Donnerstag, 22. März 2018

Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe

Kinder sorgen sich um das Wohl ihrer Eltern, von ganz früh an. Wir wissen, dass Föten ihrer Mutter Stammzellen zur Verfügung stellen, damit sie Mängel und Schäden im eigenen Organismus beheben kann. Dieser Zusammenhang, der in der Pränatalpsychologie als „umgekehrter Nabelschnuraffekt“ bekannt ist, äußert sich nach der Geburt darin, dass Kinder grundsätzlich dazu neigen, die Schuld bei sich zu suchen, wenn es auf der emotionalen Ebene zu Störungen zwischen ihnen und den Eltern kommt. Sie gehen davon aus, dass die Eltern immer im Recht sind, weil sie so groß, erwachsen und kompetent sind. Sie rechnen nicht damit, dass Eltern regredieren können, dass Erwachsene zu hilflosen Kindern werden können, die von anderen die Rettung aus ihrem Leid erhoffen.

Besonders, wenn die Eltern durch ihr aktuelles Leben, zu dem auch die Kinder gehören, überfordert sind, reagieren die Kinder mit dem Wunsch, es ihnen leichter zu machen. Sie schränken sich in ihren Bedürfnissen und Ansprüchen ein und schrauben ihre Spontaneität und Lebendigkeit zurück, um nicht zur Last zu fallen. Statt sich aus den eigenen inneren Antrieben heraus zu entwickeln und die eigenen Anlagen zu entfalten, passen sie sich an die Erwartungen der Eltern an. Die Persönlichkeit, die gerade beginnt an Konturen und Profil zu gewinnen, verbiegt sich, um in die Bedürfnisstrukturen der Eltern hineinzupassen.

Geburtsrechte und Grundbedürfnisse


Ursprünglich sind es die Eltern, die aus ihrer eigenen Unfähigkeit und aus der Beschränktheit ihrer Möglichkeiten den Kindern schuldig bleiben, was zu ihrem Geburtsrecht gehört: Dass ihre Grundbedürfnisse bedingungslos und möglichst konsistent erfüllt werden. Es geht nicht um eine lückenlose und bis ins letzte feinfühlige Versorgung und Zuwendung, sondern um eine verantwortungsvolle Einstellung, aus der heraus die Eltern wissen, dass es ihre Pflicht ist, für ihre Kinder und deren Bedürfnisse da zu sein und zu sorgen, so gut sie vermögen. So gut wie es eben möglich ist Eltern zu sein, kann immer wieder an Grenzen der Belastbarkeit heranführen, die auch respektiert werden müssen. Wenn dabei das Band der Liebe, das auch Belastungsgrenzen und kurzfristiges Scheitern überdauert, erhalten bleibt, lernen Kinder, dass Liebe wichtiger ist als Perfektion, und dass Schwächen zum Menschsein dazugehören.

Das Erleben der Grenzen der eigenen Möglichkeiten sollte getragen sein vom Verständnis, dass Kinder Kinder sind, also für ihre Gefühle und deren Regulation keine Verantwortung übernehmen können, bzw. die Übernahme dieser Verantwortung erst schrittweise im eigenen Tempo erlernen. Die Zuständigkeit für den Versorgungsmangel bleibt damit bei den Eltern, sie stehen grundsätzlich immer in der Schuld, und nie das Kind.

Wo dieses Gefühl für die eigene Verantwortung bei den Eltern aus welchen Gründen auch immer abhanden gekommen ist (meist spiegeln sich in solchen Schwächen die Mängel aus der eigenen Kindheit der Eltern), ohne dass die Eltern es merken, kann es leicht zu einer Rollenumkehr kommen, indem die Kinder die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen und sich selber damit überlasten und überanstrengen. Sie, die eigentlich das Opfer elterlicher Vernachlässigung sind, sehen ihre Eltern als Opfer ihrer übermäßigen kindlichen Bedürftigkeit, werden also in der eigenen Fantasie zu Tätern, die nun in der Pflicht stehen, ihre Schuld den Rest des Lebens abzuarbeiten. Oft entwickeln sich aus solchen verdrehten Abhängigkeitsbeziehungen lebenslange, von Schuldgefühlen geprägte Programme, den Eltern zu wenig zu geben, zu wenig für sie da zu sein und zu sorgen. Die Opfer sind zu schuldigen Tätern geworden, die die eigenen Eltern nur mehr als Opfer sehen können, denen jede Hilfe und Unterstützung gebührt und die dennoch nie genug ist.

