Samstag, 19. August 2017

Die Logik der Photonen und die Quantenwerbung



Phänomene, die in der Quantenphysik entdeckt werden konnten, dienen als Spekulationsanreger für alle möglichen Theorien über unsere Wirklichkeit. Sie regen unsere Fantasie an und beflügeln unsere Spekulation. Außerdem können sie dazu dienen, die Autorität, die die Physik in Bezug auf verlässliche Wirklichkeitsdeutung innehat, für andere Zwecke auszuborgen, u.a. dafür, um für Heilungsangebote im medizinischen oder psychologischen Bereich die eigenen Geschäftsideen mit „wissenschaftlicher“ Glaubwürdigkeit zu untermauern.

Die Quantenlogik


Die Physik musste zwei neue Prinzipien einführen, damit ein Erklärungsrahmen für die Quantenphänomene erschaffen werden konnte: das Komplementaritätsprinzip und das Prinzip der Nicht-Lokalität. Bei dem ersten Prinzip geht es um die Komplementarität von Welle und Korpuskel (Teilchen). Bei dem berühmten Doppelspaltexperiment  bilden Photonen, nachdem sie durch einen Doppelspalt „geschossen“ werden, wellenartige Muster. Diese Lichtquanten müssen also Teilchen- und Welleneigenschaften gleichermaßen aufweisen. Wir können ein Quant nur beschreiben, wenn wir ihnen beide Eigenschaften zuschreiben, die sich gegenseitig ausschließen. Die Wirklichkeit auf dieser Ebene kann damit nur mit einem Paradoxon beschrieben werden. Die Natur verstößt gegen die Regeln unserer Logik: Ein Ding kann nur durch zwei sich logisch widersprechende Beschreibungen erfasst werden.

Spätestens hier stellt sich die Frage, wer hier falsch liegt: die Logik oder die Natur? Der deutsche Philosoph Hegel, der sich dem Prinzip der dialektischen Logik verschrieben hatte, soll auf die Vorhaltung, dass es in der Wirklichkeit mehr Papageienarten gäbe als es der dialektischen Logik entspricht, geantwortet haben: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit.“

Wir sollten einen anderen Zugang wählen, und das hat die Physik auch nolens volens gemacht. Wenn die traditionelle Logik nicht ausreicht, um Phänomene zu beschreiben, die sich in der Natur beobachten lassen (zugegebenermaßen in Experimenten, die von Menschen mithilfe von Apparaten eingerichtet werden; andererseits zeigen aber die technischen Anwendungen der Quantenphysik, dass die Experimente natürliche Vorgänge dargestellt haben), muss der Rahmen der Logik erweitert werden. Dies ist durch die Einführung des Komplementaritätsprinzips geschehen.

Das zweite Prinzip, die Nicht-Lokalität oder Verschränkung, leitet sich aus der Tatsache ab, dass Quantenereignisse ohne Kausalität miteinander „kommunizieren“ können: Sie zeigen zusammenhängende Verhaltensweisen, ohne dass es eine Ursache-Wirkung-Beziehung geben kann. Damit ist eine weitere Voraussetzung der Logik und auch der Alltagserfahrung außer Kraft gesetzt: Wir können uns in der uns zugänglichen Wirklichkeit nur bewegen, wenn wir die Kausalbeziehungen zwischen Objekten beobachten und uns auf sie verlassen können. Wenn sich Eingangstüren wie verschränkte Quantenteilchen verhielten, wüssten wir nie, wie wir in ein Gebäude gelangen.

Die Grenzen der Logik sind nicht die Grenzen der Welt


Unsere Logik ist aus unserer Alltagswahrnehmung und unserer darauf gründenden Lebenspraxis abgeleitet. In ihr ist jeder Gegenstand eindeutig, und die Austauschbarkeit von Welle und Teilchen spielt keine Rolle. Wir arbeiten, kommunizieren und vergnügen uns nicht in der Welt der Photonen, und dafür reicht die Logik, die wir kennen. Eher ist es erstaunlich, dass diese Alltagslogik noch in der winzigen Welt der Moleküle und Atome brauchbar ist; dass sie irgendwo im Nano-Bereich (und vermutlich auch im Mega-Makro-Bereich) eine Grenze hat, weil unsere Wahrnehmungsorgane dafür keine Sensorien haben und unsere Handlungsmöglichkeiten viel zu grob sind, bräuchte uns eigentlich gar nicht zu verwundern. Wir finden das, was sich in diesen Bereichen messen lässt, nur deshalb spukhaft, weil wir arroganterweise davon ausgehen, dass die Art und Weise, wie wir in unserer kleinen Lebenswelt mit unseren dafür adaptierten Wahrnehmungsorganen hantieren, für jedes Phänomen im Universum Gültigkeit haben müsse. Wenn wir uns mit der Relativität zufrieden geben, die mit der unüberwindbaren Begrenztheit unserer Erkenntnis gegeben ist (um mit Kant zu sprechen: Mit der Unerkennbarkeit des Dings an sich), können wir die Irritation durch die Quantenphänomene durch ein Staunen ersetzen: Staunen darüber, was jenseits der Grenzen unserer Logik abläuft.

