Person
werden. Im anderen Fall wissen wir, was wir ändern sollten und können uns darum
kümmern.
Wir praktizieren eine Essensgewohnheit, die uns nicht
zuträglich ist, und kritisieren uns selbst dafür. Mit der Kritik wollen wir uns
dazu motivieren, gesündere Lebensmittel zu uns zu nehmen. Wenn wir uns selber
als schlechter, unfähiger oder gestörter Mensch bezeichnen, können wir nichts
dagegen tun. Wir können weder unseren Charakter, unseren Persönlichkeitskern
noch unsere Geschichte gegen ein anderes Modell austauschen.
Diesem unserem Wesen dient die Selbstakzeptanz. Indem wir
die intime Beziehung zu uns selbst und unserem Wesen stärken, entziehen wir der
Scham, die uns noch aus beschämenden Kindheitserfahrungen in den Knochen steckt,
ihre zerstörerische Macht. Mit jedem Schritt der Selbstannahme geben wir uns
selbst die Bestätigung, die wir in unserem Aufwachsen gebraucht hätten. Wir
holen uns die Achtung für uns selbst zurück und nehmen unsere Würde, unser Geburtsrecht
auf das Menschsein ganz zu uns. Wir verankern tief in uns, dass wir wertvolle
und schätzenswerte Menschen sind.
Zum Weiterlesen:
Das Ja zum Selbst
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)
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