Wie steht es um die Würde der Armen und der Reichen? Klar würden die meisten Leute sagen, dass es für die Menschenwürde bedeutungslos sein sollte, wie ein Mensch materiell aufgestellt ist, wie fett das Bankkonto ist, bzw. ob es überhaupt eines gibt. Aber in der Gesellschaft und auf den tieferen Ebenen der Psyche schaut das gleich anders aus.
Armut heißt, Mittel für fremde Zwecke zu sein
Wie im vorhergehenden Blogartikel ausgeführt, kann die Zubilligung der Menschenwürde mit der Formel „Als Zweck an sich selbst gesehen werden“ umschrieben werden. Dort, wo Menschen als Mittel zu fremden Zwecken dienen, leidet die Menschenwürde und wird tendenziell übersehen. Der Reiche ist wenig gezwungen, sich als Mittel für einen fremden Zweck herzugeben. Im Gegenteil, er ist in der Lage, viele andere Menschen für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Er kann sich Angestellte, Leiharbeiter und Bedienstete leisten, die ihm jeden Handgriff abnehmen.
Armut ist dagegen auch dadurch definiert, dass der Lebenserhalt nur durch das Eingehen von Mittel-Zweck-Relationen gesichert werden kann. Arme Menschen müssen einen großen Teil ihres Lebens als Mittel für andere Zwecke dienen. Sie können sich in vielen Fällen gar nicht aussuchen, womit sie ihren Lebensunterhalt erwirtschaften. Die Lebensbereiche, in denen die eigene Menschenwürde zum Tragen kommt, sind damit stark eingeschränkt. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, warum Arme kürzer leben als Reiche.
Das Bestreben nach Reichtum ist aus diesem Grund verständlich, weil mit finanzieller Sicherheit ein Ausweg aus ökonomischen und emotionalen Abhängigkeitsbeziehungen möglich wird. Die Lotteriewerbung zeigt Menschen, die sich in die eine oder andere Form des Nichtstuns fallen lassen, von Scharen von anderen Menschen bedient. Das ist der Inbegriff von Freiheit auf der materialistischen Bewusstseinsstufe: Freiheit von ökonomischen Abhängigkeiten und Zwängen, frei davon, als Mittel für die Zwecke anderer dienen zu müssen, frei, sich das eigene Leben ohne Fremdbestimmung gestalten zu können, frei, sich die Dienste von abhängigen Personen zu gönnen.
Mit den ökonomischen Entwicklungen seit der industriellen Revolution wurde deutlich, dass Reichtum und Armut nicht einfach nur durch die Geburt in eine bestimmte Gesellschaftsschicht für den Rest des Lebens festgelegt ist, sondern dass es möglich ist, aus der Armut in den Reichtum aufzusteigen, aber auch vom Reichtum in die Armut abzusteigen. Die Devise, dass jeder seines Glückes Schmied ist, wurde, vor allem in der US-amerikanischen Ausprägung des Kapitalismus, zur allgemeinen Lebensformel, samt der Kehrseite, dass auch jeder für sein Unglück alleine verantwortlich ist.
Reichtum und soziale Verpflichtung
In den vorkapitalistischen Zeiten hatten die Religionen ein stärkeres Gewicht in der Gestaltung der Gesellschaftsordnung und damit auch in Hinblick auf das Verhältnis von arm und reich. Sie haben in verschiedenen Formen darauf hingewiesen, dass angehäufter materieller Besitz mit einer besonderen ethischen Verpflichtung verbunden ist. Dahinter steckt die Vorstellung, dass es immer wieder zu einem Ausgleich zwischen Armen und Reichen kommen muss, wenn eine Gesellschaft im Gleichgewicht bleiben soll. Im Judentum gibt es den Schuldenerlass (alle 49 Jahre), im Christentum das Almosenwesen und das Zinsverbot, im Islam das Zakat, die Unterstützung der Bedürftigen, eine der fünf Säulen dieser Religion.
Eine signifikante Kehrwende hat die protestantische Richtung des Calvinismus eingeschlagen, die materiellen Reichtum mit dem Wohlwollen Gottes erklärt hat. Damit wurde das Streben nach Reichtum an sich zu einer religiösen Verpflichtung, die zunehmend von der sozialen Verpflichtung entkoppelt wurde. Zwar gibt es auch von protestantischen Gruppen starke Impulse zur aktiven Nächstenliebe für Schwache und Bedürftige, aber auch die selbstgefällige und herablassende Einstellung der Reichen, die keinen Grund mehr darin sehen, von ihrem Überfluss etwas an die Bedürftigen abzugeben.
