Dienstag, 1. Oktober 2019

Metamoderismus - eine Übersicht

Mit Metamoderismus wird eine Stufe der Gesellschaftsentwicklung bezeichnet, die nach der Moderne und Postmoderne erreicht wird.  der Begriff bedeutet so viel wie dass die Menschen durch die Moderne hindurchsehen können, als auch, dass sie über sie hinaus und jenseits von ihr blicken können.
Drei miteinander verschränkte Versionen des Begriffs Metamodernismus müssen berücksichtigt werden:

Eine kulturelle Phase

Die erste Bedeutung von Metamoderismus meint, dass es eine kulturelle Phase gibt, die sich als Zeitgeist durch alle Sphären der Kultur zieht, ähnlich wie in der Romantik oder Barockzeit. Es gab Zeitalter in der Geschichte, die von einer vorherrschenden Stimmung, Schwingung und kulturellen Logik geprägt waren, die auf die Umstände und Ereignisse der jeweiligen Zeit reagierten.

Eine Entwicklungsstufe

Mit diesem Ausdruck wird auf die Verortung des Metamoderismus in einer Entwicklungslogik Bezug genommen. Damit ist gemeint, dass  es qualitative Umschwünge zwischen den einzelnen Stufen gibt, wobei spätere Stufen auf den vorigen aufbauen, aber nicht umgekehrt. Damit weisen spätere Phasen einen höheren Komplexitätsgrad auf als frühere. Vergleichbar der menschlichen Entwicklung, bei der die Jugendzeit auf der Kindheit und den dort erworbenen Fähigkeiten aufbaut, beruhen die Fortschritte der Postmoderne auf den Errungenschaften der Moderne und nicht umgekehrt.

Ein philosophisches Paradigma

Unter einem Paradigma wird eine grundlegende Weltsicht verstanden, die eigene Formen von Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Kultur und Selbstwissen umfasst, ähnlich wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der liberalen Demokratie, dem Kapitalismus, der Person als Individuum und den modernen Wissenschaften verbunden war.

Um eine vage Idee der metamodernen Weltsicht zu bekommen, habe ich die langen Listen aus dem Anhang des Hanzi-Freinacht-Buches „The Listening Society“ übersetzt; jeder einzelner der Punkte müsste natürlich näher erläutert und diskutiert werden, und dazu dient eben das Buch. Also lieber Leser, liebe Leserin: Durchtauchen, ohne den Anspruch, alles und jedes zu verstehen, geschweigedenn für richtig oder gut zu befinden!

Die metamoderne Haltung zum Leben


·        Außerordentliche Ironie und Ernsthaftigkeit, zugleich
·        Extremer Idealismus und extremer Machiavellismus.
·        Gott ist tot und der Humanismus stirbt, d.h. die Bedeutungsgebung muss jeder selbst vornehmen.
·        Die intellektuelle Einsicht und das intuitive Spüren der inneren wechselseitigen Verbundenheit von allem: „Das Universum in einem Sandkorn“.
·        Die paradoxe, selbstwidersprüchliche, immer unvollkommene und gebrochene Natur der Gesellschaft, Kultur und der Wirklichkeit selbst zu akzeptieren und damit zu gedeihen.
·         Eine allgemeine Sowohl-als auch-Perspektive
o   sowohl die politische Linke als auch die politische Rechte
o   Sowohl historische Individuen als auch soziale Strukturen
o   Sowohl Verwaltung und Regierung von oben nach unten als auch von unten nach oben.
o   Sowohl objektive Wissenschaft als auch subjektive Erfahrung.
o   Sowohl Kooperation als auch Konkurrenz.
o   Sowohl extremer Säkularismus als auch ernsthafte Spiritualität.
·        Sowohl eine systematische Philosophie (wie Platon und die Naturwissenschaften) als auch eine prozessorientierte Philosophie mit offenem Ende (wie Nietzsche oder die kritischen Sozialwissenschaften)
·        Die Erkenntnis der Unbeständigkeit aller Dinge, dass das Leben und die Existenz immer im Fluss sind, ein Prozess des Werdens, der Emergenz, der Immanenz und des immerpräsenten Todes.
·        Die Sicht auf das normale bürgerliche Leben und seine assoziierte Normalität und professionelle Identität als ungenügende Manifestationen der Größe und Schönheit der Existenz.
·        Die Übernahme einer spielerischen Haltung zum Leben und zur Existenz, eine Leichtigkeit, die von uns die tiefste Ernsthaftigkeit erfordert, in Hinblick auf die stets verfügbaren Potenziale von unvorstellbarem Leiden und Glücklichsein.

