Sonntag, 27. Juni 2021

Der Stolz der Opfer

Der Opferstolz ist ein verstecktes und geheimnisvolles Gefühl, vom Unbewussten gesteuert und zumeist auch dort verwahrt. Geraten wir in eine Opferposition, so gesellt sich sogleich ein Schamgefühl dazu. Denn jede Opfersituation ist beschämend: Wir sind unterlegen und werden in unserem Selbstwert nicht geachtet. Umgekehrt gilt auch: Jede Beschämungserfahrung führt in eine Opferposition. Es tut sich ein Machtgefälle auf, in dem der Täter die Kontrolle über die Situation hat und das Opfer ausgeliefert und hilflos ist. Das kann soweit gehen, dass das Opfer bis zur Ohnmacht und in eine innere Erstarrung gerät. Es entsteht ein tiefsitzendes Trauma, während der Täter als übermächtig und bestimmend erfahren wird. Emotionaler, physischer und sexueller Missbrauch, den viele Kinder erdulden müssen, ist eine schwer beschämende und traumatisierende Erfahrung. Es ist bei solchen Taten so, als würde beim Opfer jeder Stolz ausradiert und die Würde in den Schmutz gezogen. Die Schwere der Schambelastung verhindert es, in eine ausgleichende, kompensierende Position zu kommen, in der sich ein Funken Stolz melden könnte. Denn die Scham füllt die Seele aus. 

Der Stolz kann sich nachträglich bilden, wenn klar wird, dass es gelungen ist, trotz der Opferrolle zu überleben. Bei schweren Missbrauchserfahrungen erfordert es viel Mühe, diese Erkenntnis ins Bewusstsein zu rufen, denn die aus den Erfahrungen entstandenen Belastungen wirken sich hemmend auf alle Lebensbereiche aus und lassen das eigene Leben eher als Qual denn als Quelle von Zufriedenheit erscheinen. Meist braucht es eine kompetente therapeutische Begleitung, damit die Selbstsicherheit zurückkommen kann und sich langsam die Würde aufrichtet und ein Quäntchen Stolz entsteht, trotz der schwierigen Anfangsbedingungen zu einem eigenständigen Leben gefunden zu haben.

Diese Form des Stolzes bringt den Selbstwert wieder ins Gleichgewicht. Was in der beschämenden Tat zerstört wurde, darf innerlich heilen. Jeder Schritt bei diesem Prozess, der das eigene Leben erleichtert, erlaubt ein Stück mehr Stolz. Er hilft, das eigene Schicksal anzunehmen, positiv zu deuten und kraftvoll die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen.

Der toxische Opferstolz

Zum Unterschied vom Stolz der Traumaopfer, die ihre Erfahrungen bearbeitet haben, gibt es eine Form des Stolzes, die unbewusst regiert und bei weniger intensiven Beschämungserfahrungen mitspielt. Er entsteht dann, wenn die Entwicklung des Selbstgefühls und der inneren Stabilität weiter gediehen ist, als es bei den ganz frühen Traumatisierungen der Fall ist. Es handelt sich um einen Kompensationsvorgang, der in der Seele abläuft, um das in Mitleidenschaft gezogene Selbstgefühl zu verbessern.

Dieser Opferstolz unterscheidet sich von dem klaren und bewussten Stolz, der als Resultat eigener Anstrengungen in der Bewusstseinsarbeit auftritt. Der unbewusste Opferstolz hält an der Opferrolle fest und will daraus einen sekundären Gewinn erzielen. Die Opferrolle scheint unentrinnbar, also gilt es, das Beste aus der misslichen Situation zu machen. Nach der Tat und nach der Überwindung des Schocks wird das Geschehen bewertet und die Täterperson wird angeklagt, verurteilt und verachtet. Es geht bei dieser Dynamik um den Ausgleich des Selbstwertes. Das Machtgefälle, das zwischen Täter und Opfer entstanden ist, wird durch ein moralisches Gefälle ersetzt, in dem der Täter unten und das Opfer oben ist. Es hat jetzt die Kontrolle über die Beziehung, denn der Täter kommt aus seiner moralisch unterlegenen Position nur heraus, wenn ihm das Opfer verzeiht.

In einem weiteren Schritt werden Verbündete gesucht, die Verständnis und Unterstützung geben und bei der Verurteilung und Verachtung des Täters mitwirken. Diese Menschen werden zwar eingeladen, indirekt die Opferposition zu unterstützen, sie führen aber das Opfer auch wieder zur eigenen Kraft zurück und vermitteln ihm die Zugehörigkeit und die soziale Sicherheit, Grundbedürfnisse, die in der Opfererfahrung missachtet wurden. 

