Mittwoch, 28. Juli 2021

Selbstakzeptanz und Schamheilung

Die Scham ist ein soziales Gefühl, das darauf aufmerksam macht, dass die Zugehörigkeit zur Bezugsgruppe gefährdet ist. Es betrifft die eigene Person als ganze, die moralisch als fehler- und mangelhaft erscheint und deshalb ausgeschlossen werden könnte. Es braucht die explizite Akzeptanz durch die anderen Gruppenmitglieder, damit sich die Scham auflösen kann.

Welche Rolle kann dann aber dann die Selbstakzeptanz bei der Schamheilung spielen?

Wenn die Bedrohung der Zugehörigkeit zur eigenen Familie immer wieder aufgetaucht ist, entwickelt sich eine dauerhafte Schambelastung. Erfolgten in der Kindheit immer wieder Beschämungen und Demütigungen durch die Eltern und Erziehungspersonen, so wird die Scham zu einem angelernten Persönlichkeitszug. Sie setzt sich gewissermaßen in allen Zellen fest. Sie hinterlässt ihre Spuren im Gesicht und in der Körperhaltung. Und sie führt zu Stressbelastungen, neurotischen Symptomen und seelischen Erkrankungen.

Die krankhafte Scham, die viele Erwachsene mit sich herumtragen, hat nichts mehr mit einer akuten Bedrohung der Zugehörigkeit zu tun. Sie beruht auf frühen Erfahrungen, die zu übertrieben schambezogenen Deutungen von aktuellen Situationen führen. Viel zu vieles, was im eigenen Leben geschieht, wird als schamvoll oder beschämend interpretiert. Die Alternative dazu stellt das Ausweichen in die Unverschämtheit dar: Statt mich selber zu schämen, beschäme ich lieber andere.

In solchen Erfahrungen fehlt die Grundakzeptanz der eigenen Person. Sie wird als abnormal und ungeeignet, als unfähig und gestört erlebt. Sie sollte besser nicht sein, weil sie nicht besser sein kann. Die Selbstablehnung kann im Extremfall bis zu Gedanken oder Aktionen der Selbstauslöschung führen.

Selbstakzeptanz üben

Die Übung der Selbstakzeptanz ist deshalb ein wichtiges und wirksames Gegenmittel zur Heilung von krankmachenden Schambelastungen. Sie beruht auf dem Verständnis, dass diese Form der Scham eine erlernte Überlebensstrategie zur Anpassung an ein gestörtes Familiensystem darstellt. Gestört ist nicht die eigene Person, sondern der soziale Zusammenhang, in dem das eigene Aufwachsen erfolgt ist. Ohne immer wieder in die Schamposition zu gehen, war es nicht möglich, Zuwendung und Liebe zu bekommen. Damit wird die Schamhaltung (oder die Schamvermeidungshaltung) zur Lebenshaltung, die in Situationen stärkerer Belastung im späteren Leben immer wieder aktiviert wird.

Die Selbstannahme dreht den Lernprozess um, weil die ursprünglich erworbene Überlebensstrategie nicht mehr gültig ist und nicht mehr gebraucht wird. Alles, was an Ablehnung und Nichtakzeptanz durch die Bezugspersonen geschehen ist, bekommt jetzt ein Gegengewicht durch bewusste Akte der Selbstannahme und Selbstakzeptanz. Die Selbstbeziehung wird also umgepolt und damit auf eine gesunde Grundlage gestellt, die sich von den dysfunktionalen und defizitären Familienstrukturen der eigenen Kindheit distanziert hat.

Jede beschämende und demütigende Abwertung, die in der frühen Entwicklung erlebt werden musste, hat die Akzeptanz des eigenen Selbst unterminiert. Ganz arge Demütigungen können sogar das Selbst zerbrechen oder spalten. In der Selbstannahme wird das Selbst wieder restauriert und in sein Recht gesetzt. Wir nehmen uns in unserer Person auf der tiefsten Ebene bedingungslos an und löschen damit die Spuren, die die Verletzungen unserer Persönlichkeit hinterlassen haben.

Wie üben wir die Selbstakzeptanz?

Wichtig ist es zu erkennen, wann und wo wir uns selbst ablehnen und nicht zu uns selbst stehen. Wir müssen (und sollten) nicht alles gutheißen, was wir tun oder unterlassen. Wir brauchen ein gutes Maß an Selbstkritik, damit wir aus unseren Fehlern lernen können. Was wir aber niemals zulassen sollten, ist die Infragestellung unseres Eigenwertes und unserer Selbstachtung. Angriffe auf uns als Person gehören aufgezeigt und zurückgewiesen, ob sie von anderen oder von uns selbst kommen. Niemand hat das Recht, unsere Person und unsere Existenz zu kritisieren, auch wir selbst nicht. Kritik darf sich nur auf Handlungen oder Gedanken, die wir äußern, beziehen, aber nicht auf uns als Menschen. Denn unsere Würde bleibt bestehen und intakt, was immer wir in der Welt anstellen.

Die Selbstakzeptanz, die wir nicht mit einer kritiklosen Akzeptanz all unseres Tuns verwechseln dürfen, ist der direkte Weg zu unserer persönlichen Würde. Ihr Schutz sollte uns ein wichtiges Anliegen sein. Oft sind es wir selber, die auf diese Würde losgehen, als würden wir sie nicht verdienen.

Selbstabwertung und Selbstkritik

Es ist nicht schwer, Selbstabwertungen, die sich auf uns als Person richten, und Selbstkritik, die sich auf das bezieht, was wir machen, zu unterscheiden. Wir brauchen nur darauf zu achten, was die Konsequenz der Infragestellung ist. Im einen Fall, wenn sie auf unsere Person als ganze gerichtet ist, sind wir macht- und hilflos: Wir können kein anderer Mensch werden, wir sind in unserem Sein und Wesen so, wie wir sind. Wir können nicht zu einer anderen Person werden. Im anderen Fall wissen wir, was wir ändern sollten und können uns darum kümmern.

Wir praktizieren eine Essensgewohnheit, die uns nicht zuträglich ist, und kritisieren uns selbst dafür. Mit der Kritik wollen wir uns dazu motivieren, gesündere Lebensmittel zu uns zu nehmen. Wenn wir uns selber als schlechter, unfähiger oder gestörter Mensch bezeichnen, können wir nichts dagegen tun. Wir können weder unseren Charakter, unseren Persönlichkeitskern noch unsere Geschichte gegen ein anderes Modell austauschen.

Diesem unserem Wesen dient die Selbstakzeptanz. Indem wir die intime Beziehung zu uns selbst und unserem Wesen stärken, entziehen wir der Scham, die uns noch aus beschämenden Kindheitserfahrungen in den Knochen steckt, ihre zerstörerische Macht. Mit jedem Schritt der Selbstannahme geben wir uns selbst die Bestätigung, die wir in unserem Aufwachsen gebraucht hätten. Wir holen uns die Achtung für uns selbst zurück und nehmen unsere Würde, unser Geburtsrecht auf das Menschsein ganz zu uns. Wir verankern tief in uns, dass wir wertvolle und schätzenswerte Menschen sind.

Zum Weiterlesen:
Das Ja zum Selbst
Sag Ja zum Moment

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 7)

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