Sonntag, 31. August 2014

Gleichheit und soziale Sicherheit

Soziale Gleichheit hat unterschiedliche Bedeutungen, die aus verschiedenen Bewusstseinsstufen stammen. Wenn wir uns die entsprechenden Zuordnungen klarer machen, können wir uns besser mit dem Gleichheitsbegriff in der Gesellschaft bewegen und uns innerhalb unserer sozialen Beziehungen orientieren. Außerdem können wir uns darüber klarer werden, welche Form von Gleichheit wir wollen und für welche wir in der gesellschaftspolitischen Diskussion eintreten. Hier wird der Gleichheitsbegriff besonders in Verbindung mit der sozialen Sicherheit betrachtet. Denn ursprünglich liegt die Begründung für die Sicherheit jedes Mitglieds der Gesellschaft in der Gleichheit der Zugehörigkeit, wie im Folgenden erläutert wird.

Die Grundlage unseres Gleichheitsempfindens wurde in den frühesten Formen der Sozialerfahrung in Stammesgesellschaften gebildet. Die tribale Gleichheit besteht darin, dass jedes Mitglied des Stammes seinen Platz hat und selbstverständlich dazugehört. Es gibt keine Unterschiede in der Zugehörigkeit, auch wenn in anderen Hinsichten unterschieden wird - zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen usw. Jedes Stammesmitglied bringt seine Kräfte und Fähigkeiten zum Wohle aller mit ein und bekommt seinen gerechten Anteil an den Ressourcen. Im Stamm wird auch auf die Schwächen jedes Einzelnen geschaut, sodass, wenn notwendig, die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Jedes Stammesmitglied weiß, dass das Ganze und somit jeder Einzelne nur durch Zusammenhalt Bestand haben kann.

Gleichheit und Bindungssicherheit


Wir tragen dieses Empfinden des Zusammenhalts und der selbstverständlichen Zugehörigkeit und Gleichheit in uns, und es wird in jeder Familie wieder neu begründet. Dort hat sich das Sozialgefühl der Stammesgesellschaften noch erhalten. Jedes Baby, das in eine Familie hinein geboren wird, trägt dieses Gefühl als Erwartung an sichere und verlässliche Bindungen und an einen selbstverständlichen Platz in sich und bringt es seinen Bezugspersonen entgegen, sobald es das Licht der Welt erblickt.

Es trifft auf Menschen, die gelernt haben, sich in der komplexen Sozialwelt der Moderne zu bewegen, und deren ursprünglicher Gleichheits- und Gerechtigkeitsbegriff viele gewollte und ungewollte Modifikationen erfahren hat. Sie haben im Lauf ihrer Lebensgeschichte ihre emanzipativen Kräfte (zweite Bewusstseinsstufe) nutzbar gemacht und zugleich gemäß den Bedürfnissen von hierarchischen Organisationen (dritte Bewusstseinsstufe) eingedämmt. Sie haben erfahren, wie soziale Sicherheit an verschiedene Bedingungen geknüpft ist und immer wieder erworben werden muss.

Die Folge ist, dass es in unserer Gesellschaft keine selbstverständliche Bindungssicherheit mehr gibt. Was die tribale Ebene anbetrifft: Es gibt nur mehr statistisch schwächer werdende Wahrscheinlichkeiten, dass die Eltern als Paar zusammenbleiben, und schwindende Glücksfälle, in denen die Eltern genügend qualitative Zuwendung und Zeit für ihre Kinder zur Verfügung haben. Im Familiengefüge der (post)industriellen Welt sind die sozialen Sicherheiten, die Kinder brauchen, durch eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Stressfaktoren zunehmend geschwächt. Beziehungen zwischen Familienvätern und -müttern sowie zwischen Eltern und Kindern sind nicht mehr von einer selbstverständlichen Sicherheit geprägt, sondern vielfachen Belastungen und Bedrohungen ausgesetzt.

Gleichheit in unterschiedlichen Gesellschaftsformen


Auf der makrogesellschaftlichen Ebene bildet sich diese Bindungsunsicherheit in unterschiedlichen politischen Ordnungsvorstellungen ab. Zugehörigkeit als Voraussetzung von Gleichheit wird je nach den zentralen Ideen der einzelnen Bewusstseinsstufen definiert. In der hierarchischen Ordnung z.B. ist die Zugehörigkeit durch die Geburt festgelegt und bleibt einem Individuum relativ starr zugeordnet. Die soziale Sicherheit wird in dem Rahmen des Standes gewährleistet. Gleichheit gibt es bestenfalls innerhalb eines Geburtsstandes, sowie auf einer abstrakteren Ebene durch den Einfluss von Hochreligionen auf das Menschsein allgemein ausgedehnt, z.B. durch die Festlegung des Christentums, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Allerdings fällt der Widerspruch zwischen dieser Idee und der extremen Ungleichheit in einer hierarchischen Gesellschaft meist nur dem nachträglichen Beobachter.

