Montag, 21. Juni 2021

Die Ursprünge der Opferrolle

Kinder sind zunächst immer Opfer, weil ihnen die Alternativen im Erleben, Interpretieren und Handeln fehlen. Sie kommen mit einem intuitiven Wissen auf die Welt, sie sie sein sollte, damit sie gut gedeihen und aufwachsen können: Zwei sich liebende Eltern, die ihre Liebe dem Kind schenken, das sie aus vollem Herzen bejahen und willkommen heißen. Fehlen einige dieser Elemente oder gibt es einen Mangel an Liebe, dann leidet das Kind und muss sich an die vorgegebenen Möglichkeiten anpassen. Es nimmt an, dass es an der eigenen Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit liegt, dass es nicht bekommt, was es bräuchte, dass also die Bedürfnisse nicht adäquat gestillt werden. Folglich glaubt das Kind, dass seine Bedürfnisse nicht stimmen und dass es sich verändern muss, um zumindest einen Teil der Bedürfnisse befriedigen zu können.

Obwohl das Kind glaubt, dass es selber schuld an der Misere ist, dass es selber in der Täterrolle ist, entspricht das nicht dem ganzen Bild. Dieser Glaube stammt aus der Anpassungsreaktion des Kindes und aus der unbedingten Liebe, die es den Eltern gegenüber empfindet. Es zieht den Schluss: Eltern, zu denen die ganze Liebe fließt, können nichts falsch machen, der Fehler muss bei ihm selbst liegen.

Von außen betrachtet ist hingegen klar, dass das Kind Opfer der Umstände ist: Opfer der Unvollkommenheiten oder, therapeutisch formuliert, der Traumatisierungen der Eltern. Es kann nichts dafür, dass die Eltern selber eine schwere Kindheit hatten, selber Opfer von emotionalen Mängeln und Verletzungen, und dass sie deshalb mangelhaft und verletzend mit dem Kind umgehen.

Desillusionierung

Die Entzauberung des Glaubens an die Täterrolle ist ein wichtiger Teil jeder Innenerforschung und therapeutischen Arbeit. Mit der Verabschiedung der Täterschaft melden sich die Gefühle von Hilflosigkeit, Bedürftigkeit und Ohnmacht, die aus der Position des Opfers kommen, die zum Kind und zu seiner Unschuld gehört. Es gilt, das Schamvolle dieser Position anzunehmen, um zu verstehen, was ihr Preis war. Es gilt zu erkennen, dass das Kind keine Alternative hatte und gezwungen war, sich anzupassen, indem die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt wurden.

Entzaubert werden in diesem Prozess auch die Eltern, die von den Kindern häufig über viele Jahre auf einem Podest verbleiben und verehrt werden. Die Aufrechterhaltung eines Glorienscheins um die Eltern („Ich hatte die besten Eltern der Welt“) dient der Schamvermeidung: Mit so perfekten Eltern kann meine Kindheit nur perfekt gewesen sein. Würde ich mir eingestehen, was alles gefehlt hat und was alles schlimm war, würde ich mich meinen Eltern gegenüber nicht loyal verhalten und müsste sie anklagen. Außerdem würde ich in Kauf nehmen, dass ich selber in vielen Bereichen mangelhaft bin. Ich müsste mich also für meine Eltern und für mich selber schämen.

Gelingt dieser Prozess, so ersetzt eine realistische Sichtweise die Illusionen und das Geflecht der Annahmen, die zum Zweck der Anpassung an die ungünstigen Bedingungen aufgestellt wurden. Als Kinder waren wir diesen Bedingungen ausgeliefert, ohne danach gefragt zu werden. Wir haben unser Bestmögliches gegeben, um unter diesen Umständen einigermaßen heil zu überleben, haben unsere Wunden und Schrammen daraus mitgenommen und tragen heute, als Erwachsene, die Verantwortung dafür. Unsere Eltern waren haben das gegeben, was sie geben konnten, und es war in vielen Fällen zu wenig. Dennoch und trotzdem ist aus uns etwas geworden, durch das, was wir von den Eltern bekommen haben, und durch das, was wir uns selber erschaffen haben. Wir waren ursprünglich die Opfer in der Konstellation, die wir vorgefunden haben. Wir sind vielleicht da und dort später in unserem Leben zu Tätern geworden, um der Scham, die mit der Opferrolle verbunden ist, zu entkommen. Dafür tragen wir die Verantwortung. Nachdem wir diese Zusammenhänge verstanden haben und die damit verbundenen Gefühle angenommen haben, können wir uns aus allen Opfer- und Täterrollen verabschieden und ganz zu unserer Kraft stehen.

Sollten wir uns je nochmals als Opfer fühlen, können wir uns daran erinnern, dass wir gerade unser Kindheitsschicksal abspulen und dass wir die freie Wahl haben, diesen alten Film zu beenden und unsere erwachsene Klarheit und Aufgerichtetheit leben können.

Die Opferhaltung in der Pandemie

Wenn wir Opfer von widrigen Umständen werden, die wir nicht beeinflussen können, fühlen wir uns frustriert, geschwächt und ohnmächtig. Die Pandemie beispielsweise hat viele Menschen mit dieser Erfahrung konfrontiert: Die eigenen Absichten und Pläne wurden durchkreuzt, Einkommensquellen sind versiegt, Jobs wurden gekündigt. Die Betroffenen konnten selber nichts dagegen machen.

Wenn wir zum Opfer der Übermacht anderer Menschen werden, geht es uns ähnlich, und zu den Ohnmachtsgefühlen können noch Gefühle der Demütigung kommen. Auch hier gibt es viele Beispiele im Zusammenhang mit Corona. Sobald wir die Einschränkungen und Rückschläge nicht als notwendige Konsequenzen interpretieren, um überall wirksame Dynamiken (die Ausbreitung von Viren) einzudämmen, sondern als willkürlich gesetzte Maßnahmen, für die einzelne Menschen verantwortlich zeichnen, tritt ein Gefühl der persönlichen Verletzung und Herabwürdigung dazu. Im ersten Fall richtet sich unsere Handlungsfähigkeit auf einen flexiblen und kreativen Umgang mit der herausfordernden Situation aus, und wir überwinden damit die Ohnmacht. Im zweiten Fall zielt unsere Aktivität darauf, die erlittene Demütigung durch Widerstands- oder Rachehandlungen zu kompensieren. Ziel der Aktionen ist es, aus einer Scham- in eine Stolzposition zu gelangen. Die verlorene Kontrolle, die zur Ohnmachtserfahrung geführt hat, wird wiedererlangt, indem Täter und Schuldige ausfindig gemacht und bekämpft werden können.

Doch bleiben wir in der Opfer-Täter-Dynamik gefangen, solange wir uns in einer Ohnmachtsposition erleben. Frei werden wir nur, wenn wir uns von beiden Rollen distanzieren und unseren Weg mit unseren Kräften weiterverfolgen, was auch immer die Herausforderungen sind, die sich in den Weg stellen. Im Grund gibt es nur eine Herausforderung, der wir nicht auf Augenhöhe begegnen können, und das ist der Tod. Von allem, was vorher passiert, brauchen wir nicht von unserer Eigenmächtigkeit abbringen lassen. 

Zum Weiterlesen:
Der Stolz der Opfer
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Der Opferstolz in Beziehungen
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle

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