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Mittwoch, 20. August 2025

Religion und Krieg

Religionen verkünden das Absolute. Sie wollen die Menschen dazu bewegen, ihre Alltagssorgen hinter sich zu lassen und dem Absoluten die Priorität im Leben zu geben. Da das Glauben an das Absolute keine reine Gefühlssache sein kann, appellieren sie an die höheren kognitiven Funktionen, mit denen die Menschen ihre Impulse und Gefühle kontrollieren können.  In komplexen Konfliktfeldern kann nur mit Hilfe dieser Funktionen das Ausbrechen von Kriegen verhindert werden, bzw. kann nur über diesen Weg Friede nach Kriegen geschlossen werden. 

Der Friede spielt deshalb eine wichtige Rolle in den Religionen und steht im Zentrum der Botschaften von Religionsstiftern und hohen Vertretern von Religionsgemeinschaften. Und doch kommt es immer wieder vor, dass die Religionen an Kriegen beteiligt sind oder solche sogar auslösen. 

Die Übersetzungsprobleme des Absoluten

Die Verkündigung des Absoluten stößt immer wieder auf Schwierigkeiten, weil das Absolute in die Sphäre der relativen menschlichen Sprache übersetzt werden muss. Deshalb ist die Verkündigungspraxis untrennbar mit den menschlichen Schwächen, ihren Impulsen und Gefühlen verbunden. Alle Religionsstifter, alle Heiligen und Propheten waren Menschen mit Stärken und Schwächen. Sie waren vom Absoluten begeistert und fühlten sich davon in einer grundlegenden Weise verändert und befreit. In diesem Zustand waren sie für viele andere, die an ihren Sorgen und Ängsten litten, ein leuchtendes Vorbild, dem sie nachfolgten, um auch in einen Zustand des Glücks und der Befreiung zu gelangen. Mit jeder relativen Vermittlung, also mit jeder Predigt oder jedem heiligen Text, wird die Botschaft des Absoluten verwässert und widersprüchlicher. Jeder nimmt sich aus der Verkündigung das, was er gerade für die eigene Bedürfnislage braucht. Und schon dient die Religion nicht mehr der Annäherung an das Absolute, sondern ordnet sich den Interessen der Menschen unter. 

Deshalb kann z.B. die russisch-orthodoxe Kirche den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine rechtfertigen. Das Oberhaupt dieser Kirche bezeichnet den Krieg als „metaphysischen Kampf“ zwischen Russland (als Verteidiger traditioneller Werte, vor allem des Patriarchalismus) und einem „dekadenten“ Westen. Diese Position hat nichts mit dem Absoluten zu tun, sondern nutzt den Anschein der göttlichen Nähe für politische und kulturkämpferische Propaganda. Die militärische Gewalt wird unter Missbrauch religiöser Formeln geheiligt.

Zwar bringt jede Religion Strömungen hervor, die das Absolute wieder ins Zentrum stellen wollen (z.B. die Ordensgründungen oder die Reformationen im Christentum oder der Sufismus im Islam), doch werden diese Versuche der Zurückführung auf die eigentliche Botschaft entweder selbst wieder institutionalisiert oder sie bleiben Randphänomene. Die Reformation hat z.B. evangelikale Kirchen hervorgebracht, die in den USA strikt nationalistisch auftreten und die aggressive Migrationspolitik der gegenwärtigen Regierung unterstützen. 

Religion und Angsterzeugung

Es ist den Religionen gelungen, mehr Ethik ins Volk zu bringen. Insbesondere monotheistische Religionen (Christentum, Islam) nutzen das Jenseits als ethisches Korrektiv für das Diesseits. Wer hier nach dem Guten strebt, wird dort mit ewiger Glückseligkeit belohnt. Anders im Hinduismus: Wer hier Gutes bewirkt, kann mit einer besseren Wiedergeburt rechnen; wer nur Gutes tut, wird sogar vom schicksalhaften Rad der Wiedergeburten befreit. Zugleich haben die Religionen aber neue Ängste geschürt: Wer nicht ihren Richtlinien folgt, muss mit ewiger Verdammnis oder mit grauslichen Widergeburten rechnen. Das Tun des Guten wird mit der Angst vor Bestrafung verbunden, und das eigentliche Ziel der Religion, Menschen dazu zu bringen, von sich aus das Gute zu  tun, wird verfehlt. 

Die Angstmache der Religionen rückt sie näher zur Sphäre der Gewalt. In vielen Religionen hat dagegen das Prinzip der Gewaltfreiheit einen wichtigen Platz. Der große Vertreter des gewaltfreien Widerstandes, Mahatma Gandhi, hat die Idee der Gewaltfreiheit aus dem Hinduismus übernommen („Ahimsa“) und von der bloßen Vermeidung von Gewalt zu einer aktiven Haltung des Mitgefühls auch gegenüber Gegnern erweitert.

Muhammad spricht in frühen Suren des Korans von Gewaltfreiheit und von der Einschränkung der Gewalt. Der umstrittene Begriff des „Dschihad“ (eigentlich: „Anstrengung auf dem Weg Gottes“) wird in der späteren Schriften im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, in die der Prophet verwickelt war, auch auf militärische Handlungen ausgeweitet. Zur Verteidigung und zur Ausbreitung des Glaubens ist Gewalt nach der Scharia gerechtfertigt. 

Auch das Christentum ist in seiner Geschichte sehr ambivalent mit dem Thema Gewalt verstrickt. Bekanntlich wurden die Kreuzzüge mit äußerster Brutalität geführt. In verschiedenen Kriegen haben Kirchenvertreter Waffen gesegnet und Kriege gutgeheißen, wenn nicht sogar angezettelt. Diese unrühmlichen Rollen wurden durch die Wiedererinnerung an die Friedensbotschaft des Christentums  in längeren Lernprozessen zumindest von Teilen der Amtskirchen verabschiedet.

Vermischung von Absolutem und Relativem

Religionen enthalten immer absolute und relative Wahrheiten. Sobald sich Religionsvertreter in weltliche Belange einmischen, laufen sie Gefahr, den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheit auf die relativen Dinge zu übertragen. Das Absolute ist ungeeignet, gesellschaftliche Konflikte zu lösen, vielmehr werden Kompromisse verhindert, sobald absolute Ansprüche erhoben werden. 

Aus dieser Vermischung erwächst der Fanatismus, in dessen Namen schon viele Gewalttaten begangen wurden. Im Gefühl der Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit wird Böses begangen, ohne Einsicht und Reue, sondern mit der Überzeugung, dem Guten nur auf diese Weise zum Durchbruch verhelfen zu können.

Höchste Erlaubnis für Gewalttätigkeit

Die von den Religionen in der Geschichte bis heute immer wieder entfachte Wucht an Aggressivität wurzelt darin, dass religiös geprägte Religionsvertreter aus missverstandener Treue an das Absolute Gewalt rechtfertigen und dazu ermutigen. Sie nutzen die Autorität des Absoluten, um ihren Anhängern einen Freibrief zu geben, ihre Wut an anderen Menschen auszulassen. Viele Menschen haben große Mengen an Wut in sich aufgestaut, gespeist aus den verschiedensten Quellen der eigenen Lebensgeschichte. Mit einem Heiligenschein versehen, darf sich die Wut an unschuldigen Opfern austoben, scheinbar als Dienst am Absoluten. In Wahrheit sind es Machtinteressen von verblendeten Menschen, die aus solchen angezettelten Blutvergießen ihren Nutzen ziehen. Die Vollstrecker der Gewalt dienen als nützliche Idioten der Anstifter, und diese hängen sich den Mantel des Absoluten um, um ungeschoren davon zu kommen und ihre Schäfchen ins Trockene bringen zu können.

Klare Grenzen als Voraussetzung für die Humanität

Dort, wo es gelingt, eine klare Grenze zwischen den absoluten und den relativen Wahrheiten zu ziehen, wird dem Kaiser gelassen, was des Kaisers ist, und Gott das, was Gottes ist. Die Kirche bleibt im Dorf, und die Heiligen versuchen nicht, auf mächtige Politiker zu spielen. Dann macht sich die Religion keine Finger mit den hässlichen Geschäften um Krieg und Gewalt schmutzig, sondern besinnt sich auf ihre eigentliche Rolle, die im Übersetzen des Absoluten in die relative Welt der Menschen besteht. 

In vielen Kulturräumen der Welt ist diese Grenzziehung noch immer verschwommen, und dadurch entsteht viel Unheil. Gewalttaten und Kriege werden im Namen und mit Billigung der Religion ausgeführt, scheinbar bewaffnet mit dem Segen Gottes und besessen von der Unerbittlichkeit des Absoluten. Die verführerische Macht absoluter Aussagen bringt noch immer viele Menschen dazu, an sie zu glauben und ihr ohne Kritik zu folgen. Unmenschliche Taten werden mit der Aussicht auf himmlischen Lohn verherrlicht, während sich die religiöse Botschaft gerade selbst ins Absurde dreht, gegen sich selbst gerichtet. Eher über lang als über kurz graben sich die Religionen in ihrem Machtrausch den Boden ab, auf dem sie entstanden sind. Sie merken nicht, dass sie sich mit den Kräften verbündet haben, die sie in ihren Predigten als den Teufel brandmarken. 

Menschen, die sich nicht von Absolutheitsansprüchen verführen und blenden lassen, wenden sich mit Abscheu von der Heuchelei und Verlogenheit von Religionen ab, die Wasser predigen und Blut trinken. Aufrechte und würdebewusste Menschen können nur glauben, was glaubhaft ist, was also von ethischer Integrität getragen ist. 

Gesellschaftlicher Bedeutungsverlust und spiritueller Gewinn

Die Krise des Christentums in den aufgeklärten Ländern West- und Nordeuropas hat mit den inneren Widersprüchen zu tun, die aus der Vermischung relativer Machtansprüche mit der absoluten Botschaft entstanden sind.  In der Rückbesinnung auf den ursprünglichen Verkündigungsauftrag haben sich diese Kirchen einerseits mehr der Mystik, also der direkten Erfahrung des Absoluten, und andererseits der Caritas, der Vermenschlichung des Absoluten im Einsatz für die Hilfsbedürftigen und Schwachen der Gesellschaft zugewandt und sind dadurch wieder glaubhaft geworden.

