Kinder sind zunächst immer Opfer, weil ihnen die Alternativen im Erleben, Interpretieren und Handeln fehlen. Sie kommen mit einem intuitiven Wissen auf die Welt, sie sie sein sollte, damit sie gut gedeihen und aufwachsen können: Zwei sich liebende Eltern, die ihre Liebe dem Kind schenken, das sie aus vollem Herzen bejahen und willkommen heißen. Fehlen einige dieser Elemente oder gibt es einen Mangel an Liebe, dann leidet das Kind und muss sich an die vorgegebenen Möglichkeiten anpassen. Es nimmt an, dass es an der eigenen Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit liegt, dass es nicht bekommt, was es bräuchte, dass also die Bedürfnisse nicht adäquat gestillt werden. Folglich glaubt das Kind, dass seine Bedürfnisse nicht stimmen und dass es sich verändern muss, um zumindest einen Teil der Bedürfnisse befriedigen zu können.
Obwohl das Kind glaubt, dass es selber
schuld an der Misere ist, dass es selber in der Täterrolle ist, entspricht das
nicht dem ganzen Bild. Dieser Glaube stammt aus der Anpassungsreaktion des
Kindes und aus der unbedingten Liebe, die es den Eltern gegenüber empfindet. Es
zieht den Schluss: Eltern, zu denen die ganze Liebe fließt, können nichts falsch
machen, der Fehler muss bei ihm selbst liegen.
Von außen betrachtet ist hingegen klar,
dass das Kind Opfer der Umstände ist: Opfer der Unvollkommenheiten oder,
therapeutisch formuliert, der Traumatisierungen der Eltern. Es kann nichts
dafür, dass die Eltern selber eine schwere Kindheit hatten, selber Opfer von
emotionalen Mängeln und Verletzungen, und dass sie deshalb mangelhaft und verletzend
mit dem Kind umgehen.
Desillusionierung
Die Entzauberung des Glaubens an die Täterrolle
ist ein wichtiger Teil jeder Innenerforschung und therapeutischen Arbeit. Mit
der Verabschiedung der Täterschaft melden sich die Gefühle von Hilflosigkeit,
Bedürftigkeit und Ohnmacht, die aus der Position des Opfers kommen, die zum
Kind und zu seiner Unschuld gehört. Es gilt, das Schamvolle dieser Position
anzunehmen, um zu verstehen, was ihr Preis war. Es gilt zu erkennen, dass das
Kind keine Alternative hatte und gezwungen war, sich anzupassen, indem die
eigenen Bedürfnisse zurückgestellt wurden.
Entzaubert werden in diesem Prozess auch
die Eltern, die von den Kindern häufig über viele Jahre auf einem Podest
verbleiben und verehrt werden. Die Aufrechterhaltung eines Glorienscheins um
die Eltern („Ich hatte die besten Eltern der Welt“) dient der Schamvermeidung: Mit
so perfekten Eltern kann meine Kindheit nur perfekt gewesen sein. Würde ich mir
eingestehen, was alles gefehlt hat und was alles schlimm war, würde ich mich
meinen Eltern gegenüber nicht loyal verhalten und müsste sie anklagen. Außerdem
würde ich in Kauf nehmen, dass ich selber in vielen Bereichen mangelhaft bin.
Ich müsste mich also für meine Eltern und für mich selber schämen.
Gelingt dieser Prozess, so ersetzt eine
realistische Sichtweise die Illusionen und das Geflecht der Annahmen, die zum
Zweck der Anpassung an die ungünstigen Bedingungen aufgestellt wurden. Als
Kinder waren wir diesen Bedingungen ausgeliefert, ohne danach gefragt zu werden.
Wir haben unser Bestmögliches gegeben, um unter diesen Umständen einigermaßen heil
zu überleben, haben unsere Wunden und Schrammen daraus mitgenommen und tragen
heute, als Erwachsene, die Verantwortung dafür. Unsere Eltern waren haben das
gegeben, was sie geben konnten, und es war in vielen Fällen zu wenig. Dennoch
und trotzdem ist aus uns etwas geworden, durch das, was wir von den Eltern
bekommen haben, und durch das, was wir uns selber erschaffen haben. Wir waren
ursprünglich die Opfer in der Konstellation, die wir vorgefunden haben. Wir sind
vielleicht da und dort später in unserem Leben zu Tätern geworden, um der
Scham, die mit der Opferrolle verbunden ist, zu entkommen. Dafür tragen wir die
Verantwortung. Nachdem wir diese Zusammenhänge verstanden haben und die damit
verbundenen Gefühle angenommen haben, können wir uns aus allen Opfer- und
Täterrollen verabschieden und ganz zu unserer Kraft stehen.
Sollten wir uns je nochmals als Opfer
fühlen, können wir uns daran erinnern, dass wir gerade unser Kindheitsschicksal
abspulen und dass wir die freie Wahl haben, diesen alten Film zu beenden und
unsere erwachsene Klarheit und Aufgerichtetheit leben können.
Die Opferhaltung in der Pandemie
Wenn wir Opfer von widrigen Umständen werden,
die wir nicht beeinflussen können, fühlen wir uns frustriert, geschwächt und
ohnmächtig. Die Pandemie beispielsweise hat viele Menschen mit dieser Erfahrung
konfrontiert: Die eigenen Absichten und Pläne wurden durchkreuzt, Einkommensquellen
sind versiegt, Jobs wurden gekündigt. Die Betroffenen konnten selber nichts dagegen
machen.
Wenn wir zum Opfer der Übermacht anderer
Menschen werden, geht es uns ähnlich, und zu den Ohnmachtsgefühlen können noch
Gefühle der Demütigung kommen. Auch hier gibt es viele Beispiele im
Zusammenhang mit Corona. Sobald wir die Einschränkungen und Rückschläge nicht
als notwendige Konsequenzen interpretieren, um überall wirksame Dynamiken (die Ausbreitung
von Viren) einzudämmen, sondern als willkürlich gesetzte Maßnahmen, für die
einzelne Menschen verantwortlich zeichnen, tritt ein Gefühl der persönlichen
Verletzung und Herabwürdigung dazu. Im ersten Fall richtet sich unsere
Handlungsfähigkeit auf einen flexiblen und kreativen Umgang mit der
herausfordernden Situation aus, und wir überwinden damit die Ohnmacht. Im
zweiten Fall zielt unsere Aktivität darauf, die erlittene Demütigung durch Widerstands-
oder Rachehandlungen zu kompensieren. Ziel der Aktionen ist es, aus einer
Scham- in eine Stolzposition zu gelangen. Die verlorene Kontrolle, die zur
Ohnmachtserfahrung geführt hat, wird wiedererlangt, indem Täter und Schuldige
ausfindig gemacht und bekämpft werden können.
Doch bleiben wir in der Opfer-Täter-Dynamik gefangen, solange wir uns in einer Ohnmachtsposition erleben. Frei werden wir nur, wenn wir uns von beiden Rollen distanzieren und unseren Weg mit unseren Kräften weiterverfolgen, was auch immer die Herausforderungen sind, die sich in den Weg stellen. Im Grund gibt es nur eine Herausforderung, der wir nicht auf Augenhöhe begegnen können, und das ist der Tod. Von allem, was vorher passiert, brauchen wir nicht von unserer Eigenmächtigkeit abbringen lassen.
Zum Weiterlesen:
Der Stolz der Opfer
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Der Opferstolz in Beziehungen
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle
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