Es gibt auch heute noch immer Reiche und Superreiche, die ihr Vermögen oder zumindest Teile davon als öffentliche soziale Verpflichtung verstehen. Sie haben das Bewusstsein für das Teilen des Überflusses nicht verloren. Gehörte es allerdings in früheren Zeiten noch zum Selbstverständlichen, dass es reiche Menschen als ihre Aufgabe sehen, vermehrt zu geben, und wurden Reiche in der Erbauungsliteratur bis zum „Jedermann“ von Hugo von Hofmansthal, die sich in ihrem Reichtum und in der Gier für mehr vergraben, an den moralischen Pranger gestellt, so scheint sich demgegenüber zunehmend eine zynische Haltung breitzumachen: Reichtum ist eine Auszeichnung für die Tüchtigen und Erfolgreichen, und was sie damit anfangen, geht niemand etwas an.
Diese Haltung pflegen nicht nur die Reichen (und Schönen) selbst, sondern erstaunlicherweise wird sie zunehmend auch vom Publikum, den weniger Reichen und Schönen, übernommen, die den Stars und Zelebritäten zujubeln, als wären es Götter und Göttinnen, die da von einem Himmelsthron herabsteigen, wenn sie irgendwo in die Öffentlichkeit treten. Und wie den antiken Göttern auch, wird ihnen von den Bewunderern jede Willkür im Tun zugebilligt, Unmäßigkeiten und Flegeleien, Dummheiten und Unachtsamkeiten werden einfach nur interessiert und staunend zur Kenntnis genommen. Mit großen naiven Augen stehen die Leute da, als wollten alle an dem Glanz und Strahlen teilhaben, das da von den Millionenvermögen ausgeht wie vom Geldhaufen, in dem Dagobert Duck spielt. Vielleicht fällt doch einmal ein Plättchen Gold von der Patina in den eigenen Säckel…
Allerdings, wenn ein Multimilliardär sein Geld in soziale Projekte steckt, läuft er Gefahr, von den Neidern und Ideologen als böser Gutmensch angeprangert zu werden, der christliche Wertvorstellungen und nationale Identitäten untergraben will, während ein anderer sein Vermögen in Weltraumflüge investiert, und dessen Angestellten, die seinen Reichtum vermehren, mit miesen Arbeitsbedingungen und kärglichen Löhnen zurechtkommen müssen, ohne dass es zu öffentlichen Aufschreien und politischen Instrumentalisierungen kommt.
Daran zeigt sich die Tendenz zur sozialen Isolierung im Wohlstandsstaat. Der Zulauf zu Parteien ist ungebrochen, die den Zynismus der Reichen in ihre Programme zur Reduktion der sozialen Absicherung der Armen übernehmen und von allen gewählt werden, die befürchten, in die Armut abzufallen. Da kann die gegenwärtige österreichische „Sozial“-Ministerin aus der „sozialen“ Heimatpartei vollmundig verkünden, dass jemand bei gedeckten Wohnkosten mit 150,- Euro im Monat an Mindestsicherung leicht auskommen könnte, während sie selber das dreifache am Tag verdient; auf Kritik von den Anhängern der Partei wartet man vergeblich.
Viele gesellschaftliche Bruchlinien sind als Resultante des immer weiter auseinanderklaffenden Reichtumsgefälles entstanden. Auf der einen Seite steigt der Wohlstand und noch mehr das Vermögen der Superreichen, auf der anderen Seite die Zahl der Armen und Armutsgefährdeten.
Emotionalisierte Verarbeitungen
Aus diesen komplexen Verwerfungen ergeben sich verschiedene emotionale Reaktionsformen. So haben Reiche die Neigung, eine diffuse Überheblichkeit gegenüber den Armen zu pflegen, die oft mit verdeckt ausgedrückter Verachtung verbunden ist. Das Herabschauen auf die, die es nicht geschafft haben, spielt sich nicht nur auf dem Gehsteig ab, auf dem der Bettler sitzt. Auch im gesellschaftlichen Diskurs kommen die Armen bestenfalls als Adressaten für Mitleid vor, nicht als Subjekte, denen ihre persönliche Würde zusteht.
Zudem spielt diese Haltung in die aktuellen Gefühlswelten rings um das Migrationsthema. Arme ausgezehrte und verzweifelte Menschen lösen bei vielen kein Mitleid, sondern Abscheu und Verachtung aus, Gefühle, die der Abwehr der eigenen Angst vor Mittel-Zweck-Beziehungen dienen. Da man sich selber ein Stück daraus befreien konnte und einen sozial abgesicherten, wenn auch fremdbestimmten Arbeitsplatz hat, gilt es, alle, die ein beträchtliches Stück unterhalb auf der sozialen Leiter stehen, weitgehend ihrer Würde zu entkleiden, indem sie einfach missachtet werden. Unbewusst oder halb bewusst, lösen sie Gedanken aus, die um die bange Frage kreisen, ob einem selber einmal derartiges zustoßen könnte und wie man sich dann fühlen würde. Diese Angst muss schnell weggedrückt werden, und sie hindert daran, auch nur ein kleines Stück des eigenen Reichtums abzugeben. Stattdessen entwickeln sich Ekel, Zynismus und Hass als Schutzgefühle gegen die Verunsicherung des eigenen Status und Egos.
