Phänomene,
die in der Quantenphysik entdeckt werden konnten, dienen als
Spekulationsanreger für alle möglichen Theorien über unsere Wirklichkeit. Sie
regen unsere Fantasie an und beflügeln unsere Spekulation. Außerdem können sie
dazu dienen, die Autorität, die die Physik in Bezug auf verlässliche
Wirklichkeitsdeutung innehat, für andere Zwecke auszuborgen, u.a. dafür, um für
Heilungsangebote im medizinischen oder psychologischen Bereich die eigenen Geschäftsideen
mit „wissenschaftlicher“ Glaubwürdigkeit zu untermauern.
Die Quantenlogik
Die Physik
musste zwei neue Prinzipien einführen, damit ein Erklärungsrahmen für die
Quantenphänomene erschaffen werden konnte: das Komplementaritätsprinzip und das
Prinzip der Nicht-Lokalität. Bei dem ersten Prinzip geht es um die
Komplementarität von Welle und Korpuskel (Teilchen). Bei dem berühmten
Doppelspaltexperiment bilden Photonen,
nachdem sie durch einen Doppelspalt „geschossen“ werden, wellenartige Muster.
Diese Lichtquanten müssen also Teilchen- und Welleneigenschaften gleichermaßen
aufweisen. Wir können ein Quant nur beschreiben, wenn wir ihnen beide
Eigenschaften zuschreiben, die sich gegenseitig ausschließen. Die Wirklichkeit
auf dieser Ebene kann damit nur mit einem Paradoxon beschrieben werden. Die
Natur verstößt gegen die Regeln unserer Logik: Ein Ding kann nur durch zwei
sich logisch widersprechende Beschreibungen erfasst werden.
Spätestens
hier stellt sich die Frage, wer hier falsch liegt: die Logik oder die Natur?
Der deutsche Philosoph Hegel, der sich dem Prinzip der dialektischen Logik
verschrieben hatte, soll auf die Vorhaltung, dass es in der Wirklichkeit mehr
Papageienarten gäbe als es der dialektischen Logik entspricht, geantwortet
haben: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit.“
Wir sollten
einen anderen Zugang wählen, und das hat die Physik auch nolens volens gemacht.
Wenn die traditionelle Logik nicht ausreicht, um Phänomene zu beschreiben, die
sich in der Natur beobachten lassen (zugegebenermaßen in Experimenten, die von
Menschen mithilfe von Apparaten eingerichtet werden; andererseits zeigen aber
die technischen Anwendungen der Quantenphysik, dass die Experimente natürliche
Vorgänge dargestellt haben), muss der Rahmen der Logik erweitert werden. Dies
ist durch die Einführung des Komplementaritätsprinzips geschehen.
Das zweite
Prinzip, die Nicht-Lokalität oder Verschränkung, leitet sich aus der Tatsache
ab, dass Quantenereignisse ohne Kausalität miteinander „kommunizieren“ können:
Sie zeigen zusammenhängende Verhaltensweisen, ohne dass es eine
Ursache-Wirkung-Beziehung geben kann. Damit ist eine weitere Voraussetzung der
Logik und auch der Alltagserfahrung außer Kraft gesetzt: Wir können uns in der
uns zugänglichen Wirklichkeit nur bewegen, wenn wir die Kausalbeziehungen
zwischen Objekten beobachten und uns auf sie verlassen können. Wenn sich
Eingangstüren wie verschränkte Quantenteilchen verhielten, wüssten wir nie, wie
wir in ein Gebäude gelangen.
Die Grenzen der Logik sind nicht die Grenzen der Welt
Unsere Logik
ist aus unserer Alltagswahrnehmung und unserer darauf gründenden Lebenspraxis
abgeleitet. In ihr ist jeder Gegenstand eindeutig, und die Austauschbarkeit von
Welle und Teilchen spielt keine Rolle. Wir arbeiten, kommunizieren und
vergnügen uns nicht in der Welt der Photonen, und dafür reicht die Logik, die
wir kennen. Eher ist es erstaunlich, dass diese Alltagslogik noch in der
winzigen Welt der Moleküle und Atome brauchbar ist; dass sie irgendwo im
Nano-Bereich (und vermutlich auch im Mega-Makro-Bereich) eine Grenze hat, weil
unsere Wahrnehmungsorgane dafür keine Sensorien haben und unsere Handlungsmöglichkeiten
viel zu grob sind, bräuchte uns eigentlich gar nicht zu verwundern. Wir finden
das, was sich in diesen Bereichen messen lässt, nur deshalb spukhaft, weil wir
arroganterweise davon ausgehen, dass die Art und Weise, wie wir in unserer kleinen
Lebenswelt mit unseren dafür adaptierten Wahrnehmungsorganen hantieren, für jedes
Phänomen im Universum Gültigkeit haben müsse. Wenn wir uns mit der Relativität
zufrieden geben, die mit der unüberwindbaren Begrenztheit unserer Erkenntnis gegeben
ist (um mit Kant zu sprechen: Mit der Unerkennbarkeit des Dings an sich),
können wir die Irritation durch die Quantenphänomene durch ein Staunen
ersetzen: Staunen darüber, was jenseits der Grenzen unserer Logik abläuft.
