Montag, 19. Dezember 2016

Wer die Würde nicht respektiert, verliert seine eigene

Albert Schweitzer schreibt: "Wer die Würde der Tiere nicht respektiert, kann sie ihnen nicht nehmen, aber er verliert seine eigene."

Wir sollten damit beginnen, das Zitat auf die Menschen zu übertragen: "Wer die Würde eines Menschen nicht respektiert, kann sie ihm nicht nehmen, aber er verliert seine eigene." Manchen mag es leichter fallen, die Würde von Tieren als die von Menschen zu respektieren, und das sind Menschen, denen von Menschen mehr angetan wurde als von Tieren. Doch zeigt sich gerade an diesem Beispiel, dass wir zunächst unseren Artgenossen, uns selbst, die Würde zukommen lassen müssen, die uns gebührt.

Die Würde des Menschen bezieht sich auf seine persönliche Integrität, auf sein Menschsein. Jeder Mensch verfügt darüber kraft seiner Geburt und Abstammung von anderen Menschen, kraft seiner Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht.

Dazu gibt es keine Alternative, wie wir keine Alternative darin haben, Menschen zu sein. Darum hat diese Würde einen absoluten Stellenwert, der nicht durch relative Annahmen außer Kraft gesetzt werden kann. Es wurde zwar immer wieder Menschen die Würde abgesprochen, weil sie einer bestimmten Gesellschaftsschicht, Kaste, Religion, Ideologie zugehörig waren, weil sie sich ein Fehlverhalten zuschulde kommen ließen oder weil sie an einer Behinderung litten. Der Status der Würde kann jedoch nicht an bestimmte Leistungen oder Eigenschaften gebunden werden, sondern besteht unbedingt; sonst hat der Begriff keinen Sinn: Menschen sprechen sich selbst das ab, was sie sind.


Entwürdigung als Folge von Ideologien


Alle Versuche, anderen Menschen ihre Würde abzusprechen, - und deren gibt es jede Menge im wechselhaften Lauf der Geschichte - sind leicht durchschaubare Machtaktionen: Wer keine Würde hat, kann von der Teilhabe am vorhandenen Reichtum ausgeschlossen werden. Wird der Kreis der Würdenträger kleiner, bleibt für jeden Würdigen mehr. Wer im Zentrum bleibt, hat den Überblick und Einblick in die ertragreichen Lebensmöglichkeiten. Die, die an den Rand gedrängt werden, sollen sich mit den Brotsamen begnügen.

Wie auch immer Abstufungen der Würde begründet und legitimiert werden, stets ist die Triebkraft Willkür und Selbstsucht. Jede Würdeverminderung, die einzelnen Menschen oder Menschengruppen zugeordnet wird, bringt denjenigen, die solche Festlegungen einführen, immanente Vorteile. Diejenigen, die auf diese Weise die Macht für sich reservieren, leben unverfroren auf Kosten von anderen.

Um die Ausbeutung von Menschen durch Menschen plausibel zu machen, braucht es eine Ideologie, die etwa festlegt, dass die Abstammung oder der Besitz von Gütern den Grad der Würde bestimmt. Umgekehrt zeigt sich, dass Ideologien immer auch den Sinn haben, Menschen mit unterschiedlichen Graden an Würde auszustatten. Sie sollen verständlich machen, warum es bessere und schlechtere Exemplare der Menschengattung gibt, die entsprechend dem Grad ihrer Güte am gesellschaftlichen Austausch beteiligt werden und Chancen zugeteilt oder entzogen bekommen.

Im Lauf der Bewusstseinsevolution haben sich die Ideologien gewandelt, je nach den Erfordernissen der jeweilig vorherrschenden Ängste. Zugleich finden sich auf jeder Stufe auch Gegenkräfte, die zur Befreiung aufrufen und die Unterschiede im Zusprechen von Würde aufheben wollen. Auf der personalistischen Stufe erst wird verstanden, dass Würde untrennbar mit Person verbunden ist: die Idee der Menschenrechte wird geboren.

Gleichzeitig wird auch der Schaden und die Ungerechtigkeit einsichtig, die durch das willkürliche Absprechen und Zuteilen von Würde in der Menschheitsgeschichte angerichtet wurde und wird. Allerdings richtet sich die Wut der Unterdrückten zunächst gegen die Unterdrücker, sodass diesen dann erst wieder die Würde abgesprochen wird. Deshalb enden viele Revolutionen, die sich die Befreiung von Unterdrückung auf die Fahnen geheftet hatten, in neuen Unterdrückungssystemen. Wo immer Gewalt gegen Menschen ins Spiel kommt, wird die Würde missbraucht. Deshalb waren die im 20. Jahrhundert auftauchenden Formen des gewaltfreien Widerstandes so besonders eindrucksvoll und zukunftsweisend, um den Kreislauf der Entwürdigung aufzubrechen.


Das Ende der Entwürdigung


Auf der systemischen Bewusstseinsstufe können wir erkennen, dass wir nur dann reibungsfreie, gewinnbringende und kreativitätsfördernde Austauschprozesse schaffen können, wenn die Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit der daran Beteiligten außer Streit steht. Menschenverachtende Ideologien müssen dabei ausgeschlossen bleiben. Das menschliche Potenzial zur Problemlösung und Lebensverbesserung kann sich dort am besten entfalten, wo Menschen auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung miteinander interagieren.