Der Deutungs- und Bedeutungsverlust der Religionen als Folge der Religionskritik der Aufklärung ist ein Prozess, der für die Vermenschlichung der Gesellschaften unabdingbar ist. Es handelt sich um eine Art der Gesundschrumpfung. Erst dann, wenn sich die Religionen auf ihren von ihren Stiftern vorgegebenen Weg der Liebe und Demut zurückbegeben, können sie den Menschen eine Orientierung anbieten, die sie aus der Gewaltbereitschaft zur Friedfertigkeit führt.

Die Religionen haben nur eine Zukunft, wenn sie sich bedingungslos auf die Seite der Friedensstifter stellen und in Kriegen nie auf der Täter-, sondern immer auf der Opferseite stehen. Indem sie auf alle Machtansprüche verzichten, können sie ihre Kräfte dem Dienst an den leidenden Menschen widmen. Sie gewinnen dadurch die ethische Integrität, mit der sie gegen alle destruktiven Strömungen auftreten können. Sie werden zu Vertretern der menschlichen Vernunft und unterstützen die Projekte der Vermenschlichung gegen die Egoismen. 

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriege entstehen in den Köpfen
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?

 

Freitag, 5. Juli 2019

Gott und das Absolute

Mit dem Absoluten meinen wir etwas, das sich dem relativen Begreifen entzieht, das aber notwendig ist für unser Selbstverstehen, Welterklären und Welterleben. Das Absolute hat die Eigentümlichkeit, dass es der üblichen Sinneserfahrung nicht zugänglich ist, dass es nicht in Worte gefasst werden kann und dass es sprachlich nicht eindeutig kommuniziert werden kann. Es kommt also wie eine Leerstelle zwischen lauter konkreten Dingen vor. Sobald wir in unserer Erfahrung in diese Leerstelle geraten, fällt alles ab, was wir an Konkretheit brauchen, weil sich eine neue Form der Konkretheit zeigt. Es erscheint alles in sich klar und verständlich. Doch sobald diese Erfahrung kommuniziert wird, gerät sie in die Sphäre des Relativen und wird missverständlich und missverstanden.

Von diesem Dilemma ist auch der Gottesbegriff betroffen. Die spirituelle oder mystische Erfahrung kann möglicherweise aus der Perspektive der erfahrenden Person am besten mit „Gott“ beschrieben werden. Doch sobald die Erfahrung als „göttlich“ oder „von Gott kommend“ kommuniziert wird, ergeben sich die Komplikationen. Denn der Gottesbegriff hat in der relativen Welt der Kommunikation unendlich viele assoziative Anbindungen, die die unterschiedlichsten Narrative bei den Empfängern der Kommunikation aktivieren. Die einen denken an den strafenden, die anderen an den liebenden Gott, die einen an den Gott der Kreuzzüge oder IS-Gewalttaten, die anderen an Mutter Teresa und all die frommen Wohltäter. 


Die Blutspur des Gottesbegriffs


Der Gottesbegriff hat eine sehr lange Geschichte und ist in vielen Traditionen in unterschiedlicher Weise prominent vertreten. Seine Verwendung reicht von der schwarzen Pädagogik über die Machtpolitik bis zu hohen Sphären der Frömmigkeit und Mystik. Dementsprechend vage und schillernd ist der Begriff. Er kann Haltungen von Hingabe und Ergriffenheit ebenso auslösen wie Aggressionen, Spott und Abscheu.

Dem Gottesbegriff haftet eine lange und breite Blutspur an, die sich bis in die Gegenwart zieht. Natürlich haben viele Menschen durch ihren Glauben an Gott Trost und Lebenssinn erfahren, aber als repräsentativer Begriff für das Absolute ist der Gottesbegriff durch seine Geschichte nachhaltig desavouiert. Wir können zwar auf eine Zukunft hoffen, in der nicht mehr im Namen Gottes gemordet, geurteilt und bestraft wird, in der nicht im Namen Gottes Menschen zu von ihnen ungewollten Handlungen gezwungen werden oder zu Gewissensqualen genötigt werden. Selbst wenn eine solche Zukunft der Gewaltfreiheit je eintreten würde, kann der Teil der Geschichte, den Gott mit seinem Namen überschattet hat, nicht zum Verschwinden gebracht werden oder ignoriert werden.  

Im Grunde bräuchte es eine Mediation zwischen der Menschheit und Gott, um diese Schuld auszugleichen. In diesem Prozess müsste die Menschheit Gott verzeihen, was er/sie an Gewalt und Leid im eigenen Namen zugelassen hat oder wofür er/sie sogar verantwortlich zeichnet.  Es ginge dabei also nicht nur um ein Verzeihen, das die Menschen für ihre Taten seit alters her von Gott erflehen, um das sie beten sollen und dessen sie dennoch nie sicher sein können. Es ginge um eine versöhnende Begegnung auf Augenhöhe. 

Natürlich ist das nur ein Gedankenspiel, und jeder Theologe würde einwenden, dass ein Absolutes nicht mit einem Relativen auf eine Ebene gestellt werden kann. Aber diese Überlegung weist darauf hin, wie schwer der Name Gottes belastet ist und Übles in der Menschheitsgeschichte verursacht hat, sodass er mehr und mehr Menschen dazu bringt, überhaupt jeder Form von Transzendenz oder Absolutheitsannäherung abzuschwören. Man könnte deshalb sagen, der Gottesbegriff hat mindestens soviel zur Relativierung und Zerstörung des Sakralen in der Moderne beigetragen wie er andererseits vorher den Aufbau der Religiosität befördert hat.

Die Rechtfertigung des theologisch motivierter Seite von theologischer Seite stellt fest, dass die Gräueltaten der Menschheitsgeschichte von den Menschen selber gemacht wurden und deshalb von ihnen zu verantworten sind. Das ist klar, und klar ist auch, dass in vielen Fällen Gott als Motiv für diese Untaten benutzt wurde und wird. Eine Bezeichnung für das Absolute, die solches zulässt und die Menschen dazu verführt, besonders grausam und zugleich uneinsichtig gegen andere Menschen vorzugehen, kann deshalb nur mehr mit äußerster Vorsicht in den Mund genommen werden. Zu erwarten, dass die Menschen ihm fraglos ihren Glauben schenken sollen, verkennt diese Realität. Um willen des Absoluten, das vermutlich zum Menschsein gehört wie die Anfälligkeit zu Unachtsamkeiten und Bosheiten, braucht es Bezeichnungen und Begrifflichkeiten, die weniger stark belastet und korrumpiert sind.


Das Absolute ist nicht verfügbar


In einem ersten Schritt sollte jedenfalls klargestellt werden, dass das Absolute auch unter dem „Markenbegriff“ Gott nicht verfügbar ist, für keinerlei menschliche Zwecke und Absichten. „Gott“ ist für keine Verwendung geeignet und darf von niemanden in Dienst genommen werden, sondern taugt einzig und allein für die Bezeichnung einer Leerstelle, der sich die Menschen nur mit lauterer Gesinnung und reinem Herzen annähern können. 


Der Weg der Mystik


Es bleibt jenseits von den Religionen oder in deren Kern nur der Weg der Mystik für diese Annäherung. Dieser Weg beinhaltet die Bereitschaft, auf alle Sicherheiten und Vorannahmen zu verzichten, einschließlich jener eines Gottesglaubens in jedweder Form und Denomination (Ein Gott mit hundert Namen, ein Gott in drei Personen, ein Gott mit einem Bund mit einem Volk usw.). 

Um es salopp zu formulieren: Für den Job als Gott ist nur geeignet, wer bereit ist, sich sofort und völlig zurückzuziehen, sobald im eigenen Namen irgendein Missbrauch für menschliche Machenschaften getrieben wird. Er/sie muss auch bereit sein, sich dort zu verabschieden, wo jemand die Leere ohne alle Begrifflichkeit und Formen betritt. 


Der Gottesbegriff als Krücke


Manchem, der sich auf dem Weg der Mystik, also auf der vorurteilsfreien Suche nach dem Absoluten befindet, wird Gott als Krücke zum Mysterium dienen, manche Mystiker nutzen den Begriff auch als Chiffre für das Unnennbare, andere verzichten auf diese Bezeichnung. All diese Spielarten der Vermittlung des Absoluten befinden sich im Raum des Relativen der menschlichen Kommunikation und die jeweiligen Vorlieben sind dem subjektiven Geschmack überlassen. 

Es steht also jedem frei, Gott zu benennen oder nicht zu benennen, wie es jeweils passt. Aus der hier vorgestellten Problematisierung des Gottesbegriffes folgt nicht, dass er nicht mehr verwendet werden dürfte. Es handelt sich vielmehr um kritische Anfragen aus der Perspektive der menschlichen Vernunft und der Humanität. Aus dieser Richtung wird die unbefangene, naive und oft aggressive Gläubigkeit, die den Glauben an einen Namen heftet, in Frage gestellt. Allerdings ist das eine Frage, die sich nur jede Person selber stellen kann, und niemand hat das Recht, sich von außen in die Glaubensdinge seiner Mitmenschen hineinzumischen.

Mit diesen Überlegungen wird jedenfalls die Einteilung von Menschen in Gottesgläubige und Atheisten (oder Agnostiker) hinfällig (wobei die Gottesgläubigen manchmal den Atheisten nachweisen wollen, dass sie ja auch Gläubige sind, nämlich an die Nicht-Existenz Gottes oder an einen Gott, der nicht existiert). A-Theismus als Leugnung von etwas, dessen Existenz in Frage gestellt ist, ist schon als Begriff in sich widersprüchlich. Dazu kommt, dass er häufig in abwertender und ausgrenzender oder sogar ethisch diskriminierender Weise verwendet wird. Es gibt Menschen, die an Gott glauben, und andere, die an das Absolute oder Numinose glauben, und andere, die an all das nicht glauben, sondern sich einzig und allein auf ihre Erfahrung berufen. 


Spiritualität im gesellschaftlichen Diskurs


Um zur Entkrampfung der theologischen Diskussionen beizutragen, wird hier argumentiert, dass es befreiend und hilfreich sein kann, den Namen Gottes wegen seiner Viel- und Missdeutigkeit zu vermeiden und statt dessen neutralere und weniger historisch und emotional belastete Bezeichnungen für das Heilige, das Transzendente, das Absolute zu verwenden.

Im Sinn der herrschaftsfreien Kommunikation in der offenen Gesellschaft, die längst auf selbstverständliche Glaubensannahmen verzichtet hat und in der sich jeder spirituelle Ansatz erst argumentativ behaupten muss, ist der Hinweis wertvoll, dass es des Gottesbegriffes nicht bedarf, um die transzendente Dimension hinlänglich in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Für die Diskursfähigkeit der Spiritualität braucht es diese Flexibilität und Achtsamkeit in der Begrifflichkeit, die kritische Reflexion der Geschichte und die Toleranz für alle Formen des Glaubens und Nichtglaubens. 

