Samstag, 9. Januar 2016

Der Anfang der Welt und das spekulative Denken

Wir möchten wissen, wie alles begonnen hat. Was war vor der Welt? Vielleicht könnten wir mehr über die Welt verstehen, wenn wir wüssten, woraus sie entstanden ist. Jedoch: Alle Ausflüge, die wir über das Raum-Zeitschema hinaus unternehmen, sind riskant. Welt ist für uns, die wir aus und in dieser Welt entstanden sind, identisch mit dem, was in Raum und Zeit existiert. Denn unser (selber raumzeitlicher) Wahrnehmungsapparat beruht auf diesem Schema und wäre ohne es funktionslos. Ohne Raum und Zeit wären wir blind, taub und empfindungslos. Dazu kommt, dass unsere Denkformen auf der Wahrnehmung beruhen und von ihr bestimmt sind. Heben sie davon ab, verlieren sie ihren Referenzpunkt und beginnen zu taumeln: inhaltsleer und beliebig, also nicht verbindlich kommunizierbar. Die Wirklichkeit, die sie darstellen wollen, ist nur im Innen, ohne die eigenen Koordinaten zu kennen.

Wir können also nur in Raum und Zeit wahrnehmen (zumindest im funktionalen Sinn), und unser Denken und die damit verbundene Begriffsbildung sowie die Sprache sind von der Raum-Zeitlichkeit der Wahrnehmung abhängig und immer auf sie bezogen. Alles, was wir reden, hat nur deshalb einen Sinn, weil es Gegenstände und Vorgänge in Raum und Zeit gibt, die das Sprechen meint.

Selber raum-zeitliche Wesen, können wir den Anfang der Zeit oder das Ende des Raumes nicht denken. Alles, was wir über diese Themen aussagen, ist spekulativ, d.h. willkürlich und unverbindlich. Wir können sagen, dass es vor der Entstehung der Welt einen Gott gegeben hat, der all diese Vorgänge eingeleitet hat, wie der Präsident einer Supermacht, der nach mehr oder weniger reiflicher Überlegung den Knopf für einen Atomangriff drückt. Wir können die Meinung vertreten, dass es eine unendliche, unpersönliche Intelligenz war, die für den Anfang verantwortlich ist, ein missgünstiger Dummkopf oder ein Spaghetti-Monster, je nach Geschmack. Wir können auch sagen, dass alles aus einem Nichts entstanden ist. Oder dass es vor dieser Welt eine ganz andere gegeben hat. 

Unserer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und alle diesbezüglichen Aussagen haben erkenntnistheoretisch den gleichen Wahrheitswert, nämlich Null, weil sie in irgendwelchen Köpfen formuliert wurden, ohne sich um den Bezug zur raum-zeitlichen Wirklichkeit zu kümmern: Was gesagt wird, kann stimmen oder auch nicht, und es gibt keine Instanz außer dem Sprecher, der das entscheiden könnte. Unsere fantastische Vorstellungskraft ermöglicht uns, außersinnliche Wirklichkeiten nach unseren Wünschen oder Geschmäckern erschaffen, zu verändern und wieder verschwinden zu lassen.


Über die ersten und letzten Dinge spekulieren


Das Spekulieren, das häufig in Zusammenhang mit den "letzten Fragen" angewendet wird, können wir folgendermaßen verstehen: Es ist der Versuch, die Denk- und Sprachformen, über die wir aufgrund unseres Funktionierens in der gegenständlichen Welt verfügen, auf die Fragen anzuwenden, die mit dem Jenseits der Raum-Zeit-Welt zu tun haben. Wir wollen erklären und verstehen, was sich jenseits der Ränder des Erfahrbaren tut und wenden unsere gebräuchlichen Konzepte und Begriffe auf diese Bereiche an, so als gäbe es dort Gegenstände, die wir aus den Zusammenhängen des Funktionsmodus kennen. Dort brauchen wir Einordnungen und Kategorisierungen, die das Denken beisteuert.

Wenn wir das Denken auf kontextfreie Erfahrungen, wie wir sie im Flussmodus kennen, anwenden, beginnt es zu spekulieren, d.h. in Nachahmung der Freiheit dieser Erfahrungsform willkürlich und ungebunden assoziativ zu schweifen. Dabei vermeint das Denken, mehr von der Wirklichkeit zu erkennen, und das ist die Illusion in der Spekulation. Sie meint, sich auf Gegenstände zu beziehen, tatsächlich sind es Erfahrungen, die sich nicht gegenständlich fixieren lassen, sondern eben im Fluss, in der dauernden Veränderung sind.

