Donnerstag, 7. November 2019

Bescheidenheit als Tugend

Ist Bescheidenheit eine Tugend, fragt „Hanzi Freinacht“ in einem facebook-Posting. Er meint, dass die Bescheidenheit als Norm nicht taugt, weil sie dann als etwas Besseres ausgegeben wird als etwas anderes, Arroganz beispielsweise. Damit wird der Bescheidene zum überheblichen Besserwisser. „Die Bescheidenheit zu ehren und die Arroganz zu verachten, ist selbst ein Hochverrat an der Bescheidenheit,“ so Freinacht. 

Natürlich wird die Bescheidenheit zur Waffe, wenn wir sie gegen andere Haltungen von Menschen in Stellung bringen und Vergleiche anstellen. Bescheidenheit an sich ist weder besser noch schlechter als Arroganz. Beide Haltungen haben ihren Sinn und ihren Schatten. Eine gesunde Arroganz können wir mit gesundem Stolz gleichsetzen und eine falsche Bescheidenheit geht leicht mit Heuchelei einher. Die Tatsache jedoch, dass wir die Bescheidenheit für Machtzwecke nutzen können und uns damit selbst widersprechen, bedeutet nicht, dass sie nicht als Tugend taugen würde. Denn das gleiche gilt für jede andere Tugend auch. Die Nächstenliebe können wir für egoistische Handlungen missbrauchen, die Tapferkeit zur Gewaltrechtfertigung, die Weisheit zur Manipulation, die Geduld zur Verzögerung, die Ehrlichkeit zur Rücksichtslosigkeit usw. 

Tugenden und Laster

Was verstehen wir eigentlich unter dem etwas antiquiert wirkenden Begriff Tugend? Sie ist eine innere Einstellung und ethische Haltung, die erworben und gepflegt werden muss, die also nicht einfach unseren ursprünglichen Impulsen und Trieben entspringt, sondern im Zug des Hineinwachsens in die Gesellschaft angenommen wird. Sie besteht im Überwinden von egoistischen Antrieben und Gewohnheiten, von Bequemlichkeiten und Ängsten. Sie ist an einem überpersönlichen Guten orientiert, das prinzipiell allen Menschen dient.

Jede Tugend hat eine Seite, die als Vorbild und Richtschnur für ein gutes Leben dient, und eine Schlagseite, die zum Missbrauch verleitet. Unser Ego will immer mitschneiden, wenn wir einen inneren Fortschritt machen, indem es dafür z.B. Bewunderung oder materielle Vorteile erheischen möchte. Schon haben wir den dünnen Grat, auf dem die Tugend wandelt, verlassen und sind im Laster gelandet. 

Prediger der Bescheidenheit

Anderen Tugenden zu predigen, ist immer eine heikle Angelegenheit und funktioniert solange, als Hierarchien im Spiel sind. Früher war es die Aufgabe von Priestern, Missionaren, Kirchenlehrern und anderen Autoritäten, die dem einfachen Volk mores lehrten, also das, was als gut und böse zu gelten hat. Die Aufklärung hat mit der Demontage dieser Autoritäten begonnen. Seither muss sich jede Stimme, die Tugenden öffentlich anpreist, einer Rechtfertigung unterziehen und unterliegt der Prüfung im kritischen Diskurs. 

Jeder darf sich selber auf den Weg machen, die eigene Tugendhaftigkeit auszuformen und dafür die Verantwortung zu übernehmen, am besten im Rahmen der Bescheidenheit. Denn unsere eigenen Errungenschaften sind auch unsere kostbarsten Geschenke: Was wir in uns entwickeln können, verdanken wir immer auch anderen Quellen – darauf weist uns die Haltung der Bescheidenheit hin.

Bescheidenheit bedeutet, die eigenen Ansprüche und Erwartungen zurückzuschrauben. Sie umfasst die Fähigkeit, sich ohne schmerzhaften Verzicht, sondern aus Einsicht mit weniger zufriedenzugeben und die Quellen des Glücks im Inneren statt im Äußeren zu suchen. Sie beinhaltet ein erwachsenes Bedürfnismanagement: Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen aktuellen, realen Bedürfnissen und illusionären oder eingebildeten Wünschen und Sehnsüchten sowie die Unterscheidungsfähigkeit zwischen unerfüllten Glücksansprüchen aus der Kindheit und den Notwendigkeiten der Erwachsenenwelt.

Die Bescheidenheit taugt nicht zum Vergleichen („Ich habe mehr davon als andere“) oder zum Verordnen („Du musst endlich bescheidener werden“) und auch nicht zur Selbstbeweihräucherung („Seht her, wie bescheiden ich bin“). Vielmehr muss sie selbst gefunden und entwickelt werden, eine persönliche Errungenschaft sein, damit sie in den eigenen Lebensstil inkorporiert werden kann. Sicher ist es sinnvoll, sich an Vorbildern zu orientieren. Es gibt eine Untersuchung, die festgestellt hat, dass Menschen dann aufs Fliegen verzichten (aus Gründen der Rücksichtnahme auf die Umwelt, also aus einer Haltung der Bescheidenheit), wenn sie Menschen kennengelernt haben, die diesen Schritt gemacht haben und damit gut leben können.

Die falsche Bescheidenheit

Die Bezeichnung „falsche Bescheidenheit“ weist auf einen der verschiedenen Missbräuche der Tugend hin. Sie besteht beispielsweise darin, ernst gemeintes Lob oder Anerkennung abzulehnen, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Auch die Zurückweisung eines Gefallens, den einen jemand erweisen möchte, zählt dazu, oder das Sich-Zieren, eine Beförderung oder Auszeichnung anzunehmen. Es handelt sich um eine Anmaßung im Kleid der Bescheidenheit: Ein Bedürfnis, als außergewöhnlich bescheiden von den anderen angesehen zu werden und damit einen besonderen moralischen Status zu bekommen. „Falsch“ ist diese Bescheidenheit auch deshalb, weil mit ihr andere Menschen getäuscht werden sollen.

Privilegien und Bescheidenheit

Wir leben mit einem hohen Grad von Luxus, als Mitglieder einer dünnen Oberschicht der Weltbevölkerung. Wir können diese privilegierte Stellung mit der Demut derer, denen ein besonderes Los ohne Verdienst zugeteilt wurde, einnehmen. Dann liegt uns die Bescheidenheit näher als Machtstreben, Überheblichkeit und Raffgier. Mit dem von der Gier angetriebenen Zwang zur Güteranhäufung machen wir uns von einem Habenmodus abhängig, der uns in die Selbstausbeutung führt. Üben wir uns statt dessen in der Tugend der Bescheidenheit, so können wir sehr viel, wenn nicht sogar Entscheidendes zur Balancierung der Ungleichheiten innerhalb der Weltgesellschaft und im Verhältnis zwischen Menschheit und Natur beitragen. Zugleich kommt auch unser Inneres zu mehr Ausgleich und Frieden, weil es nicht mehr vom Habenwollen in Geiselhaft genommen ist. 

Die Bescheidenheit beinhaltet die Wertschätzung des Kleinen, Unscheinbaren, Unspektakulären. Die kleinen Dinge schaffen kleine Freuden, doch summieren sich diese Freuden beständig. Wenn das, was sonst übersehen wird, gesehen und wertgeschätzt wird, wächst das Ausmaß an Schönheit in dieser Welt.

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