Zum Weiterlesen:
Die mystische Leere
Über die Willkür im Umgang mit dem Absoluten
Gott und das Ego
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
Letzte Fragen ohne Antworten

Montag, 10. April 2017

Toleranz ist ein relativer Wert

Die Idee der Toleranz ist eine Errungenschaft der modernen Aufklärung, die im Bildungsbürgertum in Europa begonnen wurde und, verbunden mit den Menschenrechten, mittlerweile weltweit anerkannt ist. Sie besagt, dass unterschiedliche Meinungen, religiöse Bekenntnisse, Lebensweisen, geschlechtliche Orientierungen und Werthaltungen nebeneinander bestehen sollen. Niemand soll verfolgt, mit Gewalt bedroht oder unterdrückt werden, nur weil er oder sie anders ist als andere. Mit diesem Wert gelingt es einer Gesellschaft, mit Diversität zurande zu kommen und den besten Nutzen für alle daraus zu schöpfen.

Für Jahrhunderte waren die Machtstrukturen so beschaffen, dass verschiedene Minderheiten mit Gewalt von der Bevölkerungsmehrheit verfolgt und unterdrückt wurden, z.B. die Juden oder die Angehörigen von christlichen Sekten. Ethnische Minderheiten oder Menschen mit nicht heterosexuellen Orientierungen mussten sich ebenfalls vor Grausamkeiten, die jederzeit ausbrechen konnten, fürchten. Selbst Linkshänder waren lange Zeit diskriminiert. Mit aller Gewalt versuchten diese Gesellschaften, eine normierte Bevölkerung zu erzwingen. In engen Grenzen war vordefiniert, wieweit menschliches Verhalten erlaubt war. Wer diese Grenzen überschritt, wurde bestraft.

Aus verschiedenen Gründen dämmerte langsam die Einsicht, dass der Aufwand, den eine Unterdrückungsmaschinerie erfordert, in keinem Verhältnis zum erzielten Gewinn steht. Es wurde deutlich, dass die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Je mehr Korsette eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auferlegt, desto größer ist die Angst, die mit den engen Regeln eingeimpft wird. Angst hemmt Kreativität und Motivation. Ohne diese Ressourcen stagniert die Gesellschaft und entwickelt sich nicht weiter. Das ist ja im Interesse der jeweils Mächtigen, denen es um nichts als den Erhalt dieser Macht geht, aber nicht im Interesse der Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Situation verbessern wollen.

Aus diesen Spannungen entstanden die Revolutionen und Reformbewegungen, die schließlich in vielen Ländern demokratische Systeme hervorbrachten, mit dem Charakteristikum, dass die Machtträger einer Kontrolle unterzogen und in ihren Machtbefugnissen eingeschränkt wurden. Für einen Politiker in einer Demokratie ist es nunmehr nicht automatisch von Vorteil, die Diversität der Gesellschaft zu unterdrücken, vielmehr kann er besser seine Macht sichern, wenn er für den gesellschaftlichen Fortschritt eintritt.

Dieser Fortschritt erfordert die Öffnung der Grenzen des Regelwerks unter dem liberalen Motto, dass jeder soweit frei ist, als die Freiheit anderer davon nicht betroffen ist. Damit wird die Toleranz zu einem Leitmotiv der modernen Gesellschaft, von der alle ihre Mitglieder profitieren können. Jeder kann nach seinen Vorlieben sein Leben gestalten und nach seiner Façon selig werden. Ob jemand in dieses Gotteshaus oder in jenes oder in gar keines geht, geht niemand anderen etwas an. Damit können sich alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben beteiligen und ihren Beitrag leisten, ohne von der Angst vor Strafe oder Verfolgung gedrückt und gehemmt zu sein. Freie Gesellschaften, also solche, die Diversität erlauben und sogar fördern können, sind produktiver, und die in ihr lebenden Menschen zufriedener.

Damit ist die Toleranz ein ganz wichtiges Leitmotiv der Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Willkür. Dem Bildungssystem kommt eine zentrale Rolle zu, um diese Werthaltung zu vermitteln, denn sie erfordert eine kognitive Kompetenz. Emotional neigen wir dazu, Andersartigkeiten schnell abzulehnen. Für jemanden mit weißer Hautfarbe kann jemand mit einer schwarzen Hautfarbe Unbehagen auslösen und umgekehrt. Doch wir können wissen, also kognitiv erkennen, dass Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe als Menschen anerkannt werden können. Das Wissen macht uns klar, dass es nicht von der Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit abhängt, ob wir einem Menschen vertrauen können oder ob wir besser auf der Hut sein sollten.

Relative Toleranz


Obwohl die Werthaltung der Toleranz wichtig und elementar für eine demokratische Gesellschaft ist, stellt sie doch nur einen relativen Wert dar, wenn auch von hoher Priorität. Denn die Toleranz hat ihre Grenzen dort, wo sie dafür ausgenutzt wird, die Toleranz selbst einzuschränken. Redner z.B., die gegen die Toleranz hetzen und intolerante Standpunkte vertreten (Beispiel: der gegenwärtige türkische Präsident), oder Vereinigungen, die das Ziel haben, intolerante Strukturen durchzusetzen (Beispiel: fundamentalistisch orientierte moslemische Vereine), müssen im Sinn der Toleranz mit Intoleranz behandelt werden. Die Toleranz im gesamtgesellschaftlichen Sinn muss jener für Individuen oder Gruppen als Wert übergeordnet sein. Zwar gilt das Recht auf freie Gesinnung und Meinungsäußerung, d.h. jeder kann auch gegen eine tolerante Gesellschaft öffentlich reden, muss aber von anderen Kräften in der Gesellschaft kritisiert werden, damit ein Diskurs entstehen kann, in dem sich im besten Fall die besseren Argumente durchsetzen. Vereine haben ihr Recht, sich zu versammeln und dort was auch immer zu bereden. Doch sollte der gesellschaftliche Diskurs darüber entscheiden, ob Vereine, die sich gegen die Toleranz aussprechen, öffentlich (medial, finanziell etc.) gefördert werden und ob Möglichkeiten geschaffen werden, dass sich jeder darüber informieren kann, welches Programm und welche Intentionen von solchen Organisationen vertreten werden.

Eine tolerante Gesellschaft kann die Gegnerschaft gegen die Toleranz nicht tolerieren. Das kann man ihr zum Vorwurf machen, ändert aber an dieser Logik nichts. Denn die Toleranz taugt nicht zum absoluten Wert, als den ihn die Gegner der Toleranz für ihre eigene Propagandafreiheit einfordern wollen. Sie ist ein relatives Mittel, um einen hohen Grad an Freiheit im Rahmen einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wenn es nicht ausreicht, müssen andere Mittel eingesetzt werden.

Das historische Beispiel dafür ist die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland 1933, die im Rahmen der toleranten demokratischen Spielregeln die relative Stimmenmehrheit bei Wahlen bekamen und dann skrupellos die Machtpositionen ausnutzten, die ihnen der deutsche Reichspräsident eingeräumt hatte. Mit Schuld an der daraus resultierenden Katastrophe war die Schwäche der Zivilgesellschaft, entschlossen darauf zu reagieren, dass tolerante Strukturen für das Aushebeln ebendieser missbraucht wurden. Dieses drastische Beispiel sollte immer in Erinnerung bleiben, um Wiederholungen zu verhindern. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass es sich gerade jene Ewig-Gestrige in Erinnerung halten, denen es um eine Wiederholung des NS-Wahnsinns geht.

Die Achtung der Menschenwürde als absoluter Wert.


Der absolute Wert, der hinter dem Grundwert der Toleranz steht, ist die Menschenwürde und die Menschenliebe. Jeder Mensch verdient es, als Mensch Anerkennung und Respekt zu bekommen, und jeder Mensch verdient Mitgefühl für seine Leidenszustände. Auch Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Probleme mit der Toleranz, wie sie in westlichen Gesellschaften besteht, haben, verdienen diesen Respekt, obwohl ihrer Position widersprochen werden muss. Der absolute Wert der Menschenachtung beruht darauf, dass Meinungen, Einstellungen, Haltungen und Handlungen vom Menschsein als solchem unterschieden werden können und müssen. Die Achtung bezieht sich auf dieses Menschsein, während z.B. Handlungen kritikwürdig sein können, vor allem wenn sie dieser Achtung vor der Menschenwürde zuwider laufen.

Die Toleranz ist ein Wert, der aus diesem absoluten Wert abgeleitet ist und aus ihm seine normative und ethische Kraft sowie seine Attraktivität im Sinn des Fortschritts der Gesellschaften zu mehr Freiheit bezieht. Während ein absoluter Wert für die Änderungen in der Gesellschaft durch die jeweils aktuellen Herausforderungen nicht verfügbar ist, muss der relative Wert der Toleranz an diese Erfordernisse angepasst werden. Nur so kann eine Gesellschaft zugleich flexibel und stabil gegründet auf die Werte der Menschlichkeit sein.


Vgl. Die zweifache Grenze der Toleranz

Samstag, 23. Juli 2016

Schönheit wird die Welt retten

 

Die Relativität der Schönheit


Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es. Wir merken häufig, dass Schönheit vom individuellen Geschmack abhängt und dass sich über Geschmack nicht produktiv streiten lässt. Es gibt tausende verschiedene Musikrichtungen, und alle von ihnen haben ihre Anhänger und Fans und andere, die gerade diese Form der Musik nicht aushalten oder abscheulich finden. Es gibt Romane, die von vielen Menschen verschlungen und heiß geliebt werden, obwohl sie von den Kritikern in der Luft zerrissen werden und umgekehrt. Es gibt Bilder, die nach ihrer Fertigstellung keine Interessenten gefunden haben und Jahrzehnte später Millionen wert sind.

Die Vielfalt der Stilrichtungen und Ausdrucksformen ist ein Merkmal der postmodernen Kultur. Der Begriff des Schönen ist demokratisiert und parzelliert. Alles, was noch nicht oder nicht in genau dieser Form da war, wird ausprobiert. Das Schöne ist das Überraschende, provokant oder geschmeidig. Nachdem die Moderne die klassischen Schönheitsbegriffe und Geschmackskonzepte demontiert und dekonstruiert hatte, wachsen die unterschiedlichsten Pflanzen auf der kahlgeschlagenen Lichtung, die von den alten ehrwürdigen Schätzen der Kulturgeschichte umstanden ist.