Wenn wir den Schritt zum holistischen Bewusstsein weiterschreiten, kommt ein weiteres Motiv dazu, das Albert Schweitzer in dem obigen Zitat mitbedacht hat. Würde, die wir anderen Menschen absprechen, nehmen wir uns selbst weg. Wir wollen uns über andere erheben und unser Ego mit dieser Überlegenheit füttern. Wir machen unser eigenes Selbstgefühl von der Minderheit anderer abhängig, unser Wert hängt am Unwert anderer.

In dieser Perspektive schaden sich die, die an der Entwürdigung gewinnen, selbst und leiden im Grunde mehr an sich, als jene, die die Unterdrückung erleiden müssen. Denn diese behalten ihre innere Würde, auch wenn sie ihnen im Außen abgesprochen wird. Wer anderen ihre Würde nicht zugestehen kann, nimmt sie sich selber weg. Er verfügt über keine Selbstachtung, weil er das Menschliche, das er am anderen ablehnt, in sich selber nicht annehmen kann. Während für den anderen eine würdelose Identität konstruiert wird, wird die eigene Identität ein Teil davon. Der überhebliche Stolz, der in der Entwürdigung anderer liegt, ist so weit von der Würde entfernt wie die Eigenschaften, wegen derer anderen die Würde abgesprochen wird. Entwürdigen macht würdelos.

Wem die Würde verweigert wird, wer also keinen Respekt und keine Achtung bekommt, leidet an dieser Form der Entmenschlichung und den damit verbundenen Nachteilen und Ungerechtigkeiten. Zugleich ist klar, wo die Ursache des Leidens liegt: An überheblichen Menschen und an Strukturen, die diese Haltungen erzeugen und stabilisieren. Wer die Würde verweigert, fühlt sich aufgrund seiner Ideologie im Recht und merkt nicht, wie er damit seine eigene Integrität ruiniert.


Die ganzheitliche Sicht


Der Schritt ins holistische Bewusstsein erfordert die radikale Sicht auf diese Zusammenhänge: Jede Form der Lieblosigkeit ist neben dem Schaden, den sie in der Welt und bei anderen Menschen anrichtet, eine Form der Selbstschädigung. Es gibt keinen essentiellen Unterschied zwischen mir und meinem Nächsten. Was ich ihm gebe, gebe ich mir, was ich ihm vorenthalte oder abspreche, enthalte ich mir vor und spreche mir ab. In dem Maß, wie ich andere als unwert, dumm, unfähig oder böse halte, bin ich es selber.

Im holistischen Bewusstsein geht es nicht darum, immer lieb und nett zu sein, zu sich und zu anderen, und darum, alles lieb und nett zu finden, was sich abspielt. Vielmehr geht es um die Erkenntnis der Verbundenheit von allem mit allem und um die Übernahme der Verantwortung, die damit einhergeht. Nicht alles in der Welt ist lieb und nett, nicht jeder handelt aus dem Bewusstsein seiner Eigenwürde heraus, und diese menschlichen Schwächen gehören erkannt, benannt und rückgemeldet. Denn wir alle haben Teil an diesen Schwächen und brauchen die anderen, damit sie behoben werden können. Wir müssen Formen der Zusammenarbeit mit den anderen finden, die dazu führen, dass die Vorgänge der Entwürdigung in der Welt geringer werden und mehr Anerkennung von Würde stattfindet.

Das ist der eine Teil der Verantwortung, die wir für die Aufrechterhaltung der Würde in der Welt tragen.

Der andere Teil besteht darin, dass wir achtsam mit uns selber sind und uns unsere Tendenzen zur Entwürdigung bewusst machen. Wann immer wir an anderen etwas abwerten, werten wir uns selber ab. Wo wir anderen ihre Würde nicht zugestehen, entwürdigen wir uns selber. In dem Maß, in dem wir hingegen anderen ihre Würde zusprechen und stärken, wenn sie den Zugang dazu verloren haben, in dem Maß unterstützen wir unsere eigene Würde. An Würde zu wachsen erleichtert uns im Gegenlauf, die mit der Würde verbundene doppelte Verantwortung wahrzunehmen.

Das holistische Bewusstsein greift noch weiter. Es begnügt sich in seinem Anspruch nicht mit der Sphäre des Menschlichen. Das Zitat von Schweitzer ist ja auf diesen weiteren Horizont gemünzt: Würde kommt dem Leben überhaupt zu, dem tierischen wie dem menschlichen, und beide Bereiche sind ineinander verschränkt, sodass eine Nichtachtung des Tierischen auf den Menschen, der ja allein der Respektlosigkeit mächtig ist, schädlich zurückschlägt.

Über die Kreise des Lebendigens hinaus gilt das Zusprechen der Würde mit allen daraus resultierenden Konsequenzen dem Kosmos als ganzem. Also allem, was es gibt, sollen wir würdevoll und würdegebend begegnen, dann sind wir im rechten Verhältnis zu uns und zu allem um uns herum und nur dann tragen wir das Unsere dazu bei, dass diese Ordnung des Guten erhalten bleibt.

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