Dienstag, 8. Juni 2021

Spirituelle Überheblichkeit

Eine Falle auf dem Weg zur inneren Freiheit liegt in der Überlegenheit, die sich als Resultat innerer Fortschritte und überwundener Hindernisse zeigt. Wenn jemand konsequent meditiert, fleißig zu spirituellen Lehrern geht und entsprechende Bücher liest, wenn jemand immer wieder nach innen schaut und die Ängste, Schamgefühle und Zweifel konfrontiert, also viel Zeit und Energie aufwendet, wird sich leicht im Hintergrund das Ego melden, das sich auf solche Errungenschaften etwas einbildet. Auf dieser Schiene steigt die Empfänglichkeit für ideologische Versatzstücke, die im Kleid von spirituellen Weisheiten oder Eingebungen auftreten.

Die Rede von unterschiedlichen Seelen und Energiefrequenzen, von höher entwickelten Wesen und jungen und alten Seelen birgt diese Gefahr. Sie teilt die Menschheit auf Entwicklungsstufen auf, nach subjektiv definierten Kriterien. Solche Einteilungen werden ja nicht von jenen verwendet, die sich nach solchen Kategorisierungen auf unteren Stufen befinden, sondern von jenen, die schon weiter oben angelangt sind, und da ist unvermeidlich die Sicht dabei, sich besser zu fühlen als die, die es nicht so weit nach oben geschafft haben, also der Blickwinkel der Arroganz und der Verachtung. Wer solche Kategorien und Abstufungen zum Einteilen der Menschen braucht, hat ein Defizit im eigenen Ego, das mit solchen Schubladen, in die die Menschen gesteckt werden, aufgepäppelt werden soll.

Vollends dubios werden solche Sichtweisen, wenn es heißt, dass jene, die weiter oben sind, die zukünftigen Herausforderungen der Menschheit überleben werden, während diejenigen, die spirituell schwächer auf der Brust sind, bei den kommenden Polsprüngen oder Alienslandungen oder Maya-Kalender-Katastrophen untergehen werden. Auch das Problem der Weltübervölkerung findet auf diese Weise eine scheinbar gütliche Lösung: Die besseren Menschen überleben und machen eine bessere Welt, die schlechteren Menschen bleiben auf der Strecke und stehen nicht mehr im Weg, damit endlich dem Frieden und der Harmonie zum Durchbruch verholfen werden kann. 

Auserwählungsreligionen

Das Motiv des Auserwähltseins gibt es in verschiedenen religiösen Traditionen. Zum Beispiel berufen sich die Juden auf einen exklusiven Bund mit Gott, der sich dem Volk Juda in besonderer Weise zugewandt hat. Die Christen nehmen als Zeichen ihrer Besonderheit Jesus und seine Botschaft, der als Gott Mensch geworden ist und damit die christliche Religion begründet hat. Für Muslime ist die Wahrheit Gottes, die über den Propheten vermittelt wurde, Anlass für die herausragende Stellung gegenüber den anderen Religionen. Während es bei den meisten religiösen Texten um die Beziehungen der Menschen untereinander, mit sich selbst und mit Gott geht und nicht um die Beziehungen zu anderen Religionen, nimmt dieses Thema bei vielen Gläubigen eine zentrale Stellung ein. 

Offenbar geht es darum, den eigenen Selbstwert über die Überlegenheit des eigenen Glaubens zu stabilisieren. Der Gedanke der Mission, der in den meisten monotheistischen Religionen (mit Ausnahme des Judentums) vertreten ist, wird von dieser Überlegenheitsdoktrin angetrieben. Die heidnischen Seelen müssen mit der besseren Religion aus ihrem Elend erlöst werden, notfalls auch mit Gewalt.  Zugleich stärkt jede bekehrte Person die Sicherheit, dem richtigen Glauben anzuhängen. 

Nationalismen und Rassismen

Im profanen Bereich wurde die Idee der Auserwählung vor allem vom Nationalismus und Rassismus übernommen. Der koloniale Imperialismus, unter dessen Flagge ganze Kontinente mitsamt ihren Bewohnern von der „weißen Rasse“ unterworfen wurden, hat seine Rechtfertigung in der intellektuellen und, man glaubt es kaum, moralischen Überlegenheit über die Primitivlinge in den zurückgebliebenen Erdteilen. Die Zerstörung der einheimischen Kulturen und Traditionen haben bis heute ihre Spuren hinterlassen.