Die metamoderne Sicht der Wissenschaft

  •  Die Anerkennung der Wissenschaft als unverzichtbare Form des Wissens.
  •  Die Sichtweise, dass die Wissenschaften immer kontextual und die Wahrheit immer vorläufig ist – dass die Wirklichkeit immer noch tiefere Wahrheiten beinhaltet.
  •  Das Verständnis, dass unterschiedliche Wissenschaften und Paradigmen gleichzeitig wahr sind; das viele ihrer Widersprüche oberflächlich sind und auf Fehlwahrnehmungen oder Übersetzungsfehlern beruhen.
  •  Die Erkenntnis, dass es grundlegende Einsichten und relevantes Wissen in allen Stufen der menschlichen Entwicklung gegeben hat, darunter das tribale Leben, der Vielgötterglaube, die traditionelle Theologie, die moderne Industrialisierung und die postmoderne Kritik.
  •  Die Verkörperung der Nichtlinearität in allen nichtmechanischen Zusammenhängen wie Gesellschaft und Kultur. Nichtlinearität heißt, dass sich der Output eines Systems nicht proportional zum Input verhält.
  •  Das Hochhalten einer fallsensitiven Skepsis gegen mechanische Modelle und lineare Kausalbeziehungen.
  •  Eine systemische Lebenssicht mit der Erkenntnis, dass alle Dinge Teil von selbstorganisierenden Systemen von unten nach oben sind: von subatomaren Einheiten zu Atompartikeln zu Molekülen zu Zellen zu Organismen.
  •  Die Einsicht, dass Dinge lebendig und selbstorganisierend sind, weil sie auseinanderfallen – dass das Leben immer ein Wirbelwind der Zerstörung ist: Der einzige Weg zur Erschaffung und Aufrechterhaltung eines geordneten Musters besteht darin, eine entsprechende Unordnung zu erschaffen. Das sind die Prinzipien der Autopoiesis: Entropie (Dinge zerfallen) und negative Entropie (das Auseinanderfallen macht das Leben möglich).
  •  Die Akzeptanz einer verbindenden, übergreifenden Weltsicht, die alle Menschen und andere Organismen haben, eine tolle Geschichte oder eine überragende Erzählung; deshalb die Akzeptanz der Notwendigkeit einer die ganze Welt übergreifenden Geschichte. Wer eine solche Geschichte erzählt, sollte das leicht halten, denn sie kann nie frei von Fiktion sein.
  •  Das Wichtignehmen von ontologischen Fragen, d.h. die Frage sollte in Wissenschaft und Politik leitend sein, „was wirklich wirklich ist.“