Manche Eltern fügten sich völlig in die Rolle, die sie selber – nicht aus Bosheit, sondern aus selbst letztlich unverschuldeter Unfähigkeit – aufgebaut haben, indem sie ihren Kindern die Elternrolle über sie eingeräumt haben und zugelassen haben, dass die Kleinen sich mit den Aufgaben der Großen überlasteten. Sie gaben den Kindern die Botschaft – ausdrücklich oder indirekt –, dass sie das eigene Leben schwer oder unerträglich machten, sodass diese infolgedessen nicht anders konnten, als möglichst schnell Elternkompetenzen für ihre kindlichen Eltern zu entwickeln. Nicht selten führt das dazu, dass die Eltern in ihrer Opferrolle aufgehen und ihre erlernte Hilflosigkeit in körperliche Symptome übersetzen. Dann erst recht fühlen sich die Kinder gefordert, die Verantwortung für die Alten zu übernehmen. Das wird sie daran hindern, die Verantwortung fürs eigene Leben und für eine eigene Familie zu übernehmen.

Kinder in der Elternrolle entwickeln dazu noch eine ambivalente narzisstische Selbstüberschätzung. Sie schlüpfen gewissermaßen in übergroße Kleider und müssen ihr Inneres der Rolle anpassen. Sie können auch nicht anders, als sich als etwas Besonderes zu fühlen, weil sie Kompetenzen übernehmen, die nicht ihrem Alter entsprechen. Auf der Strecke bleiben viele kindliche Bedürfnisse. Statt dessen entwickelt sich ein ambivalentes Selbstbild: auf der einen Seite die Erfahrung als kleiner Erwachsener, der die Eltern stützen kann, auf der anderen Seite das Gefühl, es nie gut genug zu schaffen, weil der Anspruch nur zu einer riesengroßen Überforderung führen kann. Schuldgefühle werden zu einer lebenslangen Begleitmusik für ein belastetes Leben und erinnern daran, der angemaßten, aber aus der Not übernommenen Rolle nie voll gerecht werden zu können. Es bleibt immer etwas offen, es bleibt immer eine ungetilgte Schuld.

Verantwortung statt Schuld


Wie schon in den vorigen Blogartikeln zum Thema Täter-Opfer-Umkehr erläutert, liegt der Schlüssel, um aus der Falle der Anmaßung und Schuld zu entrinnen, in der Übernahme der Verantwortung in der rechten Weise, nämlich für sich selbst und für die Aufgaben im eigenen Leben. Dort, wo die Verantwortung am richtigen Platz ist, gibt es keine Täter und keine Opfer und keine fliegenden Rollenwechsel.

Die Verantwortungsübernahme sollte natürlich dort beginnen, wo die ursprüngliche Täterschaft geschieht: Bei den Eltern, die ihre Aufgaben auf die Kinder überwälzen. Wie erwähnt, kommt es dazu aus Unbewusstheit, und die Verantwortung kann erst dann übernommen werden, wenn die bewusste Einsicht möglich ist. Sich einzugestehen, selber als Kind zu wenig bekommen zu haben, sodass die eigene Elternrolle nur mangelhaft eingenommen werden konnte, ist der erste Schritt. Diese Opferposition kann dann nur durch die Übernahme von Verantwortung aufgelöst werden, und mit dieser Einsicht wird deutlich, wie in der eigenen Elternschaft die Täter-Opfer-Dynamik auf Kosten der Kinder wirksam wurde.

Sobald den Eltern dieser Schritt gelingt, werden die Kinder entlastet, und sie können in ihre Position zurückfinden. Sie können nach vorne blicken, mit einer Stütze im Rücken, statt sich dauernd zu ihren unmittelbaren Vorfahren umdrehen zu müssen, ob da nicht was zu tun ist. Sie erkennen ihre wirklichen Aufgaben im Leben und spüren die Kraft, die entsteht, wenn sie sich diesen Herausforderungen mit Verantwortung widmen.

Das Übernehmen von Verantwortung ist der Schritt aus jeder Opferrolle und aus jeder angemaßten Täterposition. Er fühlt sich deshalb so unmöglich oder schwer an, weil die Täter-Opfer-Dynamik, die oft über lange Zeit wirksam war, zur Gewohnheit wurde und für Sicherheit sorgte. Tatsächlich aber kostet das Täter-Opfer-Schwanken in jeder Rolle viel Kraft und Energie. Die bewusste Übernahme der eigenen Verantwortung, die mit dem Eingeständnis der Fehler und Schwächen einhergeht, stärkt hingegen immens, sobald sie gelingt und voll inkorporiert werden kann.

Rollen in der Täter-Opfer-Dynamik werden nur übernommen, wenn es keine andere Wahl gibt. Sie verfestigen sich dann leicht zu starren emotionalen Gewohnheiten. Zum Erwachsenwerden gehört es, die Wahlmöglichkeit zurückzugewinnen. An die Stelle des Schicksals tritt die Freiheit, an die Stelle der Schuld die Verantwortung, an die Stelle der Ohnmacht die frei fließende Lebenkraft.


Zum Weiterlesen:
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Umkehr
Rechtsextremismus und Täter-Opfer-Umkehr

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