Weil wir in der Metaphorik schon in der Natur gelandet sind, verfolgen wir die Überlegung weiter in den Bereich des Schönen in der Natur. Offensichtlich ist  die Divergenz der Auffassungen und Meinungen hier geringer als im Bereich der Kultur, die so unermesslich in die Breite gewachsen ist, während die Natur auch in ihrem Wandel gleich bleibt, außer dort, wo sie von der Kultur und Zivilisation zurückgedrängt und eingeengt wird. Selten werden wir auf Menschen treffen, die einen Sonnenuntergang am Meer oder den Anblick eines erhabenen schneebedeckten Berggipfels als unschön erleben, einen blühenden Rosenbusch oder ein putziges Eichhörnchen als hässlich bezeichnen würden. Aber es sind nur wir Menschen, die diese Empfindungen teilen und diese Wertschätzung erleben. Wir wissen nicht und können auch kaum davon ausgehen, dass sich der Rosenbusch selber "schön" findet und im Verblühen "hässlich" oder dass sich das Eichhörnchen bewusst ist, um wieviel schöner es ist als die Nacktschnecke, die gerade vorbei kriecht. Und dem Luchs, der dem Eichhörnchen nachstellt, sind mit Sicherheit ästhetische Kriterien bei seinem Tun fremd. 


Das Schöne in der Natur


Wir haben recht einheitliche Schönheitsbegriffe, was die Natur anbetrifft und nehmen deshalb an, dass es die Natur selber oder deren Schöpfer ist, der diese Schönheit hervorbringt, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass in ihr selber, von uns abgesehen, eine völlige Leere herrscht, was die Frage der Schönheit anbetrifft. Deshalb kann ich dem österreichischen Philosophieprofessor Konrad P. Liessmann nicht zustimmen, der meint, die Relativität des Schönheitsbegriffes mit Hilfe des Naturschönen aushebeln zu können: "Wäre Schönheit ein Konstrukt, würde sie uns in der Natur nicht begegnen können. Aber sie begegnet uns dort. Sie ist dort unsere allererste Erfahrung." (Radiokolleg am 21. Juli 2016, vgl. Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas 2016)

Wir sehen auch, dass wir in diesem Bereich lernfähig sind: Wenn wir uns genauer mit bestimmten Bereichen der Natur beschäftigen, z.B. die Pflanzen des Regenwaldes studieren, können wir unseren diesbezüglichen Schönheitsbegriff erweitern und verfeinern. Vermutlich wird ein Wurmforscher ein anderes Schönheitsempfinden in Bezug auf diese Tiere entwickeln als jemand, der seinen Blick gewohnheitsmäßigen von diesen "ekeligen" Würmern abwendet. Vielleicht empfinden wir nur das an der Natur als hässlich, womit wir uns nicht näher beschäftigt haben, sodass wir rein auf unsere instinkthaften Reflexe angewiesen sind, die uns alles sympathisch machen, was dem Kindchenschema ähnelt und z.B. Fischarten, deren Mundwinkel nach unten gehen, als grießgrämig und unattraktiv erleben lassen.


Also müssen wir uns wohl mit der relativen Fassung des Schönen zufriedengeben. Unsere unterschiedlichen Wahrnehmungsorgane und Verarbeitungsprozesse im Gehirn sowie unsere lebensgeschichtlichen Prägungen - die Werte und Urteile der Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind und mit denen wir in unseren Ausbildungen zu tun hatten - bewirken, dass sich in jedem Menschen unterschiedliche Präferenzen ausbilden, die sich im individuellen Schönheitsbegriff ausdrücken. Schön ist das, was unseren Sinnen wohlgefällt, was uns interessiert und zugleich entspannt. Und das ist in hohem Maß interindividuell variabel und verändert sich zudem im Lauf des jeweiligen Lebens, abhängig von den Erfahrungen, die wir im Bereich des Ästhetischen machen.

Schönheit ist ein Kontext, mit dem wir Erfahrungen einordnen und bewerten. Es ist also keine Eigenschaft, die den Dingen selbst anhaftet und von ihnen nur abgelesen werden müsste. Wir machen Schönheit, indem wir Erfahrungen auf einer Skala von schön bis hässlich lokalisieren, gemäß unserer inneren Empfindungsresonanz zwischen angenehm und unangenehm.


Schönheit in der Begegnung


Soweit können wir der konstruktivistischen Idee der Schönheit folgen. Es gibt dazu allerdings noch eine weitere Dimension, die die Frage nach dem Absoluten in der Schönheit, also nach dem Unbedingten und Verbindlichen im Schönen nicht als hoffnungslos überholt und überflüssig erscheinen lässt.

Wir haben am Beispiel der Naturerfahrung festgestellt, dass die bewusste Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, also das aufmerksame Erfahren und Erkunden, das Schönheitserleben verändert. In diesem Vorgang schließen wir mehr des Äußeren in unseren Innenraum ein und erweitern unser Vertrauen in unsere Umgebung. Wo Unbekanntes und Fremdes war, wird jetzt Bewusstes, Bekanntes und Vertrautes. Und Vertrautes erscheint uns leichter als schön als Fremdes, noch dazu, wenn dieses als gefährlich oder bedrohlich erlebt wird.

Der Weg des bewussten Wahrnehmens ist der Weg, mit mehr und mehr von dem, was uns die Wirklichkeit anbietet, Freundschaft zu schließen und dabei das Fremde in das Vertraute zu verwandeln. In jeder Erfahrung, die wir unter diesen Vorzeichen machen können, verschiebt sich der Fokus der Schönheitserfahrung vom Objekt auf die Beziehung: Die Erfahrung des Schönen ist eine schöne Erfahrung. Ähnlich wie wir den Austausch mit einem Menschen, der vielleicht nach gängigem Schönheitsideal als hässlich einstufen, als wunderschön erleben können, lösen wir den ausschließlichen Blick auf die Äußerlichkeit des Äußeren und verbinden ihn mit dem Blick auf die Innerlichkeit des Äußeren. In diesem Akt des Vertiefens ist es der Austausch selbst, der die Qualität des Schönen bekommt.

Ein neuer Begriff des Schönen taucht an dieser Stelle auf: Schönheit liegt im Vollzug der Wirklichkeit, im Prozess der Entwicklung und Veränderung, im Miteinander-Erschaffen (Ko-Kreativität) von Realität. Schönheit ist ein Geschehen und keine Eigenschaft, ist beweglich und nicht statisch, ist interaktiv und monologisch.
Auf diese Erfahrungsqualität bezieht sich Rilke mit der berühmten Zeile aus einem Sonett: "da ist keine Stelle, die dich nicht sieht." Es ist also das Kunstwerk, das den Betrachter in Bann zieht und im Blick fixiert. Und das hat Folgen für diesen, deshalb setzt Rilke mit Pathos fort: "Du musst dein Leben ändern." Genauer besehen, hat sich das Leben in diesem Moment schon geändert.

Es geht also nicht um ein Taxieren eines Objekts, wie bei einem Kunstmakler, der den Marktwert und die Kapitalchancen eines Kunstwerks abschätzt, sondern ein in die Tiefe gehendes Begegnen mit dem, was gerade da ist. Das Kunstwerk steckt im Erleben des Moments. Wir schließen dabei Frieden mit der Wirklichkeit, und das ist die eigentliche Schönheitserfahrung, die in jeder Suche nach dem Schönen steckt: Was ist, darf so sein, wie es ist, und darf sich so verändern, wie es sich verändert. Dann verschwindet der Unterschied zwischen Erlebendem und Erlebten, wir fallen gewissermaßen ins Dazwischen, und in die Erfahrung einer unbegrenzten und unbedingten Schönheit.

Hier haben wir den Bereich des Relativen verlassen. Wir sind im Lebensvollzug als solchem, in dem das Bedingte und Eingeschränkte, das Definierte und Bewertete, keine Rolle mehr spielt. Alles, was wir in seiner ihm eigenen Intensität und Tiefe erleben können, ist unermesslich schön, weil wir ihm in unserer eigenen unermesslichen Schönheit begegnen. Die absolute Schönheit entsteht in diesem Zusammentreffen, das sich im Moment des Aufeinander-Einlassens vollzieht und ist im nächsten Moment, in dem wir uns in unsere abgekapselte Ichhaftigkeit zurückziehen, schon wieder verschwunden.

Die absolute Schönheit kann also, wie alles andere, was wir als absolut erleben, nicht festgehalten werden. Wir können ihrer nicht habhaft und in ihr nicht sesshaft werden. Allein dadurch, dass wir unser Heim mit schönen Gegenständen und Kunstwerken vollräumen, wird unser Leben nicht schöner, außer wir nutzen die Objekte, um unser Inneres mit ihnen zu teilen, dann sind wir im Paradies der Schönheit. Und dafür braucht es nicht einmal die besonderen und herausragenden Kulturgüter oder die erlesenen und abgelegenen Naturschönheiten. Dieses Paradies können wir in jeder noch so winzigen und unscheinbaren Begegnungserfahrung mit der Wirklichkeit machen: Mit dem Wunder eines Wurms, der sich im Erdreich verkrümelt, oder eines Windhauches, der an der Nase vorbeistreicht, eines Lächelns, das uns geschenkt wird und einer Stimmung, die uns mit uns selbst verbindet.

Das heißt nicht, dass wir der Kunst in ihrer ausgeprägten Form keine Bedeutung geben müssten; vielmehr bietet sie in ihren verschiedenen Formen einen vorzüglichen Zugang zu der oben beschriebenen Erfahrungsqualität. Die Künstler konfrontieren uns konzentriert und kompromisslos mit dieser Auseinandersetzung, sie fordern uns heraus, unsere Widerstände und Gewohnheiten aufzugeben und neu und leer zu werden. Für viele Menschen ist die Kunst die einzige ihnen mögliche Zugangsart zum Absoluten. Wollen wir jedoch die Erfahrung des Absoluten tiefer und weiter in unserem Leben verankern, so nutzen wir die Kunsterfahrung und das Kunsterleben, um es auf die großen und kleinen Dinge unseres Lebens zu übertragen.


Schönheit als Hoffnung


Dostojewski hat einmal geschrieben: "Schönheit wird die Welt retten." Vielleicht dienen die oben dargestellten Gedanken dazu, dieses Zitat besser zu verstehen: Die Erfahrung der absoluten Schönheit immunisiert uns gegen alle Bestrebungen des Bösen: der Gewalt und der Zerstörung. Das Böse ist in diesem Verständnis nichts als die verzweifelte Suche nach dem Schönen, das aus Angst am falschen Ort gesucht wird, wie der Attentäter, der ein besseres Leben schaffen will, indem er andere und das eigene auslöscht.

