Donnerstag, 22. Juli 2021

Akzeptieren, was ist: Teil 7: Leben und Tod

Das Leiden an der Unvollkommenheit und Endlichkeit

Probleme mit dem Akzeptieren der Wirklichkeit sind letztlich Schwierigkeiten, die prinzipielle Endlichkeit und Relativität anzunehmen, die jedem Menschenleben zugehört und innewohnt. In vielen Details oder Kleinigkeiten des Lebens, mit denen wir schlecht zurecht kommen und die unsere Bereitschaft zum Akzeptieren herausfordern, sind die großen Grenzthemen des Menschen verborgen. Wir suchen in vielen Bereichen unseres Lebens nach der Vollkommenheit – nach dem perfekten Job, der perfekten Wohnung, der perfekten Partnerin –, um nicht an die eigene Unvollkommenheit erinnert zu werden, die sich letztendlich in der Sterblichkeit ausdrückt. Wir laufen der Illusion nach, das ewige Leben zu erwerben, wenn wir etwas Vollkommenes schaffen oder erschaffen, wenn wir die perfekte Liebe finden oder den bestmöglichen Wohnsitz. Wir glauben, dass wir an all den kleinen Ecken und Kanten schleifen müssen, um die schönste aller möglichen Formen zu gestalten und damit der Relativität zu entkommen. Es darf nichts Unvollkommenes, Vorläufiges, Beschränktes sein, weil es uns an unsere eigene Vorläufigkeit und Beschränktheit erinnert. Denn diese Erinnerung bereitet uns Angst und Scham. Wir haben eine in allen Zellen unseres Körpers eingespeicherte Angst um unsere Existenz, und das Gefühl, nur ganz wenige Bedingungen, die unsere Existenz absichern, unter Kontrolle zu haben, bereitet uns Scham.

Also streben wir danach, alles auszuradieren oder zu übertünchen, was uns auf die übermächtige Endlichkeit aufmerksam macht, der gegenüber wir schlussendlich hilflos und ohnmächtig sind. Jede Kleinigkeit, über die wir stolpern, zeigt uns auf, dass wir abhängig sind von Sicherheiten, die wir selber nicht herstellen können. Jedes Detail, das uns stört, erinnert uns an unsere eigene Kleinheit angesichts der Größe und Übermacht des Lebens und des Sterbens, gegen das alle unsere Bestrebungen, Macht und Kontrolle zu erlangen, immer wieder an unüberwindliche Grenzen stoßen.

Die Akzeptanz der Endlichkeit ist der Schlüssel zum inneren Frieden, aber ein komplexer und schwerwiegender Schlüssel. Denn alle offenen und versteckten, alle riesigen und winzigen Störenfriede in unserer Seelenlandschaft wollen erkannt, gesehen und akzeptiert werden. Es ist ein beständiger Auftrag für unsere Bewusstheit, Licht auf die vielen Baustellen unserer Innenwelt zu werfen und dort Verständnis und Lösung zu bewirken. Gelingt uns die Akzeptanz, so breitet sich schrittweise der Friede aus, dort, wo vorher die innere oder äußere Ablehnung und der gegen sich selbst und andere gerichtete Widerstand die Vorherrschaft hatten.

Selbst wenn wir im Akzeptieren scheitern, weil wir uns in ein Problem oder ein Gefühlsmuster verbeißen, brauchen wir die Akzeptanz, die uns hilft, uns wieder aus den selbstgeschaffenen Fesseln zu befreien. „Auch diese Erfahrung hat mich auf meine Endlichkeit und Begrenztheit gestoßen.“ Diese Erkenntnis gilt es immer wieder in den Moment der Erfahrung zu rufen, wenn wir den Kontakt zur Realität verlieren und in unseren Mustern verschwinden.

Philosophieren heißt bekanntlich nach Sokrates Sterbenlernen. Wir lernen das Sterben, indem wir unsere Sterblichkeit akzeptieren und damit all unsere illusionären Bestrebungen, Unsterblichkeit zu erlangen, als das sehen, was sie sind: Produktionen unseres Verstandes. Angesichts des unausweichlichen Todes, dem wir uns mit jedem gelebten Moment unseres Lebens annähern, sind all die Dinge, die uns Kopfzerbrechen bereiten, auf dem Magen liegen und das Herz schwer machen, Kleinzeugs. Aber mit dem großen Tod ins Reine kommen wir nur, indem wir allen, auch noch so kleinen Aspekten unseres Lebens mit mitfühlender und annehmender Haltung begegnen.