Deshalb hat der Begriff der Gleichheit schon lange seine Einfachheit und Eindeutigkeit verloren und ist in vielen vormodernen Gesellschaften gar nicht mehr wahrnehmbar. Es wird deutlich, dass ihn jede Bewusstseinsstufe hat für ihre Zwecke genutzt, um auf jeweils komplexerer Organisationsstufe brüchige Sicherheiten herzustellen.

Wir werden uns jetzt näher mit dem Spannungsverhältnis beschäftigen, das diesen Begriff am Übergang zwischen der materialistischen (vierten) und der personalistischen (fünften) Stufe prägt, da sich hier viele Elemente der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion zuordnen lassen.

Das Gleichheitsprinzip im Kapitalismus


Der Kapitalismus (= das Wirtschaftssystem, das der vierten Bewusstseinssufe entspricht) verwendet das Prinzip der Gleichheit, das von einem archaischen Grundgefühl der Menschen getragen wird, zur Durchsetzung seiner Ziele. Alle Mitglieder der Gesellschaft werden in ihrer Leistungsfähigkeit gleichgesetzt - und gleichermaßen ausgebeutet. Wer schneller schlapp macht, hat eben draufgezahlt, wer länger durchhält, wird mehr belohnt. Dieses Prinzip wird verinnerlicht, und wer nicht mitkann, wird mit einem sozialen schlechten Gewissen behaftet. Solche Personen sollten sich tunlichst schämen und vor der Öffentlichkeit verstecken. Sie gehören nicht mehr zu einer Gesellschaft von Leistungsträgern, in der das Ausmaß an Zugehörigkeit vom Ausmaß an Leistung abhängt, das jemand beisteuert. Das kann dann schnell bewirken, dass die stigmatisierten Leistungsversager an Depressionen oder anderen psychosomatischen Leiden erkranken, was dann ihre Leistungsfähigkeit und -motivation weiter schwächt.

Der Sozialstaat wurde eingeführt, um die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus nicht nur auf einzelne, sondern auch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer abzumildern. Deshalb wurden Elemente der personalistischen Bewusstseinsstufe in die politische Willensbildung inkludiert. Es wurden Regeln eingeführt, die jedem Mitglied der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben garantieren sollten (z.B. durch Krankengelder, Mindestsicherung, Altersvorsorge usw.). Finanziert wird dieses System durch die Umverteilung von Einkommen mittels Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

Die staatliche Sozialpolitik geht dabei von einem differenzierten Menschenbild aus, das jedem Menschen ein Leistungsmotiv zuschreibt, aber Unterschiede in der Leistungsfähigkeit anerkennt, seien diese durch unterschiedliche Konstitution, Schicksalsschläge oder ungünstige Lebensbedingungen bedingt. Es greift insoferne tribale Inhalte auf, sodass es nicht akzeptiert werden kann, dass einzelne Menschen oder Gruppen unter die Räder kommen und vor die Hunde gehen. Ist z.B. eine bestimmte Region massiv von Unwettern betroffen, werden die Menschen nicht einfach sich selbst überlassen, sondern die Gemeinschaft greift helfend ein. Wenn jemand aufgrund einer schweren Erkrankung aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muss, erhält er entsprechende Unterstützungen.

Die Faulheit und die Neidgesellschaft


"Trittbrettfahrer" oder "Schmarotzer" des Sozialsystems werden in Kauf genommen, also Menschen, die ihre Leistungsfähigkeit dafür einsetzen, Lücken im Kontrollsystem zu finden, das ihnen ein angenehmes Leben möglich macht, ohne dass sie sich dafür anstrengen müssen. Das System muss beständig danach trachten, einerseits das Netz möglichst dicht zu halten, dass also keine benachteiligte Gruppe durchfällt und dass andererseits die Kontrolle gegen Missbrauch und Betrug effektiv unterbunden werden kann.

Diese sogenannten Leistungsverweigerer sind allerdings keine geborene Faulpelze, sondern wurden durch die Sozialisation dazu "gemacht". Fehlende Anerkennung von früh an, fehlende Förderung weiterhin, fehlende Erfolgserlebnisse und Bestätigungen - mit einer solchen Geschichte ist es schwer, mit Engagement eine eigene Karriere aufzubauen. Misserfolge und Missgeschick können dann dazu führen, dass das geregelte Mittun in der Leistungsgesellschaft nicht mehr klappt.