Vgl. Aus Unterschieden lernen 
Der menschliche Körper und die Bewusstseinsevolution

Samstag, 1. August 2015

Die einfache Lehre statt Meinung als Wissen

Manche spirituelle Lehrer liefern mit ihren Einsichten in das Wesen des Menschseins
Quelle: http://www.hybridwing.com/illustration/guru-mascot/
gleich Erklärungen über die Kosmologie und die Ethik mit: Wie alles entstanden ist, wie das Bewusstsein das Sein hervorgebracht hat, was mit den Seelen vor und nach einem individuellen Leben passiert, wie das Gute und das Böse im Universum ausgeglichen wird, ob alles bestimmt und von vornherein festgelegt ist usw.

Solche Fragen interessieren viele Menschen, und sie erwarten von Lehrern, die von sich behaupten, in die Tiefe des Unerklärbaren vorgestoßen zu sein, dass sie auch zu diesen Fragen kompetente Antworten bieten können. Viele Lehrer sind auch der Meinung, dass sie über eine kompetente Ansicht zu diesen Fragen verfügen. Die Innenerfahrung, die sie zu einer radikalen Selbsterkenntnis geführt hat, kann zu der Überzeugung verleiten, jetzt über letztgültige Antworten auf kosmologische oder ethische Fragen zu verfügen, die sie selber schon lange beschäftigt haben. Jetzt, wo ihnen das Wesen der Dinge offenbar geworden ist und die Welt des Scheins und der Illusionen durchstoßen wurde, wird auch klar, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Zu vielen dieser Einsichten gibt es konkurrierende und widersprechende Erkenntnisse. Menschen finden aufgrund ihres Bildungsweges unterschiedliche Antworten zu solchen Themen. Deshalb unterscheiden sich auch spirituelle Lehrer hier voneinander: Die einen halten z.B. die Lehre von Präexistenzen und von der Seelenwanderung für ein zentrales Lehrstück, während andere nichts davon halten. Die einen nehmen an, dass alles aus Bewusstsein entstanden ist, die anderen kennen nicht einmal einen Unterschied zwischen Sein und Bewusstsein. Die einen sehen das Böse als Illusion und Schein, die anderen als Reinigungsaufgabe auf dem Seelenweg.

Es gibt keinen Konsens und es gibt keine übergeordnete Instanz, die hier über richtig und falsch entscheiden könnte. Es gilt nicht einmal die korrektive Funktion der Forschergemeinschaft, die in den Wissenschaften dafür sorgt, dass Wissen durch Nachprüfung und kritischen Diskurs abgesichert werden kann. Jeder kann auf diesem Feld also behaupten, was er/sie will.

Alles, was widersprüchlich ist, weil es dazu konkurrierende gleichwertige Ansichten gibt, gehört nicht in die spirituelle Lehre, sondern ist im besten Fall Gegenstand eines philosophischen Diskussion, im weniger guten Fall Resultat esoterischer Spekulation. Wie man spiritueller Lehrer nicht einfach dadurch wird, dass man sich als solcher bezeichnet, sondern durch einen tiefgreifenden Erfahrungs- und Lernprozess, ist man auch nicht Philosoph dadurch, dass man Meinungen über kosmologische Fragen formulieren kann. Auch die Philosophie muss gelernt und geübt werden. Sonst fällt es schwer, Argumente, die begrifflich formuliert werden und einem kritischen Diskurs standhalten können, von zusammenfantasierten, gechannelten, schlampig zusammengeflickten und schlecht recherchierten Meinungen zu unterscheiden.

Die griechischen Philosophen haben nicht umsonst den Unterschied zwischen Meinung und Wissen eingeführt, um auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu machen. Meinung ist subjektives Für-Wahrhalten, Wissen ist intersubjektiv und objektiv zustandegekommene Erkenntnis, die grundsätzlich nie fertig und abgeschlossen sein kann, sondern in einem Prozess des Werdens und der Weiterentwicklung steht, in beständiger Rückkoppelung zu einer Expertengemeinschaft und zum gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Subjektive Meinung hat keine über das Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit und Verantwortung.

So bin ich bei manchen spirituellen Lehrern und Lehren versucht zu sagen: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Wenn du einen anderen Leisten verwendest, erkläre dazu, dass es nicht deiner ist und du ihn deshalb nur unzureichend handhaben kannst. Lehre Spiritualität, wenn du spiritueller Lehrer bist; sprichst du über Themen, die ihren Ort in der Physik oder Philosophie haben, bring dazu dein ganzes erworbenes Wissen und die dazu gehörenden Kenntnisse ein, ohne zu diesen Themen deine spirituelle Autorität zu bemühen. Jeder kann zu allem und jedem Meinungen haben, schließlich gilt die Meinungsfreiheit als Grundrecht. Jedoch handelt es sich um Etikettenschwindel, mit der Autorität des Mystikers in Bereichen, die nicht zur Mystik gehören, Wahrheitsansprüche zu behaupten.

Der Leisten der spirituellen Lehre ist einfach und universell. Er lässt sich widerspruchsfrei formulieren und ist auf den suchenden Menschen abgestimmt: Was braucht es, damit die Freiheit vom Leiden erlangt werden kann? Was braucht es, damit Liebe und Mitmenschlichkeit zum vordringlichen Motiv wird? Was braucht es, um zum inneren Frieden zu gelangen?

Zur Beantwortung dieser Fragen braucht es keine Erkenntnisse über den Anfang der Welt, nicht einmal über den Anfang des Leidens oder des Bösen. Es braucht keine Einsichten in die Kosmologie oder Erkenntnistheorie.

Es genügt, den Menschen, die den Weg zur Befreiung suchen, diesen zu weisen. Dazu gehört es auch, ihnen klarzumachen, dass sie keine Antworten auf die Fragen nach Anfang und Ende, nach Sinn und Unsinn, nach Zufall und Bestimmtheit benötigen, um frei zu werden.

Die spirituelle Lehre hat ja gar nicht den Sinn, allgemeine Fragen zu beantworten. Sie dient dazu, Menschen bei ihrer Suche zu unterstützen. Sie ist deshalb, obwohl sie in ihrem Inhalt universell ist, auf die Individualität des Suchers abgestimmt. Jeder Sucher kann die Wahrheit nur in seiner eigenen Sprache verstehen, da jeder seinen eigenen Käfig mitbringt, zu dem es einen eigenen Schlüssel gibt. Wenn kosmologische Rätsel oder ethische Konflikte Teil des individuellen Käfigs sind, genügt ein Hinweis darauf, dass es auch zu diesen Fragen weiterführende Einsichten gibt, dass diese aber nicht für die mystische oder spirituelle Suche von Bedeutung sind.

Die mystische Lehre hat gar keine allgemeine Form. Sie erfüllt ihre Aufgabe, wenn die Botschaft beim Suchenden ankommt. Darum muss sie für jede Situation und für jeden Menschen neu formuliert werden. Die absolute Wahrheit verfügt über keine Versprachlichung, die überall angewendet und verstanden werden könnte. Sie muss sich ihre Versprachlichung stets aufs Neue suchen.

Samstag, 11. Januar 2014

Geschlossene Systeme und ihr Zentrum


Geschlossene Systeme kreisen um ein Zentrum. Darin befindet sich etwas, das nicht in Frage gestellt, kritisiert oder verändert werden darf und kann. Das Zentrum wird absolut gesetzt und der relativen Sphäre entzogen. Es wird mit einer Sphäre des Glaubens umgeben. Das Wissen endet an der Schwelle zum Zentrum, Zutritt zu ihm hat nur, wer bedingungslos glaubt.


Zentren in den Religionen


Bei den Offenbarungsreligionen befindet sich die Offenbarung im Zentrum. Dort hat Gott zu Menschen gesprochen, und das, was er da gesagt hat, gilt absolut, darf also keiner Relativierung ausgesetzt werden. Bei (anderen?) Sekten ist es häufig das Wort des Sektengründers oder der Gründerin, das kritiklos akzeptiert werden muss. Und wenn er aus seiner höheren Eingebung befiehlt, dass sich alle Gruppenmitglieder umbringen müssen, dann wird dem auch kritiklos Folge geleistet.

Im geschlossenen System ist also das Zentrum absolut gesetzt, und alles herum ist relativ, auf das Zentrum bezogen. Das Zentrum entscheidet, was richtig und was falsch ist, und diese Entscheidungen gelten absolut. Das Zentrum ist vollkommen, und alle außerhalb davon ist unfertig und fehlerhaft. Meist gilt auch: Je näher jemand dem Zentrum kommt, desto näher kommt sie der Vollkommenheit. Wer sich daran hält, kann Karriere machen (z.B. im geschlossenen System einer Diktatur), wer sich nicht daran hält, muss mit schlimmen Konsequenzen rechnen (z.B. ein längerfristiger Aufenthalt in der Hölle im Fall des Christentums oder Islams). 

Das Zentrum generiert die Regeln, die das geschlossene System geschlossen halten, obwohl sich die Zeit weiterbewegt und dauernd neue Einflüsse auf das System einwirken. In der katholischen Kirche galt der Satz: "Roma locuta, causa finita." - Wenn Rom gesprochen hat, ist der Fall abgeschlossen. Innerhalb des geschlossenen Systems dürfen so lange unterschiedliche Meinungen vertreten werden, darf es also so lange offene Systeme geben, bis das Zentrum gesprochen hat, was die Wahrheit ist, dann müssen alle den Mund halten und gehorchen. Die Geschlossenheit ist wieder hergestellt.

Für die katholische Kirche gilt also Rom und damit der Papst (als Stellvertreter von Jesus Christus auf der Erde) als Zentrum. Er wurde ja im 19. Jahrhundert mit der Gabe zu unfehlbaren Lehrmeinungen betraut. Aus diesem Zentrum fließen alle Regeln, die der Gläubige für sein Leben braucht, um sich in den richtigen Bahnen zu bewegen. Jeder neue Einfluss muss geprüft werden und wird entweder gebilligt oder verworfen. Deshalb gab es einen Index mit verbotenen Büchern, Dogmen, die dadurch definiert waren, dass jeder als Ketzer gilt, der nicht an sie glaubt, Verfahren gegen Angehörige der eigenen Kirche, die abweichende Meinungen vertreten, Verurteilungen von Gedanken oder Ideen, die außerhalb der Kirche entstanden sind und vor denen die Gläubigen gewarnt werden müssen - defensive Maßnahmen mit dem Zweck der Absicherung der Geschlossenheit. 

