Freitag, 14. Juni 2019

Die Dritte Aufklärung für die digitale Epoche


Der deutsche Kulturphilosoph Michael Hampe fordert eine dritte Aufklärung, nach den epochalen geistigen Revolutionen in der griechischen Antike und den geistigen und gesellschaftlichen Umwälzungen im 18. Jahrhundert. Er spricht von einer Inflation der Meinungen, mit der die Menschen heute mit ungeprüften und verführerischen Informationen überschwemmt werden. Die Grenzen im inneren Informationsmanagement werden immer schwerer zu ziehen: Zwischen Bildung, die in einem Lernprozess erworben wird, Informationen über Fakten, die in überprüfbaren Verfahren entstehen, und Manipulationen für Werbezwecke, politisch, wirtschaftlich oder für die individuelle Eitelkeit („Instagramm-Selbstdarstellung“).

Während die Aufklärung im 18. Jahrhundert nach dem berühmten Satz von Immanuel Kant „der Ausgang der Menschheit aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ war, geht es heute darum, Orientierung im Gewirr des medialen Geplappers, der bewusst gestreuten Lügen, der gezielten unterschwelligen Manipulation und der angstgesteuerten Verschwörungstheorien zu finden. Denn „die Überfüllung unseres Geistes mit nutzlosen Meinungen ist sogar gefährlich für unser Leben, weil sie uns den Sinn für die orientierende Bedeutung von Wahrheiten raubt. Ohne eine Wertschätzung von Wahrheiten durch die Mehrheit derer, die ein aufgeklärtes Leben führen, ist diese Lebensform jedoch nicht fortsetzbar. Eine Askese im Meinen ist deshalb ebenso empfehlenswert wie eine gewisse Askese bei der Nahrungszufuhr.“ (S. 27)

Das Ziel dieser Aufklärung ist nach Hampe der Schritt der Menschheit zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte, was die Ausweitung und Vertiefung der allgemeinen und vor allem der interkulturellen Bildung und der Bildung in Medienkompetenz voraussetzt. (S. 15) Diese Bildung besteht darin, dass wir bloße Meinungen in Wissen überführen:  „Wissen aber wird dadurch hervorgebracht, dass man Meinungen in bestimmten Verfahren überprüft. Die Ausführung dieser Verfahren, der sogenannten Wahrheitspraktiken, ist mühsam und zeitraubend. Aber an ihrem Ende steht etwas Verlässlicheres als die Meinung: Wissen.“ (S. 25)

Wissen ist ein Ergebnis von Bildung


Wissen ist nicht nur praktischer als Meinungen, weil es längerfristig gültig ist und sich besser in der Wirklichkeit bewährt, sondern auch, weil es mehr Bezug zu uns selber hat, indem wir selbst für die Erzeugung des Wissens verantwortlich zeichnen. Wir haben Lernenergie in den Bildungsprozess investiert, unser Gehirnschmalz, während wir Meinungen irgendwo aufschnappen und ohne Denkbemühung wiederkäuen. Die Anstrengungen des Wissens-Erwerbs lohnen sich, weil wir darin Sicherheit gewinnen, unsere inneren Werte stärken und die Orientierungsperspektiven in die Zukunft klären. Außerdem können wir auf dieser Basis unsere kommunikativen Verbindungen und damit die zwischenmenschliche Solidarität vertiefen, indem Räume des herrschaftsfreien Diskurses nach dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas (der übrigens dieser Tage 90 Jahre wird) eingerichtet werden. Dort herrscht der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ statt Machtansprüchen, die nicht argumentieren wollen, sondern blinden Glauben einfordern.

Hampe weist darauf hin, dass die meisten Menschen von zwei Grundimpulsen angetrieben werden: Einerseits dem Streben nach vertrauter Umgebung und nach der Absicherung im Gewohnten, und andererseits dem Streben nach Intensität. Menschen lieben die Beschaulichkeit, und sie suchen das Abenteuer. So ist es auch in der Welt der Meinungen: Viele schätzen den Nervenkitzel von Verschwörungstheorien mehr als deren wissenschaftliche Widerlegungen. Häufig befriedigen die Mythen und Illusionen, die als Wirklichkeiten verkauft werden, das Bedürfnis nach Intensität scheinbar leichter und besser im Vergleich zu Bildungsprozessen, die Mühe und Disziplin erfordern.

Aufklärung hingegen findet nicht in der Komfortzone beim abgestumpften Medienkonsum oder beim mechanischen Scrollen auf einer bilderreichen digitalen Plattform statt, sondern beim Abwägen, Reflektieren, Überprüfen, Vergleichen, also bei der „Arbeit des Begriffs“ (nach Hegel), individuell und kommunikativ.