Die metamoderne Sicht der Wirklichkeit

  • Die Einsicht in die fraktale Natur der Wirklichkeit und der Entwicklung und Anwendung von Ideen, dass alles Verstehen darin besteht, dass wiederverwendete Elemente von anderen Formen des Verstehens übernommen werden.
  • Eine antiessentielle Position einnehmen: Kein Glaube an „ultimative Wesenheiten“ wie Materie, Bewusstsein, das Gute, das Böse, Männlichkeit, Weiblichkeit oder ähnliches – sondern dass all diese Themen kontextual sind und Interpretationen, die aus Beziehungen und Vergleichen bezogen werden.  Auch die vielgepriesene „Bezogenheit“ ist kein Wesen des Universums.
  • Die Aufgabe des Glaubens an ein atomistisches und mechanistisches Universum, in dem die letztliche Sache die Materie ist, sondern vielmehr die Sichtweise, dass die letztliche Natur der Realität eine große Unbekannte ist, die wir metaphorisch durch unsere Symbole, Wörter und Geschichten einfangen müssen. Darin kann die Welt so gesehen werden, dass sie wieder und wieder neu geboren wird.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt radikal, unbeugsam und vollständig sozial konstruiert ist, immer relativ und kontextgebunden.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt durch komplexe Interaktionen seiner Teile emergiert und dass unser intuitives Verstehen meistens viel zu statisch und monokausal abläuft. Diese Komplexität ist das fundamentale Prinzip nicht nur der Meteorologie, sondern auch der Sozialpsychologie.
  • Die Akzeptanz der Notwendigkeit von Entwicklungshierarchien – mit der kritischen Vorsicht in Bezug auf die Art der Beschreibung und Verwendung. Diese Hierarchien müssen empirisch studiert und nicht willkürlich vermutet werden.
  • Die Erkenntnis, dass die Sprache und damit all unsere Weltbilder durch einen viel größeren Raum von möglichen, nie konzeptualisierten Welten reisen; dass sich die Sprache entwickelt.
  • Die holistische Weltsicht, in der Dinge wie wissenschaftliche Fakten, Perspektiven, Kulturen und Emotionen interagieren.
  • Die Erkenntnis, dass Information und Informationsverarbeitung fundamental für alle Aspekte der Realität und der Gesellschaft ist: von den Genen zu Memen zu Geldsystemen, Wissenschaft und politischen Revolutionen.
  • Die Akzeptanz einer informationellen darwinistischen Sichtweise, bei der sowohl die Gene (Organismen) als auch die Memes (die Kulturmuster) um das Überleben in einem Prozess der Entwicklungsevolution konkurrieren, der die negative Auslese beinhaltet (dass schlechter angepasste Gene und Meme aussterben, aber als Möglichkeiten erhalten bleiben).
  • Die Erkenntnis, dass die darwinistische Evolution gleichermaßen von wechselseitiger Kooperation und Konkurrenz abhängt und beide immer miteinander verwoben sind.
  • Die Erkenntnis des dynamischen Wechselspiels zwischen dem Universalen und Partikularen, in dem z.B. Menschen in komplexeren Gesellschaften individualistischer werden, was wiederum zur Entwicklung von komplexeren Gesellschaften führt, in denen die Menschen unabhängiger werden und universellere Werte benötigt werden, um einen Zusammenbruch zu vermeiden.
  • Die Erkenntnis, dass die Welt nach einer dialektischen Logik funktioniert, in der die Dinge immer gebrochen sind, sozusagen  „nach hinten taumeln“; dass die Dinge immer nach einer unmöglichen Balance streben und dass zufällige Bewegungen den ganzen Tanz erschaffen, den wir die Realität nennen. Also verfügt die Entwicklung der Wirklichkeit über Direktionalität, doch wir sind immer blind für diese Richtung; von da kommt die Metapher des „Rückwärts-Taumelns“.
  • Die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit grundlegend ein offenes Ende hat und sozusagen gebrochen ist, selbst in ihrer mathematischen und physikalischen Struktur, wie das Gödel in seinem Unvollständigkeitstheorem gezeigt hat und wie einige Schlüsselentdeckungen der modernen Physik belegen.
  • Die Anerkennung, dass Potenziale und Potenzialität die fundamentalste oder „realere“ Realität konstituieren, und weniger Fakten und Aktualitäten. Was wir üblicherweise als Realität bezeichnen, ist nur  „Aktualität“, ein Stückchen eines unendlich größeren, hyperkomplexen Kuchens. Aktualität ist nur ein „Fall von“ einer tieferen Realität, die die „absolute Totalität“ genannt wird.
  •  Das Erleben von Visionen von Panpsychismus, d.h. dass das Bewusstsein überall im Universum ist und dass es so real ist wie Materie und Raum. Aber Panpsychismus sollte nicht mit animistischen Visionen verwechselt werden, bei denen alle Dinge „Geister“ haben.