Diese riesige Aufgabe kann natürlich angesichts einer Welt, die immer komplexer wird, nicht mehr erfüllt werden. Deshalb scheint es, dass der neue Papst eine neue Richtung gewählt hat, sich mehr um die Anliegen der Menschen, vor allem der Benachteiligten, zu kümmern als um die Einhaltung von Lehrmeinungen, eine Richtung, die mehr Offenheit verspricht.

Gegen den Zentralismus der römischen Kirche, der ja auch das Zerwürfnis mit dem osteuropäischen Christentum bewirkt hat, ist auch Martin Luther aufgetreten. Es war ein Anliegen der Reformation, das römische Zentrum mit dem Papsttum aufzusprengen und durch das alleinige Zentrum der schriftlichen Ofenbarung zu ersetzen. Luther versprach sich durch die Etablierung einer abstrakteren Zentrumsidee mehr Öffnung, schuf aber keinen grundsätzlichen Ausweg aus der Geschlossenheit. Deshalb kam es zu einer enormen Aufsplitterung der Kirchen in diesem Sektor des Christentums, wobei jeweils das Ziel verfolgt wurde, einer bestehenden Zentrumsbildung durch die Bildung eines neuen Zentrums des "noch wahreren" Christentums zu entkommen. Offenbar ergab sich dadurch die Dynamik, dass, je kleiner das System wurde, das Zentrum umso absoluter gesetzt werden musste, sodass sich die engsten christlichen Fundamentalismen gerade in diesen evangelischen oder evangelikalen Teilkirchen finden. (vgl. Kreationismus).


Politischer Zentralismus


Auch im Bereich der Politik wird mit sakrosankten Zentren operiert. Viele politische Bewegungen versammeln sich um eine zentrale Idee, die für unantastbar erklärt wird. Um sie zu verwirklichen, wird mit allen Mitteln gekämpft, da ja der Zweck die Mittel heiligen soll. Ein Beispiel dafür lieferte Robespierre, der am Höhepunkt der französischen Revolution den Kult der Vernunft ausgerufen hat. Wer als Bedrohnung für diesen höchsten Wert angesehen wurde, wurde gnadenlos der Todesmaschinerie überantwortet. 

Ein einfacher Blick auf die Krisen- und Kriegsgebiete der heutigen Welt zeigt nicht nur die massiven und bedauernswerten Lebensvernichtungen, Zerstörungen und Entmenschlichungen, die dort stattfinden. Es zeigt sich auch leicht das Zentrum der jeweiligen Ideologie, die hinter dem Treiben der Konflikt- und Kriegsparteien als Zündkraft steckt. Manchmal sind in diesen ideologischen Zentren die historischen Fäden so dicht versponnen, dass sie sehr komplex wirken. Im Grund dreht es sich um Überlebensängste, aus denen die jeweilige Ideologie den einzig möglichen Ausweg verspricht und zu der sie den hauptsächlichen Widerpart und Erzgegner benennt, der bekämpft werden muss.

Als Beispiel aus der österreichischen Innenpolitik zeigen sich bei der Frage nach der Reform der Schulorganisation unübersehbar die ideologischen Festlegungen, die als wichtiger angesehen werden als alle inhaltlichen Erfordernisse einer zeitgemäßen Schulbildung. Bevor ein Wert in diesem Zentrum ausgegeben oder auch nur neu definiert wird, wird alles darangesetzt, um den gegenwärtigen Zustand einzumauern.


Sinnfindung ohne Zentrum


Auch im kleineren Rahmen einer immer pluraler werdenden Welt der Sinnangebote spielt diese Zentrumsbildung immer wieder eine wichtige Rolle. Zwar treten viele dieser Ansätze mit dem expliziten Anspruch der Öffnung an, übersehen aber allzu leicht die eigenen zentralen Vorannahmen und Festlegungen, die der Erfahrung, in der der Sinn gefunden werden soll, entzogen bleiben und statt dessen geglaubt werden müssen. Der Bogen reicht hier von Richtungen der Lebenshilfe, Psychotherapie zu den unterschiedlichen Schulen und Bewegungen, die es im esoterischen und spirituellen Bereich gibt. 

In der Psychotherapie sind es oft die Gründungspersönlichkeiten, deren Anliegen und Ausführungen wie ein Heiligtum im Zentrum aufbewahrt werden und an denen alles, was sich erneuern möchte, erst messen muss. Auch gibt es Leitkonzepte, die ein Therapeut einmal übernommen hat, weil sie ihm selber geholfen haben, und die er dann bei jeder Klientin anwendet, ohne darauf zu achten, ob sie passen oder nicht. Deshalb ist die fortlaufende Selbstüberprüfung wichtig, um die Therapie ideologiefrei zu halten. Der Leitsatz, gemeinsam mit jedem Klienten eine neue Therapie zu erfinden, hilft, aus der Tendenz zu geschlossenen Konzepten herauszuführen, weil er zur beständigen Offenheit für die Erfahrung im Moment ermutigt.

Die esoterische Szene ist geradezu dadurch definiert, dass sie ihre Anhänger mit versteckten Zentrumsideen gewinnt. Traue deiner Erfahrung, aber glaube alles, was drumherum als Erklärung angeboten wird. Wenn du eine gute Erfahrung gemacht hast, dann erkärt dir das jeweilige System, welchem Engel, Außerirdischem oder Aufgestiegenem du sie zu verdanken hast. Solltest du Zweifel an den entsprechenden Zentren der Lehre hast, wird an dir ein Mangel an Reife und Bewusstheit diagnostiziert, wofür das Zentrum auch die rechte Abhilfe anbieten kann.

Spirituelle Lehrer sollten sich von esoterischen Angeboten dadurch unterscheiden, dass sie ihre Schüler zur konsequenten Eigenerforschung anleiten. "Suche nach dem, was für dich im Innersten stimmig ist und befreie dich von allen Modellen und Konzepten." Solche Anregungen sind offen, weil sie nicht vorgeben, was das Ergebnis der Erforschung sein soll, sondern der Innenerfahrung der Schülerin jede Freiheit lassen.

Allerdings haben viele spirituelle Lehrer ein "Allerheiligstes", einen Kern ihrer Lehre, und häufig fordern sie von ihren Anhängern die Übernahme ihrer Konzepte, ohne dass sie bereit sind, die Zentren ihrer Anschauungen preiszugeben. Dort, wo sich innerhalb von spirituellen Bewegungen oder Gruppen Abhängigkeiten und Machtthemen entstehen, steckt ein unterschwelliges Zentrum dahinter, um das gekämpft wird.

Wenn wir uns auf ein systemisches Bewusstsein einlassen, stellen wir uns der Herausforderung, zu lernen, ohne absolutgesetzte Zentren zu leben. Wir erkennen dann die Wichtigkeit, solche Zentren innerhalb der geschlossenen Systeme, die uns begegnen, ausfindig zu machen, zu benennen und Alternativen zu entwerfen, die ohne Zentrum auskommen. Wir sind zwar daran gewöhnt, dass wir für unsere innere und äußere Sicherheit etwas brauchen, was sich nicht verändert, was immer gilt und was uns für jede Situation eine Orientierung vorgibt. Wir haben aber auch die Kraft und die innere Stärke, die Illusionen zu durchschauen, die uns solche scheinbar sicheren Orientierungspunkte und Kernkonzepte zu geben vermeinen. Jede dieser Illusionen, die wir verabschieden können, tauschen wir gegen ein wertvolles Stück innerer Freiheit ein.

Donnerstag, 28. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur

Wenn wir den Unterschied zwischen den relativen Wahrheiten und der absoluten Wahrheit gut verstanden haben, haben wir einen wichtigen Aspekt der Klarheit nicht nur für unseren spirituellen Weg, sondern auch für das Verständnis der menschlichen Gesellschaftsformen gewonnen.

Verwechslungen im Typ der Wahrheit, die immer auch mit Prä-Trans-Verwechslungen im Sinn von Ken Wilber zu tun haben, liegen an der Wurzel vieler Konflikte, innerer Konflikte, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Konflikte. Ich möchte in diesem Beitrag einige Themen in diesem Zusammenhang aufgreifen und auch darauf eingehen, wie wir mit solchen Konflikten umgehen können.

Menschen unterliegen immer wieder ihrer Tendenz zur narzisstischen Selbsttäuschung. Das wird uns immer dann passieren, wenn wir aus dem Fließen des unmittelbaren Erlebens dessen, was jetzt gerade da ist, aussteigen. Vermutlich geschieht das, weil sich ein verstecktes ungelöstes Thema meldet, das mit Angst besetzt ist. Irgendetwas, das wir denken oder wahrnehmen, erinnert uns an eine frühere Erfahrung, die wir damals nicht integrieren konnten. Die Aufmerksamkeit geht zurück zu dieser Erfahrung bzw. zu den Gefühlen und Gedanken, die damit verbunden waren. Wir sind plötzlich in einem Film aus der Vergangenheit und nicht mehr bei dem, was jetzt gerade geschieht.

Wir merken allerdings nicht, dass wir gar nicht mehr wirklich anwesend, sondern von unserem Kopfkino beherrscht sind. Aus diesem selbstgetäuschten Selbstverständnis heraus nehmen wir leicht die Pose eines Rechthabers ein, der über alles und jedes das richtige Urteil hat. Wir werfen uns in die Haltung eines Verkünders absoluter Wahrheiten und fühlen uns berufen, die anderen darüber zu belehren, was jetzt in Wirklichkeit und eigentlich Sache ist und was genauso klar daneben und falsch ist.

Mit solchen Aktionen, die ja andauernd und fortlaufend im täglichen Leben passieren, stiften wir vor allem eine Verwirrung, in die wir andere verwickeln und uns selber. Deshalb zählt es zu den wichtigsten Lernaufgaben auf dem Weg zur absoluten Wahrheit, ein feines und zuverlässiges Gespür dafür zu entwickeln, wann wir den Bezug zu ihr verloren haben und dabei zu erkennen, welchen typischen Neigungen zur Selbsttäuschung wir bei solchen Gelegenheiten gerne verfallen.

Die Demagogen


In verschiedenen Sektoren der Gesellschaft treten charismatische Personen auf, die Einfluss und Macht gewinnen, auch wenn zugleich deutlich wird, wie stark sie sich dabei selber in Szene setzen und begünstigen. Hier begegnet uns z.B. der Typ des Demagogen. Seine Erfolgsmasche liegt darin, seine eigenen relativen Einsichten als absolute Botschaften zu tarnen und mit der Selbstsicherheit und Überzeugungskraft aufzutreten, die aus einer gekonnten Selbstverleugnung stammt. Da reden Menschen von ihren Berufungen, die Welt zu erretten und das Unheil von den Menschen abzuwenden. Sie benennen mit plumpen Argumenten die Schuldigen und propagieren den Kampf gegen sie.