Die Bessergestellten und Reichen haben es zudem geschafft, die moralische Verurteilung der Armen im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. Wer arm ist, hat nicht vielleicht nur Pech gehabt oder miese Startbedingungen mitbekommen, sondern hat etwas falsch gemacht, hat sich zu wenig eingesetzt und ist deshalb schuld an seiner schlechteren Stellung. So fällt es leicht, alle Schuldgefühle den Armen umzuhängen. Mit diesem Trick können sich die Reichen unbelastet von lästigen Gefühlen im satten Wohlbefinden der eigenen Rechtschaffenheit und Selbstzweckhaftigkeit sonnen.
Das Innehaben von Reichtum braucht Ideologien, weil jeder Mehrbesitz der elementaren Gleichheit der Menschen untereinander widerspricht. Reichtum benötigte also immer eine Rechtfertigung, eine allgemein akzeptable Erklärung. War es ursprünglich so, dass Reichtum mit der Verpflichtung zum Teilen verbunden war, hat sich die Situation nach Jahrhunderten der Ideologisierung, der Verbreiterung des Wohlstandes und der Anonymisierung des Reichtums umgedreht: Rechtfertigen müssen sich die Armen, sie geraten neben ihrer materiellen Not auch in eine Erklärungsnot.
Die Angst vor Demütigung
Auch am Thema von Armut und Reichtum können wir erkennen, dass die Angst vor Demütigung den Zugang zur aktiven Demut blockiert. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, die die Bettlerin den vorbeieilenden Passanten wie einen Spiegel vorhält, muss verdrängt werden. Daraus erwächst der Druck, gegen jede Verunsicherung anzukämpfen. Die Bessergestellten errichten Zäune und Mauern um die eigene Persönlichkeit mit ihren angehäuften Reichtümern in Form von vergänglichen Dingen – oder äußerlich, wie die Bürger der reichen Stadt Salzburg, die keine Bettler mehr in der Innenstadt dulden. Statt zumindest die mitfühlende und demütige Haltung gegenüber jenen einzunehmen, die durch welche Umstände in ihrem Leben auch immer gedemütigt wurden und in eine prekäre Situation geraten sind, befiehlt die Angst vor der eigenen Demütigung, den Gedemütigten mit der Blockierung der eigenen Demuthaltung zu begegnen.
Mit dieser Selbstblockierung bleibt aber das Verhältnis zur eigenen Menschenwürde brüchig. Das eingeengte Selbstbild des defensiven wohlhabenden Menschen gründet auf der schwankenden Unterlage der Überheblichkeit vor dem Schicksal.
Die Haltung der aktiven Demut hingegen, die eine eigene Form des Mutes erfordert, erkennt in der Armut und Schwäche und im Ausgeliefertsein der Benachteiligten und Zukurzgekommenen die eigene Ungesichertheit gegenüber der nichtkontrollierbaren Schicksalsmacht im eigenen Leben.
Diese Haltung, wenn sie aktiv übernommen wird, wirkt sich nicht nur auf Einstellungen, sondern auch auf Handlungen aus. Sobald sie mehr gesellschaftliches und politisches Gewicht bekommt, wären die notwendige Weiterentwicklung des Sozialstaates, bzw. die Rücknahme von Maßnahmen im Sozialabbau unumgänglich. Noch ist offenbar die kritische Masse nicht entstanden, noch haben zu wenige Menschen die Bewusstheit für die aktive Demut in sich aufgebaut und stabilisiert. „Zweck an sich“ sind wir nur, wenn wir diese Einstellung und Haltung der aktiven Demut mühelos und entspannt einnehmen und öffentlich vertreten können.
Eine Geschichte zum Thema
Eine chic gekleidete Frau ging am Gehsteig an einem Eierhändler vorbei, der vor sich ein paar Körbe mit Hühnereiern feilbot. Sie fragte ihn: „Für wieviel verkaufen Sie die Eier?“ Der alte Händler antwortet: „25 Cent für ein Ei, gnädige Frau.“
Sie sagte: „Ich nehme 6 Eier für 1 Euro 25, oder gar nichts.“
Der Händler antwortete: „So nehmen Sie die Eier doch, zu dem Preis, den Sie wollen. Vielleicht ist das ein guter Beginn, ich habe heute sonst noch nichts verkauft.“
Sie nahm die Eier mit dem Gefühl, gewonnen zu haben, und ging. Sie stieg in ihren Schlitten und fuhr in ein In-Restaurant mit ihrer Freundin. Dort bestellten sie, was ihnen schmeckte, aßen wenig davon und ließen viel übrig. Dann verlangte sie die Rechnung, die 45 Euro betrug. Sie gab dem Kellner 50 Euro und sagte ihm, er solle gerne den Rest als Trinkgeld behalten.
Warum zeigen wir häufig, dass wir die Macht haben, wenn wir etwas von Bedürftigen kaufen? Und warum tun wir bei Leuten, die es gar nicht brauchen, so großzügig?
(Quelle: Im Internet gefunden)
Zum Weiterlesen:
Demut und Mitmenschlichkeit
Passive und aktive Demut
Demut als spirituelle Haltung
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