Je mehr Menschen das Opfer mit der eigenen Opfergeschichte befasst, desto mehr wächst der Stolz. Diese Form des Stolzes bleibt allerdings an den Opferstatus gebunden, solange sie sich aus der aggressiven Anklage gegen den Täter nährt. Der unbewusste Opferstolz, der das moralische Gefälle zum Täter errichtet, beinhaltet selber einen Täteraspekt. Das erklärt seine kompensatorische, also seelisch ausgleichende Wirkung. Indem aber das Unbewusste Regie führt, bleibt die innere Ambivalenz aufrecht und schwankt zwischen Opferscham und Opferstolz.

Die Konkurrenz der Opfer

Manchmal entwickelt sich eine Konkurrenz im Opferstolz unter den Kollegen und Freunden, mit denen die Opfererfahrung geteilt wird: Wer hat am meisten gelitten, wer wurde am stärksten gedemütigt und beschämt? Manche Menschen spielen die eigene Opfererfahrung in den Vordergrund, im Bestreben, Verständnis für das Opfer zu zeigen. Statt des stärkenden Effekts der Solidarität und des Mitgefühls kommt es zu einer Aneinanderreihung von Leidenserfahrungen, mit dem heimlichen Ziel, einander zu übertreffen, damit schließlich die eigene Opferrolle den Sieg davonträgt, nach dem Motto: Ich bin noch viel traumatisierter als du. 

Die Konkurrenten um den Opferstatus berauben sich in dieser Dynamik der Kräftigung, die im Solidarisieren und Mitfühlen gewonnen werden kann. Stattdessen wird die Täter-Opferdynamik auf die Suche nach Unterstützung und Heilung übertragen: Wer verdient am meisten Bestätigung für das eigene Leid? Wer trägt die größere Opferlast? Wird die eigene Opferlast nicht ausreichend anerkannt, entsteht sogleich wieder eine Opferposition, und die andere Person gerät in die Täterrolle; diese hingegen kann den Vorgang spiegelgleich wahrnehmen.

Der Opferstolz verhindert auf diese Weise den Weg zur eigenen Kraft und schlägt sich auf die Seite des Konkurrenzierens, bei dem jeder lieber Täter als Opfer ist, weil damit die moralische Rechtfertigung gesichert werden kann. Es wird aber bei dieser Form des Wettlaufes keinen Sieger geben, vielmehr bleiben alle Beteiligten am Schluss als Verlierer übrig.

Erinnerungskonformität

Eine andere Spielart des Opferstolzes zeigt sich im Übernehmen und Anhäufen von Opfersituationen, ein Vorgang, den man den additiven Opferstolz nennen könnte. Er entsteht aus dem Mechanismus der Erinnerungskonformität. Vor allem in Selbsterfahrungsgruppen, aber auch in anderen Kommunikationssituationen gibt es das Phänomen, dass traumatische Themen durch das Mitteilen von einer Person auf andere überspringen. Es erzählt jemand von einer Missbrauchserfahrung, und bei jemand anderem, der zuhört, entsteht plötzlich das Gefühl, selber auf diese Weise missbraucht worden zu sein. Erst eine genaue Innenerforschung wird ergeben, ob hier eine im Unterbewusstsein abgespeicherte Erinnerung aufgetaucht ist oder ob es sich um ein Beispiel für Erinnerungskonformität handelt: dem Bestreben, sich mitfühlend zu zeigen, indem die Erfahrung, von der gesprochen wird. in die eigene Geschichte eingebaut wird. Wir zeigen uns als jemand, der versteht, wenn wir sagen können: Ja, das habe ich auch erlebt. Wir geben der anderen Person das Gefühl, nicht alleine mit dieser Erfahrung zu sein. 

Allerdings sollten wir achtsam sein, weil wir der anderen Person ihre Geschichte und die damit verbundene Last wegnehmen könnten, indem wir unsere eigene Geschichte in den Vordergrund spielen. Die oben besprochene Konkurrenz um den höchsten Opferstatus kann immer auch mitspielen. Unser Unbewusstes ist so trickreich, dass es in der Lage ist, Traumatisierungen zu erfinden, um die eigentlichen Traumaerfahrungen vor der Aufdeckung schützen zu kommen. 