Die Wirklichkeit, die das Denken erfassen will, ist immer noch raum-zeitlich, auch in den Fällen, in denen es sich darüber hinaus erweitern möchte. Die Begriffe, die wir auf den Flussmodus beziehen (Unendlichkeit, Weite, Freiheit, Leere etc.), sind Kreationen des endlichen und relativen Denkens. Doch zum Unterschied von konkreten Begriffen wie Blume, Fisch oder Löffel, die sich auf Gegenstände in Raum und Zeit beziehen, haben die verallgemeinerten Begriffe keinen direkten Gegenstandsbezug mehr, sind also anschauungsferner und abstrakter. 

Jeder abstrakte Begriff, den das Denken formuliert, ist aus der sinnlichen Raum-Zeit-Wahrnehmung abgeleitet. Z.B. ist der Begriff der Unendlichkeit die Negation des Begriffs der Endlichkeit, der jeden Raum-Zeit-Gegenstand auszeichnet, ist also die negierte Abstraktion aus jeder Gegenstandswahrnehmung. Rene Descartes hat von ausgedehnten Gegenständen gesprochen, die alle durch ihre Grenzen definiert sind. Unser Denken ist in der Lage, logische Operatoren auf die Gegenstandsbegriffe anzuwenden, z.B. die Verallgemeinerung und die Negation. Damit wird es möglich, den Begriff der Unendlichkeit zu erzeugen und in eine Sprachform zu bringen. 

Allerdings bleibt der Begriff auf die endliche Wahrnehmungsform bezogen und ist von ihr abhängig und hat damit im Grund nichts zu tun mit der Flusserfahrung, die er bezeichnen will. Er dient nur der Übersetzung der Erfahrung ins kommunikative Medium, für unsere Versuche, Flusserfahrungen, die wir haben, mit anderen Menschen zu teilen. Da wir keine Denkform haben, die Begriffe aus dem Flussmodus der Erfahrung ableitet, haben wir auch keine adäquate Sprachform für diesen Modus. 


Die Kunst zeigt das Unbenennbare


Im übrigen können wir die Kunst als Versuch verstehen, die Fließerfahrung in eine sinnlich wahrnehmbare Form zu übertragen und damit gegenständlich zu machen, aber eben als Gegenstände, die dem Funktionsmodus entzogen sind, also keinen Gebrauchswert haben. Was uns an der Kunst fasziniert, ist ihre Fähigkeit, in unendlichen Variationen das, was hinter den Dingen ist, zum Vorschein zu bringen, ohne es auf Begriffe zu reduzieren. Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie verstehen können, ohne sie jemals voll verstehen zu können.


"Vor der Zeit" 


Aussagen darüber, was "vor" der raum-zeitlichen Wirklichkeit war, sind immer spekulativ. "Vor" ist ein zeitlicher Begriff, der, wenn wir ihn auf etwas außerhalb der Zeit anwenden, widersprüchlich wird. Diese Widersprüchlichkeit betrifft alles weitere, was im Bereich jenseits der Raum-Zeit-Wirklichkeit thematisiert wird, einschließlich eines Schöpfergottes.

Wenn wir also von einer Gottheit reden, die diese Wirklichkeit geschaffen hat, befinden wir uns im begrifflichen Denken. Dort können wir willkürlich Annahmen treffen, d.h. im Grund behaupten, was wir wollen, weil es ja per definitionem keinen Bezug zu einer im Außen existierenden Wirklichkeit gibt. Die Spekulation hat ihre Wirklichkeit nur im Kopf der spekulierenden Person und im von ihr getätigten Sprechakt. Wird diese subjektive Wirklichkeit anderen Personen mitgeteilt und von diesen geteilt, entstehen kollektive imaginierte Wirklichkeiten. Dieser Mechanismus ist die Grundlage für individuelle Wahngebilde und kollektive Ideologien.

(Ideologien können wir in diesem Zusammenhang als missverstandene Kunstwerke verstehen, ähnlich den inneren Vorstellungen, an denen ein Geisteskranker leidet, mit dem Unterschied, dass sie von vielen Menschen ähnlich erlebt werden: kollektive Wahnvorstellungen) 

Deshalb ist der "Schöpfergott" eigentlich eine ästhetische Produktion, die im Versuch entstanden ist, Erfahrungen des Fließens auf kosmologische Fragen zu übertragen, also mittels einer Sammlung von Metaphern, mit denen auf etwas, das sich begrifflich nicht fassen lässt, hingewiesen wird. Vergleiche dazu die entsprechenden Stellen in der Genesis (Gen 1,1 - 11,9), die mit starken poetischen Bildern arbeiten. Solche mythologische Kosmologien, die es in vielen Kulturen gibt, versuchen, ähnlich der Kunst, mit bildhafter Sprache darzustellen, was jenseits der Funktionswirklichkeit sein könnte.