Warum fallen immer wieder viele Menschen auf ein derartiges Theater herein? Sie erkennen sich darin selbst und bestätigen ihre Selbsttäuschungen. Ähnliche Schicksale verbinden. Wer sich z.B. einmal als kleines Kind gedemütigt gefühlt hat, wird auf einen Redner oder Schreiber hereinfallen, der dieses Thema in einem neuen Zusammenhang anspricht, und wird jeden Ausweg, sprich jede Projektion, die er anbietet, bedingungslos akzeptieren. Wer das Gefühl hat, anderen gegenüber benachteiligt zu sein, wird in Resonanz mit Demagogen gehen, die diese Gefühle kanalisieren und ihnen nachfolgen, weil sie mit dem Pathos einer scheinbar absoluten Wahrheit die scheinbare Wurzel des eigenen Übels formulieren und zugleich das scheinbare Heilmittel anbieten.

Bei den Demagogen selber wird es wohl so laufen, dass sie ihrer eigenen Überzeugungskraft, die aus ihrer besonderen Fähigkeit zur Selbsttäuschung stammt, auf den Leim gehen. Da sie als Narzissten derart begeistert von sich selber sind, verlieren sie jedes Gefühl für wahr und falsch. Sie sind ja in ihr gefälschtes Selbst verliebt. Deshalb sind sie Virtuosen in der Selbsttäuschung, weil sie es schaffen, sich selber doppelt hinters Licht zu führen: Zum einen, indem sie ihre verzerrte Wirklichkeitserfahrung nicht durchschauen, und zum anderen, weil sie sich noch dafür bewundern. Das macht wohl auch ihre Faszination für andere aus, die sich in diesen Formen der Blindheit wiedererkennen.

Mit etwas Distanz mag es skurril wirken, wie sich der dieser Tage von der Macht entfernte Meisterdemagoge Berlusconi mitsamt seinem selbstgerechten und realitätsvergessenden Zorn ins Internet stellt; für seine Anhänger wirkt es wohl so, als wäre hier einem Unschuldigen die größte Ungerechtigkeit widerfahren, die sich Menschen vorstellen können.

Wer nicht bemerkt hat, wie störanfällig jede Aktion und jede Kommunikation auf der Ebene der relativen Wahrheit ist, wie leicht sich also Elemente der Ignoranz, Selbstbezogenheit und Wirklichkeitsverleugnung einschleichen, wird Personen Glauben schenken, die die eigenen frustrierten Hoffnungen und Wünsche ansprechen. Deshalb kann es auch einen armen Schlucker rühren, wenn der angebetete Milliardär (wie in einem Sketch von Otto Waalkes) bitterlichst darüber klagt, dass sein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist, worauf ihm der Komiker den Trost spendet, dass manch anderer ja nicht einmal einen Bart habe.

Mit ihrer Selbstfaszination schaffen es die Demagogen jeden Metiers, eine nebelartige Aura der Irreführung und Falschinformation um sie herum zu verbreiten, in der wiederum die Unfähigkeit zur Unterscheidung gedeiht und Wissen durch blinden Glauben ersetzt wird. Dabei gründet sich der Glaube auf nicht mehr als auf die Faszination durch jemanden, der grenzenlos in der Selbstglorifizierung versunken ist.

Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, welchen Rang eine Wahrheit hat, dann ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Je mehr relative Wahrheiten als absolute angepriesen werden, desto mehr wird der Zugang zur absoluten Wahrheit verstopft.

Die Pflicht zum Widerstand


Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, heißt es bei Bert Brecht. Wo eine relative Wahrheit zu einer  absoluten verdreht wird, ist es wichtig, dagegen aufzutreten. Denn die Verallgemeinerung einer solchen Vertauschung ist die Verallgemeinerung einer Vertuschung. Wenn ihr nichts entgegen gehalten wird, wird der Schaden, den sie anrichtet, vermehrt.

Dagegen aufzutreten ist nicht mit den Mitteln der absoluten Wahrheit möglich. Sie gibt zwar die Motivation und die Kraft, denn sie weiß, wie wichtig sie ist und wie wichtig es ist, dass sie nicht missbraucht wird. Aber ihre Stimme wird auf dem Markt der relativen Wahrheit nur wie eine weitere Meinung im Gewirr des Marktgeschreis untergehen.

Wer gegen Egoismen im Kleid von ewigen Weisheiten auftreten will, muss deshalb aus der absoluten Wahrheit heraustreten und in die Arena der relativen Wahrheiten gehen. Er nimmt dafür allerdings die Kraft mit, die aus der Verbindung mit dem Fließen kommt. Der heilige Zorn, mit dem Jesus die Tische der Händler vor dem Tempel umwirft, das ist die Energie, mit der jemand nicht um seiner selbst willen, also aus einem Ego-Motiv heraus, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung für etwas Größeres und gegen das Hintertreiben der essentiellen Klarheit auftritt.

Nicht mehr ist bei diesem Auftreten möglich als die verdrehten und überzogenen Ansprüche zu entlarven und bloßzustellen und damit der anmaßenden Verwechslung Einhalt zu gebieten. Es gilt also, die Lüge als Lüge und die Verdrehung als Verdrehung bloßzustellen und die als absolut ausgegebene Botschaft auf ihren relativen Rang zurückzustufen. „Was du hier verkündest, ist deine Meinung und nicht mehr. Was du sagst, gilt vielleicht für dich, aber nicht für mich.“ So können wir eine Grenze ziehen und die Aussage wieder in das Feld ihrer Herkunft, auf das Feld der Relativität zurückholen, wenn sie aus dieser stammt. Wir müssen die andere Person nicht kritisieren und schlechtmachen, es genügt, ihren (Macht-)Anspruch einzudämmen. Wir können dabei nur für uns sprechen, ohne uns auf höhere Einsichten berufen zu können, weil wir in einer Sphäre des Kampfes nur die Waffen der relativen Welt zur Verfügung haben. Die absolute Wahrheit taugt nicht für Konflikte, weil sie außer Streit steht. Streiten erfordert relative Positionen und relative Methoden der Auseinandersetzung.

In der Sphäre der Relativität können wir nicht „rechter“ haben als die anderen. Wir können nur einem Rechthaben, das sich auf eine angemaßte Absolutheit beruft, entgegentreten und es damit relativieren. Wir unterbrechen ein Spiel, das verwirrt und verschleiert, indem wir seine Regeln brechen. Dabei setzen wir der die Wahrheit verdrehenden Definitionsmacht, die sich ungehindert ausbreiten will, eine ebensolche Macht entgegen, nicht, um uns selbst ebenso ausbreiten zu können, sondern um die Ausbreitung der Vernebelungskultur zu verhindern. Eine Farbe, die über alles gegossen werden soll, wird eine Kontrastfarbe hinzugefügt, und damit ist das einheitliche Bild verdorben, wie es sich für eine relative Welt gehört. Die dahinterstehende absolute Wahrheit wirkt allein aus dem Verborgenen.

Wachsamkeit gegen die Gleichgültigkeit


Wer von der absoluten Wahrheit gekostet hat, muss wachsam bleiben: Wachsam auf die eigenen Anmaßungen, den gehobenen Schatz für eigene Zwecke zu missbrauchen, und wachsam auf die Versuche anderer Menschen, Dreck als Gold zu verkaufen.

Und es gilt wachsam zu bleiben gegenüber der eigenen Tendenz, die Gelassenheit und Toleranz mit Gleichgültigkeit in einen Topf wirft. Es darf nicht egal sein, wenn die großen und kleinen Demagogen auftreten, um ihre Schäfchen hinterlistig ins Trockene zu bringen. Es muss Widerstand geleistet werden, damit solche Blockierungen erkannt und gemieden werden können. Wer von sich meint, dass er sich zu gut oder zu erhaben ist für solche Streitigkeiten und deshalb die Konflikte in der Öffentlichkeit und im Privaten meidet, unterliegt der eigenen Überheblichkeit und Feigheit, Haltungen, die nicht besser sind als das, worüber sie sich erheben wollen.

Das Missverständnis liegt darin, dass das Reich der absoluten Wahrheit nicht als Zuflucht dienen kann, in das sich alle, denen es in der Welt zu gewaltsam, gemein oder hässlich zugeht, zurückziehen könnten, um dort das biedere Gärtchen einer wohlgehegten Heiligkeit zu pflegen. Wenn das geschieht, ist längst schon verloren, was gesucht wurde. Eine solche spirituelle Idylle ist nur eine weitere Nische der relativen Welt, versteckt hinter einem kunstvollen Gespinst aus scheinbar absoluten Fäden.

Tatsächlich fallen wir sofort aus dem Reich des Absoluten, wenn wir auf die Widersprüche der Kommunikation und der Gesellschaft stoßen. Und das ist auch gut so, denn dort müssen wir uns immer wieder behaupten, dort müssen wir auftreten und Anmaßungen entgegentreten. Automatisch geraten wir in die Versuchung, unseren eigenen Anmaßungen zu erliegen. Und das ist auch gut so, damit wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden, um immer wieder den Blick auf unsere eigene Bewusstheit zu richten. So können wir in uns wieder den Kontakt zur absoluten Wahrheit herstellen.

Je mehr Ahnung wir von der absoluten Sphäre haben, desto mehr von den Selbst- und Fremdtäuschungen, die wir selbst und die anderen Menschen inszenieren, wird uns bewusst werden und desto mehr können wir aufzeigen und bewusst machen. Damit halten wir das Gewissen wach, das uns immer wieder darauf aufmerksam macht, uns aus dem Leben im Relativen auf das Absolute zurück zu beziehen und damit die Bereiche des Absoluten im Gesamten zu erweitern.

Donnerstag, 21. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Paradoxie


Absolute (transrationale) Wahrheiten sind in mehrfacher Hinsicht paradox. Wer sie ausspricht, ist sich dieser Paradoxie bewusst und kann die Paradoxie aushalten. Diese Fähigkeit erwächst zunächst aus der Rationalität, die sich bis an ihre eigenen Grenzen denken will. Dort löst sich die Eindeutigkeit auf, die zu stiften die Rationalität als ihre eigentliche Aufgabe angesehen hat. Zum Beispiel fand Immanuel Kant in den letzten Bereichen, die der Vernunft zugänglich sind, Antinomien, also Erkenntnisse, die sowohl in der einen Form wie auch in ihrer gegenteiligen Form vernünftig bewiesen werden können. Man könnte auch im Sinn von Hegel sagen, dass sich die Vernunft an ihren Grenzen selbst aufhebt.