Metamoderne Spiritualität, Existenz und Ästhetik

  •  Das Ernstnehmen von existentiellen und spirituellen Sachen; die Sichtweise von Humanität, Intelligenz und Bewusstsein als Ausdrücken von höheren Prinzipien, die im Universum enthalten sind.
  •  Die Erkenntnis, dass sich esoterische, spirituelle Disziplinen und Weisheitstraditionen im Osten und Westen auf wirkliche Einsichten von großer Bedeutung beziehen – eine Anerkennung der Wichtigkeit von Mystizismus.
  •  Das Verfügen über einer sorgfältigen, unwissenden und explorativen Denkweise in Hinblick auf Spiritualität und Existenz.
  •  Das Verständnis, dass sich höhere, weitere subjektive Zustände auf höhere existentielle und spirituelle Wahrheiten beziehen als die meisten Erfahrungen des täglichen Lebens.
  •  Die Einsicht, dass die innere Erfahrung – und die direkte Entwicklung der Subjektivität von Organismen – zentral für alles ist, und das ist vielleicht die Hauptzutat, die in der Perspektive der modernen Welt fehlt; die Anerkennung der inneren Erfahrung ist oft der goldene Schlüssel zum Umgang mit sozialen Problemen.
  •  Das Ernstnehmen von philosophischen, kulturellen und ästhetischen Angelegenheiten, weil sie als inhärente Dimensionen der Realität angesehen werden.
  • Die Schaffung von Kunst und Architektur, die auf die Tiefe und das Geheimnis der Existenz anspielt, ohne zu offensichtlich zu sein oder mit Ratschlägen oder Wirklichkeitskonzepten zu kommen.
  • Die Unterstützung eine Spiritualität, die demokratisch, intersubjektiv, teilhabend, wissenschaftlich unterstützt und zweiseitig ist, anstelle von traditionellen Wegen, Lehrern, Gurus oder Autoritäten.
  • Die Erkenntnis, dass sowohl spirituelle als auch nichtspirituelle Lebenserfahrungen und Weltbilder grundsätzlich in Ordnung sind. Spiritualität und Nicht-Spiritualität: Keines von beiden ist in sich besser als das andere.
  • Das Verstehen, dass Menschen grundsätzlich verrückt sind, dass unser alltagsbewusstsein keine gesunde Reflexion der Wirklichkeit erlaubt, sondern eine bizarre, psychotische Halluzination darstellt, die äußerst relativ, erfunden und willkürlich ist.
  • Die Intuition, dass die zentrale spirituelle und existentielle Einsicht die Vollendung der absoluten Totalität darstellt, wie sie schon immer ist; dass es eine makellose, erhabene Klarheit unterhalb all des Chaos und der Widersprüchlichkeit gibt; dass es eine darunterliegende Eleganz sogar in den oft tragischen, höllenähnlichen Erfahrungen des Lebens gibt; versteckt im sozusagen auf dem Präsentierteller. Das kann als die Erkenntnis des grundlegenden Gutseins bezeichnet werden. 