Ist Gott männlich oder weiblich?


Der feministische Witz: "Als Gott den Mann erschuf, übte sie bloß," zeigt die Willkür auf, mit der wir bei diesen Fragen begrifflich operieren. Dazu zählt der Versuch, Gott ein Geschlecht zuzuteilen. Über lange Zeiträume und in vielen Kulturen waren der Hauptgott oder die vorgesetzten Gottheiten männlich. Daher ist der Wunsch verständlich, Gott endlich zur Abwechslung mit dem weiblichen Geschlecht zu benennen oder zu gendern: Der Gott/die Göttin wie: der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin.

Der Witz zieht seine Wirkung aus der Verwirrung, die entsteht, wenn einem ästhetischen Gebilde raum-zeitliche Eigenschaften zugeordnet werden wie die Geschlechtlichkeit. Denn die Dichotomie zwischen den Geschlechtern gibt es in der "Schöpfung" erst seit der Entwicklung von komplexeren Lebewesen. Warum sollte also ein Gott vor der Schöpfung oder während der ersten Milliarden Jahre nach der Entstehung des Universums ein Geschlecht haben, lange vor allen Geschlechterdifferenzierungen? Das Geschlecht hat den Sinn, über die zugehörige Form der Vermehrung Nachkommen hervorzubringen. Das brauchen und können nur Gottheiten, die in die raum-zeitliche Wirklichkeit eintreten, wie die der Griechen, die ja einen räumlich lokalisierbaren Wohnort hatten, dort Kinder bekamen und auch immer wieder mit Sterblichen Liebesaffären mit Folgen hatten. 

Der monotheistische Gott (die monotheistische Göttin) dagegen bleibt prinzipiell außerhalb der Bereiche der Sterblichen, so weit, dass der Islam ein Verbot erlassen hat, ihn/sie bildlich darzustellen. Er/sie ist damit der Sphäre des Menschlichen-Allzu-Menschlichen mit all ihren Projektionen entzogen, tauscht diese Position aber gegen einen begrifflich ähnlich unsicheren und widersprüchlichen Stellenwert aus. 

Nur aufgrund unseres Denkens und der davon abhängigen Sprache kommen wir auf die Frage nach Eigenschaften Gottes. Wir müssen nach unserer Sprachstruktur auch Gott zumindest grammatikalisch ein Geschlecht zuteilen, wie allen Gegenständen. Vielleicht merken wir dabei, dass wir uns in Widersprüche verwickeln, wenn wir nicht den erkenntniskritischen Unterschied einführen: Wir können alles, was es gibt, einschließlich Gott, nur im Rahmen unserer Denk- und Sprachwelt beschreiben. Damit haben wir nur einen Gott für uns, und nicht einen Gott an sich, der sich ja außerhalb unserer Innenwelt befinden sollte, beschrieben. Mehr geht aber nicht, außer wir begeben uns in den Bereich der Spekulation. Der Gott/die Göttin jenseits der Innenwelt ist eine Innenwelt, der spekulativ eine Existenz außerhalb der Innenwelt zugesprochen wird.

Das Denken ist in der Lage zu verwirren, weil es seine Begriffe auf verschiedene Erfahrungsmodi beziehen kann, ohne zu merken, wo es sich gerade befindet. Verwirrung ist Ausdruck einer Beziehungsstörung zwischen Innen und Außen, zwischen subjektiver Innen- und objektiver Außenwelt. Nur wenn wir unser Denken zur Erkenntniskritik nutzen, können wir zuordnen, was wohin gehört, können Kunst und Wirklichkeitserfahrung unterscheiden und die Verwirrung aufklären.


Aufgeklärtes Denken


Laut Immanuel Kant ist die Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit. Thomas Metzinger hat in diesem Zusammenhang von intellektueller Redlichkeit gesprochen. Verwirrung zu stiften hat demnach mit unredlicher Machtausübung zu tun, die Erkenntniskritik verhilft zu Selbstermächtigung, Autonomie und ethischer Lebenshaltung.

Vgl. Funktional und fließend Wahrnehmen
Funktions- und Flussmodus
Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit
Wissen, Fantasie und Glaube: Was kommt nach dem Leben?

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