Quantenphysik, Psi-Phänomene und Esoterik
Die Quantenphysik
ist in verschiedenen Richtungen der Esoterik sehr beliebt. In der Welt der
Quanten zeigen sich Phänomene, die eigentümlicherweise an Erfahrungen erinnern,
die in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen oder in Meditationsreisen
auftauchen können. Die klassische Physik kann diese Erscheinungen nicht
erklären, deshalb brauchen wir eine neue Physik, eben die der Quanten, und dann
haben wir gleich ein Erklärungsmodell für alle Sonderphänomene, die im
esoterischen Rahmen auftauchen. Schnell wird der Schluss gezogen: Jetzt haben
wir die wissenschaftliche Erklärung für die Wirklichkeit der Erfahrung und für
die Wirksamkeit der Methoden, die zu diesen Erfahrungen führen. So kann man
z.B. lesen: „Mit der Matrix Energie Quantenheilung tauchen wir ein in
unbegrenzte Möglichkeiten. Denn wir können selbst entscheiden, was wir uns aus
der Matrix, der universellen Energie herausholen.“ (Quelle)
„Bei der Quantenheilung werden ursprüngliche Informationen über den
Körper-Bauplan abgerufen und an den zu heilenden Körperteil übermittelt.“ (Quelle)
Die
vereinfachende Argumentation besagt: Alles besteht letztlich aus Quanten, und
weil Quanten nicht-lokale Verschränkungen aufweisen, müssen auch komplexere
Formen wie menschliche Gehirne oder wie ganze Menschen über diese Möglichkeiten
verfügen. Damit hätten wir eine physikalische Erklärung für Phänomene wie
Gedankenübertragung, Hellseherei, Telepathie: Die Physik würde bestätigen, dass
es solche Erscheinungen gibt wie es Sonnenfinsternisse oder Sternschnuppen
gibt.
Von der
anderen Seite wird dieser Enthusiasmus jedoch kaum geteilt. Im Gegenteil, die
meisten Quantenphysiker sind äußerst skeptisch, was eine Übertragung ihrer
Erkenntnisse von der Mini-Welt der Quanten auf die Makro-Welt von
zwischenmenschlichen Interaktionen oder innerpsychischen Erlebnissen
anbetrifft. Denn die Quantenphänomene
sind auf die Welt der kleinsten Teilchen beschränkt; in größeren und
komplexeren Objekten verschwinden sie. Die Verschränkung ist gewissermaßen
ansteckend: wenn ein paar verschränkte Quanten miteinander korrelieren, schließen
sich andere an, bis schließlich in einem System alle mit allen verschränkt sind.
Damit lassen sich verschränkte Systeme nicht mehr von unverschränkten Systemen
unterscheiden, und der Effekt wird irrelevant. Die Physiker nennen diesen
Vorgang „Dekohärenz“.
Zudem
sollten wir beachten, dass die seltsamen Quanteneffekte, welche der klassischen
Physik widersprechen und die von der Esoterik gerne als Beweis für alles
Mögliche verwendet werden, grundsätzlich nicht beobachtet werden können. Im
Moment einer "Beobachtung", also einer Messung, „verschwindet“ das
Mysteriöse, und es gilt für Quantenphänomene beispielsweise wieder die
klassische Logik. Diese Phänomene können nicht direkt beobachtet werden – es
wurde noch nie etwas Derartiges mit unseren Sinnesorganen bzw. mit
vorgeschalteten Apparaten beobachtet. Auf die „mysteriösen“ Quantenphänomene
kann nur geschlossen werden: aufgrund vorgenommener Messungen und
mathematischer Berechnungen scheint sich das Beobachtete allerdings nur
erklären zu lassen, wenn im Bereich der Quantenphänomene andere Gesetze
vorherrschen als im „klassischen“ Bereich.
Als
Konsumenten sollte uns bewusst sein: Wenn jemand von Quantenpsychologie oder
Quantenheilung spricht, so hat das nichts mit dem Wirklichkeitsbereich zu tun,
in dem die Quantenphysik forscht. Angebote dieser Art beruhen also nicht, wie
gerne behauptet wird, „auf modernsten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen“ (z.B.
Christa Wagner),
sondern verwenden bloß ein werbekräftiges Wort, das aus der Physik entnommen
wird, ohne dass es nachgewiesene Zusammenhänge zwischen der Welt der Photonen
und dem Leiden und der Heilung von Menschen gibt. Methoden, die das Zauberwörtchen
„Quanten-“ verwenden, können wirksam oder auch nicht sein; wer sich mit den
Hintergründen befasst hat, wird sich allerdings leicht tun, den erhofften Glaubwürdigkeitsgewinn
durch das physikalische Lehnwort wegzustreichen und die jeweilige Sache als das
betrachten, was sie ist: Ein Angebot unter vielen auf dem breiten (und
geldträchtigen) Markt der esoterischen und therapeutischen Heilsangebote.
Dieser
Beitrag beruht in einigen Aspekten auf dem Artikel: Nikolaus v. Stillfried: Quantenphilosophische
Ideen zu Fragen des Bewusstseins. In: Bewusstseinswissenschaften.
Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/2013, S. 44-55
Zum Weiterlesen: Quantenphysik und Quantenheilung. Zwei Paar Schuhe
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