Leben und Tod

Das Leben als „Sein zum Tode“ (Martin Heidegger) zu verstehen, mag einem etwas einseitig fixiert und eingeschränkt vorkommen. Das Leben ist vor allem Leben, das von der Fülle eines Moments zur Fülle des nächsten Moments weitergeht. Doch wissen wir im Erinnern an die Sterblichkeit um die unentrinnbare Endlichkeit dieses unseres Lebens. Wäre es uns gegeben, ausschließlich im Moment zu sein, wie es viele spirituelle Lehrer empfehlen, wäre die Endlichkeit kein Problem. Wir würden in der Unendlichkeit des Moments schwelgen, ohne dass es da einen Tod gibt, der ja nur im Herausgehen aus der Erfahrung des Moments am Horizont des Denkens an die Zukunft erscheint. Wir halten es in gewisser Weise mit Epikur, der meinte: „Wenn wir sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind wir nicht.“ Wenn wir im Moment sind, ist der Tod nicht da – wir sind ja voll mit dem Leben eins. Dann brauchen wir auch keine Überlegung darüber, was sein könnte, wenn wir nicht mehr da sind.

Natürlich gibt es die Momente in jedem Leben, in denen der Tod ins Leben tritt, weil jemand anderer stirbt. Neben all den Gefühlen, die ausgelöst werden, tritt auch der Hinweis auf das eigene Ende, der das Leben in ein anderes Licht rückt. Und dann können wir auch nach dem Prozess der Verarbeitung wieder in die Akzeptanz fallen und den aktuellen Moment genießen, zu dem kein Tod gehört. Das Leben geht weiter, auch wenn eine Person ihren Abschied genommen hat.

Eine andere Todesbegegnung liegt bei einer Nahtoderfahrung vor. Hier streift gewissermaßen die Seele am Tod an, ohne ihm ganz zu verfallen. Solche Erfahrungen können lebensverändernd sein, indem sie gerade zum bedingungslosen Akzeptieren des momentanen Seins beitragen.

Das eigene Ende

Demgegenüber hat es eine ganz andere Tragweite und Ernsthaftigkeit, wenn es um das eigene Ende geht.  Die Überlegungen Epikurs passen bis zu dem Moment, in dem der Tod an die eigene Tür klopft und zum Mitkommen herausfordert, also bis zum eigenen Sterbeprozess. Da hilft es dann nicht weiter, den Tod zu verleugnen. Er wird zum tonangebenden Beherrscher der Realität, die es zu akzeptieren gilt. Vielleicht kämpfen wir mit ihm, vielleicht wollen wir ihn webschieben und ignorieren, vielleicht erschrecken wir vor ihm, vielleicht verstecken wir uns. Aber er ist da und bleibt da, bis er seinen Auftrag erfüllt hat: Sich ihm hinzugeben, damit der Abschied aus dem Leben mit Gleichmut und Akzeptanz vollzogen werden kann.

Wenn wir allerdings im Sterbeprozess starke Schmerzen haben und unser Körper massiv leidet, sind wir so mit uns selber beschäftigt, dass wir dem Tod nicht mit Bewusstheit und Akzeptanz begegnen können. Andererseits wünschen wir uns in dieser Situation nichts sehnlicher als eine baldige Erlösung von den Qualen und laden auf diese Weise den Tod ein.

In unserem Ende, wie immer es auch sich gestalten wird, liegt die größte Aufgabe und Prüfung für unsere Bereitschaft zu akzeptieren, die immer auch eine Bereitschaft zur Hingabe enthält. Wir bereiten uns auf diese letzte Aufgabe am besten vor, indem wir uns immer wieder bewusst machen, dass die Wirklichkeit ist, wie sie ist, und dass wir vom Akzeptieren dessen, was ist, sofort ins Vertrauen fallen können, in die Hingabe an den jeweils aktuellen Moment.

In jeder Erkenntnis und Annahme unserer Endlichkeit und Begrenztheit, die sich in Fehlern und Schwächen zeigt, schlummert die Gelegenheit für ein Loslassen, mit dem wir für das letzte Abschiednehmen üben. Das Loslassen von Schwierigkeiten geschieht in der Akzeptanz des Moments, die immer die Selbstakzeptanz umfasst. Wir kommen in Frieden mit unserer Endlichkeit und freunden uns auf diese Weise mit dem Sterben und mit der Begegnung mit dem Tod an.

Die Übung der Akzeptanz umfasst das Lösen von jeder Form der Kontrolle. Sie beinhaltet das Verabschieden der Eigenmacht. Auch in dieser Hinsicht bereitet sie auf das Sterben vor, denn über den Tod haben wir keinerlei Macht und Einfluss. Wir können sein Kommen hinauszögern, aber stets bestimmt er im Letzten den Zeitpunkt seines unerbittlichen Anklopfens.

Zum Weiterlesen:

Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)

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