Wir wollen uns des Wohlwollens eines Gesprächspartners oder Gruppenteilnehmers versichern. Unser Unterbewusstsein erfindet zu diesem Zweck eine neue Traumageschichte, und wir fühlen uns der anderen Person näher und vertrauen ihr mehr. So verläuft der Vorgang der Erinnerungskonformität, der zur Ausprägung eines „falschen Gedächtnisses“ führen kann. 

Diese Falle unseres Unterbewussten sollten wir im Auge behalten, bevor wir uns aus Solidaritätsgründen zu multitraumatisierten Menschen erklären, denen jede Form des Missbrauchs geschehen ist und die noch dazu alle Traumatisierungsmöglichkeiten aus der pränatalen Zeit in sich tragen. Allerdings gibt es auch das Phänomen, dass Traumaerzählungen die eigene Traumaerinnerung anrührt und auf den Weg zu einem verdrängten Seelenanteil führt. Auch hier ist die Unterstützung durch eine erfahrene Begleitung unerlässlich, um zu unterscheiden, was Einbildung und was Realität in Hinblick auf die eigene Lebensgeschichte bedeutet.

Die Rückgewinnung der Verantwortung

Was wir aus den Erkenntnissen über den Opferstolz lernen können, ist die Rolle der Verantwortung in der Opfer-Täter-Dynamik. Das Opferdasein hat mit einem Verlust an Verantwortung zu tun. Die Fixierung auf die Opferrolle, wie sie durch den Opferstolz geschieht, führt dazu, dass die Verantwortung nicht wiedererrichtet und zurückgeholt wird. Die Selbststärkung durch den Opferstolz ruht auf schwachen und ambivalenten Fundamenten. 

Die Verantwortung wird alleinig beim Täter belassen. Als Folge bleibt die eigene Ohnmacht mit der Verantwortungslosigkeit verbunden. Sobald die beschämende und demütigende Situation des Opferseins durch eine aggressive Grenzüberschreitung vorbei ist, geht der Weg der bewussten Verarbeitung über die Rückholung der Verantwortung und damit der eigenen Kraft. Wo dies nicht geschieht, und das ist in der Regel bei allen derartigen Kindheitserfahrungen der Fall, sucht die Seele Wege zur Kompromissbildung, von denen der Opferstolz eine Form darstellt. 

Kompromiss bedeutet, dass die Opferhaltung beibehalten wird, aber durch den Gewinn aus der Haltung ein Stück ausgeglichen wird und damit das Über- und Weiterleben erträglicher macht. Solange das Opfer an der eigenen Opferrolle festhält, verbleibt auch der Täter in der Fantasie des Opfers in seiner Rolle, und behält weiterhin seine Macht.

Erst wenn es gelingt, die Machtthemen aus der Erfahrung herauszufiltern – die aggressive Macht des Täters und die moralische Macht des Opfers –, öffnet sich ein Ausweg aus der Verstricktheit. Die Erfahrung der Demütigung wird bewusst angenommen, die praktischen Konsequenzen für die Beziehung zur Täterperson werden bewusst gezogen und die eigene Würde wird voll in ihr Recht gesetzt. Für die eigene Lernerfahrung wird die Verantwortung übernommen. Die Täterperson wird im eigenen Inneren entmachtet. Die unangenehme Erfahrung kann in die Vergangenheit verabschiedet werden, und die eigene Lebensverantwortung wird voll übernommen.

Das Kontinuum zwischen Opfer- und Täterrollen

In einem weiteren Kontext kann sich jedes Opfer einer Grenzüberschreitung für die Erkenntnis öffnen, dass jeder Täter einmal selber Opfer war und aus dieser Erfahrung heraus in die Täterrolle geraten ist. Daraus folgt auch, dass aus jeder eigenen Opfererfahrung eine Form des Opferstolzes und über diese eine eigene Form der Täterrolle entstanden ist. Es gibt also ein Kontinuum, das von der Opferscham über den Opferstolz zum Täter führt. Die Täterrolle enthält selbst wiederum einen Scham- und einen Stolzanteil. Der einzig sinnvolle Gewinn aus diesen Einsichten ist die Vermehrung und Vertiefung der eigenen Bewusstheit.

In dieser Perspektive geht es nicht um ein Gefälle, sei es zwischen Macht und Ohnmacht oder zwischen Moral und Bosheit, sondern um die Einsicht in die Vielschichtigkeit des Menschlichen. Wir alle kennen Opfer- und Täterrollen und die mit ihnen verbundenen Gefühle von Scham und Stolz.

Zum Weiterlesen:
Die Ursprünge der Opferrolle
Der Opferstolz in Beziehungen
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle


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