Quantenphysik, Psi-Phänomene und Esoterik


Die Quantenphysik ist in verschiedenen Richtungen der Esoterik sehr beliebt. In der Welt der Quanten zeigen sich Phänomene, die eigentümlicherweise an Erfahrungen erinnern, die in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen oder in Meditationsreisen auftauchen können. Die klassische Physik kann diese Erscheinungen nicht erklären, deshalb brauchen wir eine neue Physik, eben die der Quanten, und dann haben wir gleich ein Erklärungsmodell für alle Sonderphänomene, die im esoterischen Rahmen auftauchen. Schnell wird der Schluss gezogen: Jetzt haben wir die wissenschaftliche Erklärung für die Wirklichkeit der Erfahrung und für die Wirksamkeit der Methoden, die zu diesen Erfahrungen führen. So kann man z.B. lesen: „Mit der Matrix Energie Quantenheilung tauchen wir ein in unbegrenzte Möglichkeiten. Denn wir können selbst entscheiden, was wir uns aus der Matrix, der universellen Energie herausholen.“ (Quelle) „Bei der Quantenheilung werden ursprüngliche Informationen über den Körper-Bauplan abgerufen und an den zu heilenden Körperteil übermittelt.“ (Quelle)

Die vereinfachende Argumentation besagt: Alles besteht letztlich aus Quanten, und weil Quanten nicht-lokale Verschränkungen aufweisen, müssen auch komplexere Formen wie menschliche Gehirne oder wie ganze Menschen über diese Möglichkeiten verfügen. Damit hätten wir eine physikalische Erklärung für Phänomene wie Gedankenübertragung, Hellseherei, Telepathie: Die Physik würde bestätigen, dass es solche Erscheinungen gibt wie es Sonnenfinsternisse oder Sternschnuppen gibt.
Von der anderen Seite wird dieser Enthusiasmus jedoch kaum geteilt. Im Gegenteil, die meisten Quantenphysiker sind äußerst skeptisch, was eine Übertragung ihrer Erkenntnisse von der Mini-Welt der Quanten auf die Makro-Welt von zwischenmenschlichen Interaktionen oder innerpsychischen Erlebnissen anbetrifft. Denn die  Quantenphänomene sind auf die Welt der kleinsten Teilchen beschränkt; in größeren und komplexeren Objekten verschwinden sie. Die Verschränkung ist gewissermaßen ansteckend: wenn ein paar verschränkte Quanten miteinander korrelieren, schließen sich andere an, bis schließlich in einem System alle mit allen verschränkt sind. Damit lassen sich verschränkte Systeme nicht mehr von unverschränkten Systemen unterscheiden, und der Effekt wird irrelevant. Die Physiker nennen diesen Vorgang „Dekohärenz“.

Zudem sollten wir beachten, dass die seltsamen Quanteneffekte, welche der klassischen Physik widersprechen und die von der Esoterik gerne als Beweis für alles Mögliche verwendet werden, grundsätzlich nicht beobachtet werden können. Im Moment einer "Beobachtung", also einer Messung, „verschwindet“ das Mysteriöse, und es gilt für Quantenphänomene beispielsweise wieder die klassische Logik. Diese Phänomene können nicht direkt beobachtet werden – es wurde noch nie etwas Derartiges mit unseren Sinnesorganen bzw. mit vorgeschalteten Apparaten beobachtet. Auf die „mysteriösen“ Quantenphänomene kann nur geschlossen werden: aufgrund vorgenommener Messungen und mathematischer Berechnungen scheint sich das Beobachtete allerdings nur erklären zu lassen, wenn im Bereich der Quantenphänomene andere Gesetze vorherrschen als im „klassischen“ Bereich.

Als Konsumenten sollte uns bewusst sein: Wenn jemand von Quantenpsychologie oder Quantenheilung spricht, so hat das nichts mit dem Wirklichkeitsbereich zu tun, in dem die Quantenphysik forscht. Angebote dieser Art beruhen also nicht, wie gerne behauptet wird, „auf modernsten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen“ (z.B. Christa Wagner), sondern verwenden bloß ein werbekräftiges Wort, das aus der Physik entnommen wird, ohne dass es nachgewiesene Zusammenhänge zwischen der Welt der Photonen und dem Leiden und der Heilung von Menschen gibt. Methoden, die das Zauberwörtchen „Quanten-“ verwenden, können wirksam oder auch nicht sein; wer sich mit den Hintergründen befasst hat, wird sich allerdings leicht tun, den erhofften Glaubwürdigkeitsgewinn durch das physikalische Lehnwort wegzustreichen und die jeweilige Sache als das betrachten, was sie ist: Ein Angebot unter vielen auf dem breiten (und geldträchtigen) Markt der esoterischen und therapeutischen Heilsangebote.

Dieser Beitrag beruht in einigen Aspekten auf dem Artikel: Nikolaus v. Stillfried: Quantenphilosophische Ideen zu Fragen des Bewusstseins. In: Bewusstseinswissenschaften. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/2013, S. 44-55


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