Das Leiden an der Unvollkommenheit und Endlichkeit
Probleme mit dem Akzeptieren der Wirklichkeit sind letztlich
Schwierigkeiten, die prinzipielle Endlichkeit und Relativität anzunehmen, die
jedem Menschenleben zugehört und innewohnt. In vielen Details oder
Kleinigkeiten des Lebens, mit denen wir schlecht zurecht kommen und die unsere
Bereitschaft zum Akzeptieren herausfordern, sind die großen Grenzthemen des
Menschen verborgen. Wir suchen in vielen Bereichen unseres Lebens nach der
Vollkommenheit – nach dem perfekten Job, der perfekten Wohnung, der perfekten
Partnerin –, um nicht an die eigene Unvollkommenheit erinnert zu werden, die
sich letztendlich in der Sterblichkeit ausdrückt. Wir laufen der Illusion nach,
das ewige Leben zu erwerben, wenn wir etwas Vollkommenes schaffen oder
erschaffen, wenn wir die perfekte Liebe finden oder den bestmöglichen Wohnsitz.
Wir glauben, dass wir an all den kleinen Ecken und Kanten schleifen müssen, um
die schönste aller möglichen Formen zu gestalten und damit der Relativität zu
entkommen. Es darf nichts Unvollkommenes, Vorläufiges, Beschränktes sein, weil
es uns an unsere eigene Vorläufigkeit und Beschränktheit erinnert. Denn diese
Erinnerung bereitet uns Angst und Scham. Wir haben eine in allen Zellen unseres
Körpers eingespeicherte Angst um unsere Existenz, und das Gefühl, nur ganz
wenige Bedingungen, die unsere Existenz absichern, unter Kontrolle zu haben,
bereitet uns Scham.
Also streben wir danach, alles auszuradieren oder zu
übertünchen, was uns auf die übermächtige Endlichkeit aufmerksam macht, der
gegenüber wir schlussendlich hilflos und ohnmächtig sind. Jede Kleinigkeit,
über die wir stolpern, zeigt uns auf, dass wir abhängig sind von Sicherheiten,
die wir selber nicht herstellen können. Jedes Detail, das uns stört, erinnert
uns an unsere eigene Kleinheit angesichts der Größe und Übermacht des Lebens
und des Sterbens, gegen das alle unsere Bestrebungen, Macht und Kontrolle zu
erlangen, immer wieder an unüberwindliche Grenzen stoßen.
Die Akzeptanz der Endlichkeit ist der Schlüssel zum inneren
Frieden, aber ein komplexer und schwerwiegender Schlüssel. Denn alle offenen
und versteckten, alle riesigen und winzigen Störenfriede in unserer
Seelenlandschaft wollen erkannt, gesehen und akzeptiert werden. Es ist ein
beständiger Auftrag für unsere Bewusstheit, Licht auf die vielen Baustellen
unserer Innenwelt zu werfen und dort Verständnis und Lösung zu bewirken. Gelingt
uns die Akzeptanz, so breitet sich schrittweise der Friede aus, dort, wo vorher
die innere oder äußere Ablehnung und der gegen sich selbst und andere
gerichtete Widerstand die Vorherrschaft hatten.
Selbst wenn wir im Akzeptieren scheitern, weil wir uns in
ein Problem oder ein Gefühlsmuster verbeißen, brauchen wir die Akzeptanz, die
uns hilft, uns wieder aus den selbstgeschaffenen Fesseln zu befreien. „Auch
diese Erfahrung hat mich auf meine Endlichkeit und Begrenztheit gestoßen.“ Diese
Erkenntnis gilt es immer wieder in den Moment der Erfahrung zu rufen, wenn wir
den Kontakt zur Realität verlieren und in unseren Mustern verschwinden.
Philosophieren heißt bekanntlich nach Sokrates Sterbenlernen. Wir lernen
das Sterben, indem wir unsere Sterblichkeit akzeptieren und damit all unsere illusionären
Bestrebungen, Unsterblichkeit zu erlangen, als das sehen, was sie sind:
Produktionen unseres Verstandes. Angesichts des unausweichlichen Todes, dem wir
uns mit jedem gelebten Moment unseres Lebens annähern, sind all die Dinge, die
uns Kopfzerbrechen bereiten, auf dem Magen liegen und das Herz schwer machen, Kleinzeugs.
Aber mit dem großen Tod ins Reine kommen wir nur, indem wir allen, auch noch so
kleinen Aspekten unseres Lebens mit mitfühlender und annehmender Haltung begegnen.