Die metamoderne Sicht der Gesellschaft

  • Die Erkenntnis, dass es keinen fundamentalen Unterschied zwischen Natur und Kultur gibt.
  • Die Erkenntnis, dass wir in einer neuen Ära der Technologie leben (das Informationszeitalter) und dass sich die menschlichen Gesellschaften durch unterschiedliche Entwicklungsstufen zum Besseren oder Schlechteren weiter entfalten.
  • Der Glaube, dass die Geschichte eine Art von Gerichtetheit hat, die auf Logik beruht, dass aber diese Gerichtetheit nie sicher gewusst sein kann, sondern nur metaphorisch und als Geschichte – spielerisch und zweckvoll.
  • Der Glaube, dass wir das Wissen, das wir über die Gesellschaft haben, immer zu einer Art von darüber gespanntem Narrativ zusammenfügen können, eine Meta-Erzählung, aber dass diese Metaerzählung nie für eine komplette Synthese gehalten werden darf, sondern immer nur als notwendige Protosynthese, unter kritischer Beobachtung.
  • Das Einnehmen einer nomadischen Sichtweise des sozialen Lebens; das Wissen, dass unser „Selbst“ Teil eines sozialen Flusses ist, einer Reise – und dass wir im Internet-Zeitalter mit unseren virtuellen Identitäten tribaler und nomadischer werden.
  • Das Feiern der teilhabenden Kultur und der Ko-Kreation der Gesellschaft durch nichtlineare interaktive Prozesse, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
  • Die Erkenntnis der Wichtigkeit von kollektiver Intelligenz (nicht zu verwechseln mit einem kollektiven Bewusstsein nach C.G. Jung; das gehört nicht zum metamodernen Paradigma). Kollektive Intelligenz ist die Fähigkeit einer Gruppe oder Gesellschaft, Probleme zu lösen und auf kollektive Herausforderungen zu reagieren.
  • Das Verständnis, dass Technologie nicht neutral ist, nicht nur ein „Werkzeug in unseren Händen“, sondern dass sie ihre eigenen Pläne und ihre eigene Logik entwickelt, die die Geschichte formt und steuert.
  • Die Erkenntnis, dass die Nachhaltigkeit und Resilienz eine Grundfrage allen sozialen Lebens ist.
  • Die Erkenntnis, dass die Sexualität und die sexuelle Entwicklung ein weitgehend übersehenes zentrales Stück im Mainstream-Verständnis aller menschlichen Gesellschaften darstellt. Die Sexualität hat eine besondere erklärende, verhaltenssteuernde und voraussagbare Kraft.
  • Die Erkenntnis, dass das „Alltagsleben“ etwas ist, das die Menschheit übersteigen kann und soll, zugunsten einer aktuelleren und authentischeren Lebensweise und Gemeinschaft.
  •  Das Ernstnehmen der Rechte und der Lebenserfahrung aller Tiere, der menschlichen wie der nichtmenschlichen. Die menschliche Gesellschaft ist nur eine kognitive Kategorie, und diese Kategorie kann genausogut alle Kulturen, alle tiefenökologischen Wesenheiten (Ökosysteme, Biotope) und alle fühlenden Wesen miteinschließen. 

Das metamoderne Menschenbild

  • Die Erkenntnis, dass die Menschen verhaltensgesteuerte organische „Roboter“ sind, kontrolliert von unseren Reaktionen auf die Umwelt, und dass wir zugleich subjektive, selbstorganisierende und lebendige Wesen mit großer existentieller Tiefe sind.
  •  Die Erkenntnis, dass meine Identität und mein „Selbst“ letztlich nicht mein Körper oder die Stimme, die aus meinem Kopf redet, sind; oder zumindest, dass meine grundlegende Identität nicht durch diese Alltagskonzeption von einem Selbst (mein Körper und die Stimme, die aus meinem Kopf redet), das, was manchmal als das „Ego“ bezeichnet wird, erschöpft ist. Das Ego ist nur eine Idee, ein Wahrnehmungsobjekt wie jede andere erfundene Kategorie, die ein Objekt bezeichnet.
  • Die Übernahme einer tiefenpsychologischen Haltung zur Menschheit, mit der Erkenntnis, dass ihr Bewusstsein transformierbar ist durch die Veränderung des fundamentalen Sinns von Selbst und von Realität. Das kann durch Psychoanalyse und Liebesbeziehungen genauso wie durch athletische, ästhetische, erotische, intellektuelle und spirituelle Übungen erreicht werden, wobei die kontemplative Mystik als besonders wertvoller Weg herausragt.
  •  Die Erkenntnis, dass jede Person eine dreidimensionale Sicht der Wirklichkeit hat, die aus einer Ontologie besteht (ein starker Sinn dafür, was wirklich ist), einer Ideologie (ein starker Sinn dafür, was richtig ist) und einem Selbst (ein starker Sinn für den eigenen Platz in der Wirklichkeit) – und dass diese drei Dimensionen als Muster beschrieben werden können, das sich reihenförmig in Entwicklungsstufen entfaltet.
  • Die Erkenntnis, dass sich verschiedene menschliche Organismen auf grundlegend unterschiedlichen Entwicklungsniveaus befinden und deshalb sehr verschiedene Verhaltensmuster aufweisen.
  •  Das Verständnis eines transpersonalen Menschenbildes, in dem die tiefsten inneren Tiefen intrinsisch mit den scheinbar starren Strukturen der Gesellschaft verknüpft sind. Das menschliche Wesen ist nicht individuell – seine tiefste Identität reicht durch und jenseits des Individuums, der Person. Die „Person“ ist nur eine Maske, eine Rolle, abhängig vom jeweiligen Kontext. Sie ist nicht im Individuum enthalten, selbst wenn der menschliche Organismus mit der Verhaltenswissenschaft beschrieben werden kann.
  • Die Erkenntnis, dass in einer transpersonalen Sichtweise die individuellen Leute für nichts beschuldigt werden können. Jeder Moralismus ist nutzlos. Das führt zu einem radikalen Akzeptieren der Leute wie sie sind; ein radikales Nicht-Urteilen, das auch als ziviles, unpersönliches und säkulares Angebot der Nächstenliebe beschrieben werden kann.
  • Die Erkenntnis, dass das menschliche Dividuum viele Schichten aufweist, dass es zugleich Tier, „Mensch“ mit einer Vielzahl von Rollen ist, mit höheren Potenzialen in ihm – und dass es durch Interaktionen solcher Schichten innerhalb verschiedener Menschen geboren wird. Daraus folgen einige wichtige Implikationen:

o   Die vielschichte Psyche hat zugleich unbewusste, bewusste und überbewusste Prozesse (wobei die überbewussten Prozesse höhere und subtilere Intelligenz wie universelle Liebe, philosophische Einsicht, tiefste künstlerische Inspiration usw. umfasst.)
o   Die höheren Schichten der Psyche folgen generelleren, abstrakteren und universelleren Logiken, während die tieferen Schichten gröberen, selbstbezogeneren und konkreteren Logiken folgen. Aber sie arbeiten gleichzeitig und interagieren miteinander.
o   Die vielschichtige Natur der dividuellen Seele besagt, dass wir oft die unbewussten und überbewussten Schichten aneinander wahrnehmen können; wir können oft andere besser verstehen als uns selbst. Deshalb sind Praktiken wie Psychoanalyse oder Psychiatrie möglich. Das heißt auch, dass meine Handlungsfähigkeit aus dir abstammen kann und umgekehrt.
o   Diese transpersonale Sichtweise behauptet, dass unsere Selbste und selbst unsere Körper nicht „abgesiegelt“ oder „autonom“ sind; wir entwickeln uns zusammen in einem großen vieldimensionalen Netzwerk. Dieses Netzwerk folgt einer Logik, die sich für unseren individuellen Denkprozess oft sehr fremd anfühlt.
  •  Das Anerkennen des nicht absprechbaren Rechts jeder Kreatur, zu sein, wer sie ist.
  •  Ein nichtanthropozentrisches Bild der Wirklichkeit, in dem die menschliche Erfahrung nicht als das Maß aller Dinge angesehen wird.
  •  Die Akzeptanz der Idee, dass sich die Biologie und grundlegende Lebenserfahrung durch Wissenschaft und Technologie ändern kann und wird, was als Transhumanismus bezeichnet wird.
  • Das Ausweiten der Solidarität zur nächstmöglichen Solidarität: Liebe und Fürsorge für alle fühlenden Wesen, zu allen Zeiten, aus allen Perspektiven, von der größtmöglichen Tiefe unseres Herzens.


Der Text stammt aus dem Buch: Hanzi Freinacht: The Listening Society. A Metamodern Guide to Politics. Book One. Metamoderna 2017, S. 361 - 370, Übersetzung mit leichten Kürzungen.

Hanzi Freinacht wurde von den schwedischen Wissenschaftlern Daniel Görtz und Emil Ejner Friis erfunden.



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