Samstag, 12. Dezember 2020

Kinder in der Täterrolle

Eltern, die sich als Opfer der Existenz ihrer Kinder fühlen, wollen nicht sehen, dass sie die Täter sind. Sie sind freilich nicht Täter mit Tatbewusstsein in einem strafrechtlichen Sinn, vielmehr sind meist selber Opfer früher Abweisung und Abneigung. Sie sind auch keine bewussten Täter mit bösen Absichten, aber sie sind es, die die Geschichte in Gang gesetzt haben, in deren Verlauf das Kind empfangen und geboren wurde und deshalb sind sie auch dafür zuständig und verantwortlich, wie diese Geschichte weitergeht. Sie sind, ob sie es bewusst oder unbewusst bejahen oder verneinen, die alleinigen Verantwortungsträger in Bezug auf das Kind. 

Sie haben also das kleine Wesen in die Welt gesetzt, wohl wissend um die Konsequenzen im Allgemeinen und im Besonderen, aber natürlich nicht im Detail. Es ist unbestrittenermaßen keine leichte Aufgabe, Kinder großzuziehen, aber Millionen von Generationen haben das unter den unterschiedlichsten Bedingungen geschafft. Auch wenn es immer wieder Phasen der Verzweiflung und der Überforderung in diesem Prozess gibt, gehört es zur Verantwortung des Elternseins, diese Gefühle tunlichst von den Kindern fernzuhalten und sie nicht auf sie damit zu belasten. Denn sonst kommt es zur Verantwortungsumkehr, die schwere Folgen für das Kind zeitigt. 

Schicksalsgemeinschaft

Wo sich jemand als Opfer fühlt, braucht es einen Täter, und dazu werden in diesen Fällen offensichtlich die Kinder gestempelt, indem sie mit der Verantwortung für die Zufriedenheit und das Lebensglück ihrer Eltern überlastet, überladen und überfordert werden. Die materielle oder emotionale Überforderung der Eltern wird durch die Schuld- und Schamüberforderung der Kinder erweitert, so als dürfte und sollte es den Kindern nicht besser ergehen als den Eltern. Scheinbar entlastet es den klagenden, vorwurfsvollen oder jammernden Elternteil, wenn er das Kind für das eigene Unglück verantwortlich macht. Sich der Verantwortung zu entledigen, erleichtert kurzfristig und verhilft zu Ausreden und zum Ausweichen.

Tatsächlich aber verstärkt die Verantwortungsabgabe das Leid, weil die Last, die dem Kind aufgebürdet wird, hinfort auch das Leben der Eltern überschattet. Denn die Identifikation der Eltern mit dem Kind und seinem Schicksal wird durch die Akte der Verantwortungsübertragung nicht verringert, sondern im Gegenteil tief einzementiert. Es wird eine Schicksalsgemeinschaft geschmiedet, der sich sowohl die Eltern als auch das Kind nur unter größten Mühen entwinden können. 

Erst wenn die Eltern die Verantwortung für ihr eigenes Leben und für ihr Elternsein zur Gänze zu sich zurücknehmen, kann sich diese Verknotung lösen und das Kind zur eigenen Freiheit und zur vollen Kraft gelangen, Ressourcen, die ihm hinfort zur Gestaltung seines Lebens zur Verfügung stehen. Denn die Verantwortung für die emotionale und materielle Versorgung des Kindes liegt immer bei den Eltern, ob sie sie tragen oder ob sie versuchen, sie abzuschütteln und den Kindern umzuhängen. Es geht nicht ohne Gewissensbisse, die vielleicht tief im Inneren nagen, wenn diese Verantwortung abgelehnt und abgelegt wird.

Täter-Opfer-Verwechslung

Kinder mit solchen verdrehten und ungelösten Schuld- und Schambelastungen sind später empfänglich für die Verwechslung von Tätern und Opfern, die im gesellschaftlichen und politischen Diskurs eine wichtige Rolle spielt. Sie wissen nicht, wo der richtige Ort für Schuld und Scham ist. Statt dessen sind sie daran gewöhnt, dass die Verantwortung immer wieder konsequent verschoben wird, bis sie zur Unkenntlichkeit verschwunden scheint, wie die Gelder der Korrupten, die von einer obskuren Bank zur nächsten wandern, bis alle Spuren verwischt sind und nur mehr „gewaschenes“ Geld übrig bleibt. Das Äquivalent dazu ist die selbstgefällige und schamlose Zurschaustellung der Reingewaschenen, die sich zynisch ihrer erbeuteten Reichtümer erfreuen und sie verkonsumieren.

Dass solche Machenschaften immer wieder möglich sind und oft erst viel zu spät aufgedeckt werden, liegt wohl darin, dass bei vielen der Sinn für die richtige Weise der Verantwortungsübernahme infolge von verstörenden Täter-Opfer-Rochaden in der Kindheit abhandengekommen ist. Darin liegt auch ein Grund für die seltsame Attraktivität solcher Machtperversionen, weil das Unbewusste Ähnlichkeiten mit dem eigenen Schicksal entdeckt. Im Bewundern der Unverschämten versucht sich die eigene Scham zu erleichtern. Die frühen Erfahrungen des Abstreitens der Verantwortung finden ihre Rechtfertigung durch die Öffentlichkeit einer Täter-Opfer-Verdrehung.

Vom Opfer zum Täter

Was bleibt Kindern, die zu Tätern erklärt werden, viel anderes übrig, als später echte Täter zu werden, im familialen, gesellschaftlichen oder politischen Bereich? Sie werden zu Tätern, die nicht merken oder so tun, als würden sie nicht merken, was sie anrichten, sondern virtuos auf einen Opferstatus ausweichen, sobald ihre Täterschaft ans Tageslicht kommt. Sie finden schnell jemanden, auf den sie die Verantwortung abschieben können, und schon sind sie wieder in der Rolle des Opfers, das bemitleidet werden möchte.

Die Alternative liegt darin, die Opferrolle zu kultivieren, mit beständig nagendem schlechten Gewissen und eingeprägter Schamhaltung. Menschen mit dieser Variante üben die Täterschaft nur indirekt aus, vor allem durch Manipulation, Fehleranfälligkeit und Zur-Last-Fallen. Sie versuchen, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, um den eigenen Mangel und die Selbstzweifel auszugleichen. Sie wollen nach Mitleid heischen und bewundern oft Täter wegen ihrer Unverfrorenheit.

Wunden in der Seele

Verantwortungszuschreibungen und Übertragungen von Täterrollen, wie sie Eltern unbewusst und unbedacht auf ihre Kinder überwälzen, erzeugen Risse im Selbstwert und Wunden in der Seele, die später ihren Ausgleich in sozial destruktiven oder selbstschädigenden Handlungen und Einstellungen finden, solange diese Dynamiken unbewusst wirken. Die Weitergabe der Schuld- und Schambelastungen von Generation zu Generation kann nur verhindert werden, wenn die Verantwortung dorthin zurückgegeben wird, wo sie hingehört, und die eigene Verantwortung übernommen wird, so wie sie angemessen ist. 

Zum Weiterlesen:
Die Seelen- und die Planentenzerstörung
Anklagen gegen das Kind und die Folgen



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