Leben und Tod
Das Leben als „Sein zum Tode“ (Martin Heidegger) zu
verstehen, mag einem etwas einseitig fixiert und eingeschränkt vorkommen. Das
Leben ist vor allem Leben, das von der Fülle eines Moments zur Fülle des
nächsten Moments weitergeht. Doch wissen wir im Erinnern an die Sterblichkeit um
die unentrinnbare Endlichkeit dieses unseres Lebens. Wäre es uns gegeben, ausschließlich
im Moment zu sein, wie es viele spirituelle Lehrer empfehlen, wäre die
Endlichkeit kein Problem. Wir würden in der Unendlichkeit des Moments schwelgen,
ohne dass es da einen Tod gibt, der ja nur im Herausgehen aus der Erfahrung des
Moments am Horizont des Denkens an die Zukunft erscheint. Wir halten es in
gewisser Weise mit Epikur, der meinte: „Wenn wir sind, ist der Tod nicht da;
wenn der Tod da ist, sind wir nicht.“ Wenn wir im Moment sind, ist der Tod nicht
da – wir sind ja voll mit dem Leben eins. Dann brauchen wir auch keine
Überlegung darüber, was sein könnte, wenn wir nicht mehr da sind.
Natürlich gibt es die Momente in jedem Leben, in denen der
Tod ins Leben tritt, weil jemand anderer stirbt. Neben all den Gefühlen, die
ausgelöst werden, tritt auch der Hinweis auf das eigene Ende, der das Leben in
ein anderes Licht rückt. Und dann können wir auch nach dem Prozess der
Verarbeitung wieder in die Akzeptanz fallen und den aktuellen Moment genießen,
zu dem kein Tod gehört. Das Leben geht weiter, auch wenn eine Person ihren Abschied
genommen hat.
Eine andere Todesbegegnung liegt bei einer Nahtoderfahrung
vor. Hier streift gewissermaßen die Seele am Tod an, ohne ihm ganz zu
verfallen. Solche Erfahrungen können lebensverändernd sein, indem sie gerade
zum bedingungslosen Akzeptieren des momentanen Seins beitragen.
Das eigene Ende
Demgegenüber hat es eine ganz andere Tragweite und
Ernsthaftigkeit, wenn es um das eigene Ende geht. Die Überlegungen Epikurs passen bis zu dem
Moment, in dem der Tod an die eigene Tür klopft und zum Mitkommen
herausfordert, also bis zum eigenen Sterbeprozess. Da hilft es dann nicht
weiter, den Tod zu verleugnen. Er wird zum tonangebenden Beherrscher der
Realität, die es zu akzeptieren gilt. Vielleicht kämpfen wir mit ihm,
vielleicht wollen wir ihn webschieben und ignorieren, vielleicht erschrecken
wir vor ihm, vielleicht verstecken wir uns. Aber er ist da und bleibt da, bis
er seinen Auftrag erfüllt hat: Sich ihm hinzugeben, damit der Abschied aus dem
Leben mit Gleichmut und Akzeptanz vollzogen werden kann.
Wenn wir allerdings im Sterbeprozess starke Schmerzen haben
und unser Körper massiv leidet, sind wir so mit uns selber beschäftigt, dass
wir dem Tod nicht mit Bewusstheit und Akzeptanz begegnen können. Andererseits wünschen
wir uns in dieser Situation nichts sehnlicher als eine baldige Erlösung von den
Qualen und laden auf diese Weise den Tod ein.
In unserem Ende, wie immer es auch sich gestalten wird,
liegt die größte Aufgabe und Prüfung für unsere Bereitschaft zu akzeptieren,
die immer auch eine Bereitschaft zur Hingabe enthält. Wir bereiten uns auf
diese letzte Aufgabe am besten vor, indem wir uns immer wieder bewusst machen,
dass die Wirklichkeit ist, wie sie ist, und dass wir vom Akzeptieren dessen,
was ist, sofort ins Vertrauen fallen können, in die Hingabe an den jeweils
aktuellen Moment.
In jeder Erkenntnis und Annahme unserer Endlichkeit und
Begrenztheit, die sich in Fehlern und Schwächen zeigt, schlummert die
Gelegenheit für ein Loslassen, mit dem wir für das letzte Abschiednehmen üben. Das
Loslassen von Schwierigkeiten geschieht in der Akzeptanz des Moments, die immer
die Selbstakzeptanz umfasst. Wir kommen in Frieden mit unserer Endlichkeit und
freunden uns auf diese Weise mit dem Sterben und mit der Begegnung mit dem Tod
an.
Die Übung der Akzeptanz umfasst das Lösen von jeder Form der
Kontrolle. Sie beinhaltet das Verabschieden der Eigenmacht. Auch in dieser
Hinsicht bereitet sie auf das Sterben vor, denn über den Tod haben wir keinerlei
Macht und Einfluss. Wir können sein Kommen hinauszögern, aber stets bestimmt er
im Letzten den Zeitpunkt seines unerbittlichen Anklopfens.
Zum Weiterlesen:
Akzeptieren, was ist (Teil 1)
Akzeptieren, was ist (Teil 2)
Akzeptieren, was ist (Teil 3)
Akzeptieren, was ist (Teil 4)
Akzeptieren, was ist (Teil 5)
Akzeptieren, was ist (Teil 6)
Akzeptieren, was ist (Teil 8)
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