Die Oszillation zwischen dem Ausbau des Sozialstaates und dem Ausbau der Kontrolle ist auch deshalb wichtig, weil unsere Gesellschaft auch eine Neidgesellschaft ist. Der soziale Neid ist einerseits ein Korrekturmechanismus des fortwährend angestrebten Ausgleichs zwischen dem basalen Gleichheitsanspruch und dessen Individualisierung. Andererseits ist er getragen von den Ängsten der emanzipatorischen Stufe der Bewusstseinsevolution, insbesondere dem Konkurrenzgedanken, der besagt, dass jeder im Prinzip allein für sein Überleben zuständig ist und dafür sorgen muss, und dass folglich der Vorteil des anderen den eigenen Nachteil bewirken kann.

Diese Wildwest-Einstellung, die wir ebenfalls in tieferen Schichten unserer Persönlichkeit in uns tragen, tut sich schwer mit den Komplexitäten des Sozialsystems. Wer sich selber zu den Leistungsträgern, zu den „Anständigen“ und „Fließigen“ zählt, hat sich Argusaugen angewohnt, mit denen die anderen überwacht werden. Gibt es welche, die weniger tun und mehr kriegen? Solche Fälle müssen aufgedeckt und ausgeschaltet werden. Das tribal geprägte Gleichheitsmotiv ist unüberhörbar, es wird allerdings nur selektiv, also wenn es einem selber nutzen könnte, angewendet. Es wirkt nur im Blick nach oben und verhält sich in der anderen Richtung blind: Diejenigen, die selber mehr tun als man selber, aber weniger kriegen, werden ignoriert oder abgewertet ("Wenn jemand so blöd ist", "Jeder kriegt, was er verdient" usw.).

So wirkt also das emanzipative Erbe im Kapitalismus in die Richtung einer selektiven Entsolidarisierung: ausgegrenzt werden sollen jene, die die eigene Stellung in der Gesellschaft bedrohen könnten. Das Neidmotiv hilft bei der Steuerung.

Einerseits hilft diese Einstellung bei der permanenten Verbesserung des sozialen Ausgleichs, weil sie auf mögliches Ungleichgewicht hinweist, andererseits nagt sie am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn wenn die Unterschiede zu groß und zu offensichtlich werden, entsteht sowohl oben wie unten die Tendenz, sich der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Statt dessen entstehen die Netze der Korruption und die Gewohnheiten der Steuerhinterziehung und -verweigerung.

Gleichheit in systemischer Sicht


Um den Gleichheitsbegriff sozial abzufedern und die damit verbundenen Spannungen und Ängste abzubauen, bedarf es systemischer Elemente und Denkweisen. Zum Beispiel tritt auf dieser Ebene die Idee auf, dass es zum Nutzen aller sein kann, wenn die individuelle Schwäche gestützt und ausgeglichen wird. Die Begründung dafür findet sich nicht nur auf der ökonomischen Schiene (auch Arme sollen Mitglieder in der Konsumgesellschaft bleiben), nicht nur im emotionellen Bereich (mehr soziale Absicherung bewirkt mehr soziale Zufriedenheit), sondern auch im Sinn einer Diversität, die jedem Mitglied der Gesellschaft einen Wert zubilligt, gleich in welcher Form der Beitrag zum Ganzen besteht. Für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sollte es keine prinzipielle Rolle spielen, ob dieser Beitrag durch Leistungen erbracht wird, die einen Mehrwert erwirtschaften (bezahlte Arbeit) oder durch Tätigkeiten, die keinen sichtbaren Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts bringen, aber in anderer Weise Wirkung entfalten: Wenn z.B. jemand, der aus irgendwelchen Gründen aus dem Bereich der Arbeitsfähigkeit herausgefallen ist, ein hilfsbereiter und angenehmer Nachbar ist.

Je mehr die Grundtoleranz in der ganzen Gesellschaft wächst, desto mehr sollte die Bereitschaft bei jedem einzelnen Mitglied steigen, einen eigenen Beitrag zum Ganzen beizusteuern. Ein hohes Maß an dieser Toleranz verringert den Druck auf die Menschen, arbeiten und leisten zu müssen, um dazuzugehören. Ohne Druck geht es und fällt es prinzipiell leichter: Ohne Müssen arbeiten und leisten wir mehr und Besseres.

Auf diesem Weg könnte eine systemisch geprägte Gesellschaft die Motive des tribalen Gleichheitsbegriffes auf einem hohen Organisationsniveau verwirklichen und damit ein hohes Maß an sozialer Sicherheit sowohl mit einer Entlastung von Stress für alle und einer Stärkung der Leistungsmotivation verbinden.

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