Die Vorgeschichte des 1. Weltkriegs ist geprägt von nationalstaatlichen Arroganzen und eitlen Machtdemonstrationen der europäischen Großmächte. Systematisch wurde mit der Propaganda der eigenen nationalen Überlegenheit gegenüber den anderen Staaten oder Bevölkerungen und Volksgruppen geschürt, sodass zu Kriegsbeginn der wechselseitige Hass so stark war, dass die Soldaten mit Begeisterung und Wut in den mörderischen Krieg zogen.

Verschärft wurde diese Einstellung von den faschistischen Parteien in der Zwischenkriegszeit, die Nationalismus mit Rassismus verknüpften. Die eigene Nation mit rassisch definiertem Untergrund („deutsche Arier“) sollte nicht nur die Überlegenheit über alle anderen symbolisieren, sondern auch den Anspruch auf Herrschaft und Unterdrückung der minderrassischen Angehörigen anderer Nationen. 

Diese Konzepte der nationalen und rassischen Selbstbestätigung können aufgrund der von ihnen verursachten Katastrophen als überholt betrachtet werden, als kolossale Irrtümer und Verirrungen der Menschheit. Natürlich ist der Nationalismus noch lange nicht tot, und bis heute versuchen Politiker, mit diesem Begriff an die Macht zu kommen, zunehmend als Vorwand für die eigene Bereicherung, der aber immer noch von genügend vielen Menschen nicht durchschaut wird.

Die Aufklärung und die Spiritualität

Jedenfalls sollte gerade die spirituelle Szene frei von solchen menschenfeindlichen und narzisstischen Konzepten und Ideen sein. Andererseits ist auch sie eine Wiederspiegelung der Gesellschaft mit ihren erlösten und unerlösten Themen. Sie schleichen sich in spirituelle Lehren ein, vor allem wenn die Lehrer und Lehrerinnen zwar ihre inneren Entwicklungsschritte durchlaufen haben, aber ihnen die Dimension der gesellschaftlichen Aufklärung fremd geblieben ist. Dadurch haben sie keinen Blick auf die Implikationen von Ideengebäuden, die scheinbar einen hohen spirituellen Erklärungswert aufweisen, aber aufgrund ihrer ideologischen Vorprägungen Egoismen bedienen, statt die innere Aufklärung weiterzutreiben.

Spirituell Lehrende tragen eine hohe Verantwortung, weil ihren Worten von den Lernenden viel Autorität zugebilligt wird. Schüler kommen zur Meisterin und nehmen sie zum Vorbild, denn sie repräsentiert einen Zustand des inneren Friedens, den sie auch erreichen wollen. Die Worte und Konzepte, der verbale Inhalt der Lehre, werden für bare Münze genommen, weil es oft heißt, dass sich der kritische Verstand nicht einmischen soll. 

Auf diese Weise öffnet sich allerdings die Falle, indem Ideologien und Machtthemen in die Lehre ungeprüft in den Lehrraum eindringen können. Die Schülerin steht dann vor der Entscheidung, auf die Vernunft zu hören, die ihr rät, Ideologien nicht auf den Leim zu gehen, sondern dem aufklärerischen Geist des kritischen Denkens treu zu bleiben, und dem Wunsch, dem Treiben des Verstandes im eigenen Kopf Einhalt zu gebieten. 

Vernunft und Verstand

Selten reden Lehrer über den wichtigen Unterschied zwischen der Vernunft, dem Forum des kritischen Geistes auch und gerade gegenüber den Worten, mit welchen die Spiritualität vermittelt wird, und dem Verstand, dem Hort der Widerstände gegen die spirituelle Hingabe. Wo diese Ebenen nicht auseinandergehalten werden, entsteht entweder Verwirrung oder spirituelle Überheblichkeit. 

Es braucht die kritische Unterscheidungskraft zwischen genuin spirituellen Inhalten und historisch-bedingten Versatzstücken, die in den Köpfen aller Gesellschaftsmitglieder, also auch der spirituellen Lehrer, herumspuken. Wo sie fehlt, machen sich allzu leicht Theorien breit, die die spirituelle Arroganz und damit das Ego verstärken. Wo im Zeichen der Überwindung des Verstandesdenken auch die Vernunft, die für diese Unterscheidungskraft zuständig ist, geopfert wird, kommt es schnell zu einer Vermischung von spiritueller Lehre und ideologiegetränkter Propaganda.

Zum Weiterlesen:
Vom Vergleichen
Das Unterscheiden des Absoluten und Relativen in der Lehre

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