Das Ende der Grausamkeit


Ein treibendes Motiv der Aufklärer war es immer, das Leben der Menschen menschengerechter zu machen. Dazu gehört ganz zentral das Anliegen, die Ausübung von Gewalt zurückzudrängen. All die Bewegungen des gewaltfreien Widerstandes, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, sind eine Folge der Aufklärung, weil sie zur Durchsetzung von Menschenrechten gegen eine ungerechte und repressive Staatsmacht angetreten sind und bis heute antreten. Sie zeigen die Macht der Gewaltlosigkeit gegenüber der Grausamkeit, die in einem Mehr an Menschlichkeit besteht.

Das ist die immer wiederkehrende Botschaft der Aufklärung: Brutale Machtausübung darf nicht das Maß der gesellschaftlichen Ordnung sein, sondern kann nur eine primitive Form der Konfliktregelung darstellen, die dringend eingeschränkt und überwunden werden muss. Nur so kann eine Gesellschaft gebildet werden, die dem entspricht, was Menschen aus ihrer sozialen Natur heraus wollen und brauchen. Auf der Basis von Gewalt kann es nie zur Gleichheit der Menschen und zum sozialen Ausgleich kommen.

Der Drang zur Intensität, der nach Hampe für den Menschen konstitutiv ist, kann leicht zu Gewalt und Grausamkeit verführen. Die Bereitschaft, sich in Gefahr zu bringen, wird etwa von Extrembergsteigern oder Klippenspringern ausgelebt, die allerdings wissen, dass sie ein diszipliniertes Training für ihre Aktionen benötigen. Sie riskieren die Erfahrung von Leid und gehen an Grenzen, freilich gestützt auf fleißig erworbene Kompetenzen. Demgegenüber haben ungeübte und undisziplinierte Intensitätssucher die Möglichkeiten, ihren Hang zum Abenteuer scheinbar gefahrlos auszuleben, indem sie in den Weiten der sozialen Netzwerke ihre Meinungen in riskanter Weise ausbreiten, nämlich hasserfüllt und grausam und ohne persönliche Verantwortung.

Die Hintergründe von Hassäußerungen im Internet habe ich schon eigens thematisiert. In diesem Zusammenhang wird noch die Komponente der Grausamkeit näher beleuchtet. Grausamkeit bedeutet, dass anderen Menschen Leid zugefügt werden soll, aus welchen Motiven auch immer, oft auch verbunden mit einer Lust an der Demütigung und am Leiden anderer. Für Grausamkeiten gibt es keine Rechtfertigung, sondern es handelt sich um ein Laster, eine gravierende menschliche Schwäche, die in allen Bereichen individuell und kollektiv überwunden werden muss. Die Frage, ob die Menschen eine Disposition zur Grausamkeit in ihrer Erbsubstanz haben oder ob Grausamkeit nur entsteht, wenn aufgearbeitete Traumatisierungen wirksam werden, muss hier nicht geklärt werden; klar ist, dass äußere Umstände notwendig sind, die die Ausübung von Grausamkeit erlauben, wie z.B. der Krieg, und wie auch in geringerer Ausprägung die anonyme Welt der sozialen Medien.

Kultur der Intensität


Deshalb muss die Aufklärung auch und gerade in diese Bereiche hineinwirken. Zum einen besteht sie im täglichen Geschäft der Informationsprüfung, um Klarheit in den Fluss der konkurrierenden Meinungen zu bringen. Zum anderen braucht es eine Kultur der Intensität, also eine Bildung im Bereich der Sensationslust und der Ereignisfixierung. Sie kann darin bestehen, herkömmliche Kulturtechniken wie das Lesen von Büchern, das Argumentieren und das Recherchieren mehr zu pflegen und damit einen Ausgleich zur digitalen Reizüberflutung zu schaffen. Wir sind auch gefordert, neue Formen des Austausches und der Kommunikation zu erfinden, die die Prinzipien des herrschaftsfreien Diskurses beachten und wirksame Gegengewichte gegen die Gewaltaufladung in den Netzwerken bilden können. Wir können die Intensität in der Bildung und im gewaltfreien Diskurs, in der Neugier und im Interesse finden, und werden in diesen Formen mehr Befriedigung als im Ausleben von Grausamkeit finden.

Literatur:
Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Nicolai, Berlin 2019

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1981

Zum Weiterlesen:
Die soziale Utopie als Hoffnungsträger
Die Illusionsmaschine Internet und die Ethik

Hass im Internetzeitalter

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