Wenn sie zurücktritt und der transrationalen Erkenntnisform Platz macht, wird die Paradoxie zum Kennzeichen der Stimmigkeit. Sie besteht schon einfach darin, dass Unendliches in endlichen Worten, Freiheit in der Begrenztheit ausgesprochen wird. Viele Mystiker, aber auch Philosophen, beklagen die Unmöglichkeit, die zeitlosen Erfahrungen in einer an die Zeit gebundenen Sprache auszudrücken (vgl. Blog zur Sprache der Wahrheit).


Ein weiteres Element der Paradoxie besteht in Folgendem: Viele dieser Erfahrungen führen zu einer Auflösung der Körpererfahrung z.B. in einer grenzenlosen Weite oder in einer vollkommenen inneren Leere, Erfahrungen, die gleichwohl in einem Körper stattfinden. Es wird also beides zugleich erlebt: Ein Körper und ein Nicht-Körper. Deshalb ist es ein Charakteristikum von transrationalen Erfahrungen, dass sie diese Paradoxien beinhalten und ihnen Raum geben, weil das Transrationale das Rationale in sich enthält. Auch wenn das Transrationale als das Größere, Bedeutungsvollere oder Erfüllendere erlebt wird, weiß die erlebende Person um die Existenz der begrenzten Welt, und sie hegt dabei nicht den Wunsch, diese begrenzte Erfahrungswelt los werden zu wollen oder aus ihr entfliehen zu müssen. Im Gegenteil, durch die Besuche in den transrationalen Räumen wird die relative Welt immer wieder neu entdeckt und das Dasein in ihr immer mehr wertgeschätzt und in seiner Schönheit erkannt.

In der transrationalen Sphäre gibt es keine Körperverleugnung, -verachtung oder -kasteiung. Der Körper wird manchmal als „Tempel des Geistes“ bezeichnet oder als Quelle von Lebendigkeit und Freude erfahren. Er gilt als eine Ausdrucksform des Geistes, als Äußeres eines Inneren, das es (vermutlich) ohne das Äußere nicht gibt.


Die Angst vor der Rationalität


Auf der prärationalen Ebene wird dagegen Paradoxie als eine Form der Verwirrung erlebt und vermieden. Sie löst Angst aus. Aus dieser Angst nährt sich die Abwertung jeder Form von Rationalität, wie sie manchmal in der esoterischen Szene auftritt. Entgrenzende Erfahrungen sollten vor mentalen Konzeptualisierungen geschützt werden, und von daher kommt der manchmal geäußerte Imperativ, dass der Verstand oder das Ego zerstört oder zertrümmert werden muss, dass der „Kopf“ zum Schweigen gebracht werden muss usw. Die Aggressivität in dieser Sprache zeugt von einer Angst, die mentalen Fähigkeiten unseres Geistes könnten kaputt machen, was sich als kostbare Erfahrung jenseits des Verstandes gezeigt hat. Für die Vorstellung, dass eine reife Intelligenz in der Lage ist, eine umgreifende spirituelle Erfahrung anzuerkennen und wertzuschätzen, ist kein Platz.

Stattdessen wird dem Wiedererleben von dissoziativen Zuständen Tür und Tor geöffnet, weil es kein rationales Korrektiv gibt. Scheinbar spirituelle Erfahrungen wiederholen die Flucht aus der Wirklichkeit, wie sie einst im Traumamoment vor unerträglichen Schmerzen oder Leiden geschützt hat. Hier ist Heilungsarbeit notwendig, die oft mühsam, langwierig und schmerzhaft sein kann. Aber es führt kein Weg darum herum, alle Abschneider führen immer wieder zurück auf den Ausgangspunkt. Nur auf diesem Weg, der Abspaltung nach Abspaltung zusammenführt, kann die Ganzheit und innere Identität gefunden werden, in der Verbindung von lebendiger Emotionalität und klarer Rationalität.

Von dieser Basis ausgehend, öffnet sich dann wie von selber und in natürlicher Weise die transrationale Welt und die Erkenntnis der absoluten Wahrheiten. Das Leben wird als freier Tanz von Paradoxien erkannt, als ein immer wieder überraschendes Fließen vom Einen ins Andere.

Ein Zustand, wie er z.B. im Zen durch das unablässige Meditieren über „Koans“, also über paradoxe Aussagen erreicht werden soll, ermöglicht die Freiheit. Es ist ein Zustand, in dem die Wahrheit in der unmittelbaren Erfahrung auftaucht, die sich im nächsten Moment schon wieder verändert hat und in dem die Veränderung in ihrer Widersprüchlichkeit genossen werden kann. Das große Spiel des Lebens entfaltet sich in seinem Reichtum an Formen und Gestalten, frei von Erwartungen, Kontrollen und Zwängen. Die Emotionalität und die Rationalität dienen dabei als Spielzeug unter anderen. Das Eintauchen in ihre Relativität geschieht bewusst und die Rückverbindung an das Absolute geht nie wirklich verloren.


Die Aufgabe der Lehrer


Ein guter Lehrer braucht ein sicheres Gespür für Prä- und Transverwechslungen, für den Unterschied von Relativität und Absolutheit. So kann er die Schülerin auf alle die Fallen, die sich auf dem Weg versteckt halten, aufmerksam machen. Je freier er selber ist von den Antrieben der relativen Welt, von den Egomotiven und selbstsüchtigen Interessen, zu desto mehr Freiheit kann er seiner Schülerin verhelfen. Er braucht dafür den absoluten Respekt für die Einzigartigkeit des Weges, auf dem sich die Schülerin befinden, sodass er mit ihr lernt, wie sie sich Schritt für Schritt der Befreiung nähert und lernt, mit der Paradoxie umzugehen.


Vgl. Prä-Trans-Verwechslungen
Vgl. Narzissmus 

Die zwei Wahrheiten: Relatives verkleidet als Absolutes

Die zwei Wahrheiten klar zu unterscheiden, ist wichtig, weil wir daran erkennen können, ob unser Weg weiter in die Tiefe des Seins oder zurück in die Untiefen unserer Lebensgeschichte führt. Diese Unterscheidung ist jedoch deshalb knifflig, weil wir für diese Aufgabe die Fähigkeit brauchen, die vielfältigen Fallen und Tricks der relativen Wahrheit zu erkennen, und weil wir ebenso in der Lage sein müssen, die absolute Wahrheit in ihrer Reinheit und Klarheit zu erkennen. Wir brauchen also die Weltläufigkeit und zugleich den Zugang zur Tiefe der Erkenntnis, um uns im Gelände zwischen Relativität und Absolutheit sicher orientieren zu können.

Mit dieser doppelachsigen Bewusstheit wird es uns möglich, Verwechslungen, die immer auch dem von Ken Wilber beschriebenen Prä-Trans-Fehlschluss verfallen sind, zu durchschauen und zu erkennen, wo sich relatives Wissen als absolutes ausgibt. Solche Verkleidungen geschehen zumeist in guter Absicht und aus mangelnder Selbstreflexion. Sie können aber, wie schon in anderen Beiträgen zu dem Thema dargestellt, Menschen in die Irre führen und damit Schaden anrichten.

Die Flüchtigkeit des Absoluten


Die absolute Wahrheit gibt es nicht in einer fixen Form. Sie ist beweglich wie ein Quecksilberkügelchen. Wer sie fassen will, hält nur einen relativen Abklatsch von ihr in der Hand. Alles, was sich unserem Zugriff entzieht, macht uns misstrauisch und fordert unsere Kontrollzwänge heraus. Wir wollen, was wir schon einmal hatten, sicherstellen, damit wir es immer wieder kriegen können, wann wir es brauchen. Ähnlich wie die reichen Länder der Welt die Rohstoffquellen dieser Erde unter ihre Kontrolle behalten wollen, damit sie ihr verschwenderisches Leben unbehindert weiter führen können, möchten wir auch unsere inneren Schätze in einem imaginären Tresor verwahren, wo sie uns niemand nehmen kann und wir sie zu jeder Zeit für unsere Zwecke nutzen können.

Da eine der zentralen Fähigkeiten, die wir brauchen, um in der Welt des Relativen erfolgreich zu sein, im Täuschen und im Selbsttäuschen besteht, fällt es uns nicht auf, wenn wir eine absolute Wahrheit mit einer relativen vertauschen. Doch woran können wir erkennen, dass wir uns selbst oder andere auf den Holzweg geführt haben?

Jede Wahrheit, die unbeweglich und in einem starren sprachlichen Korsett präsentiert wird, kann nicht absolut sein, so schön sie auch klingen mag. Vielmehr haben wir es mit einem Dogma zu tun. Die Wahrheit ist zu einem Ding geworden, das gegen jedes andere Ding ausgetauscht werden kann. Die Richtigkeit beruht nur auf der Autorität dessen, der sie verkündet hat. Wie die Geschichte zeigt, lassen sich mit Gewalt alle Wahrheiten durchsetzen, außer die absoluten.

Wahrheit und Kritik


Relative Wahrheiten sind grundsätzlich kritikfähig, was ihren Inhalt anbetrifft. Jede relative Einsicht kann ganz einfach auch anders sein. Relativ betrachtet, ist es gleich richtig, ob das Licht eine Wellen- oder eine Teilchennatur hat. Wir brauchen nur den Blickpunkt zu verändern, schon schaut alles anders aus. Jede relative Erkenntnis steht in Konkurrenz zu anderen Ansichten. Sie unterliegt allen Formen der emotionalen und rationalen Kritik. Gerade deshalb gibt es immer wieder die krampfhaften Versuche, relative Wahrheiten unter dem Schleier der Absolutheit vor Kritik zu immunisieren.

Die absolute Wahrheit fürchtet keine Kritik, sie braucht sie aber nicht, weil sie in sich einleuchtend ist. Wird an ihr Kritik geübt, so kommt diese aus einem fehlenden Verständnis von der Tiefe des Gesagten. Wenn jemand sagt: „Alles ist eins“, wird jemand, der ganz dem Relativen verhaftet ist, meinen, dass das nicht einmal auf einen Eintopf zutrifft, solange man Kartoffel und Karotten unterscheiden kann, geschweige denn dass das auf das ganze Universum bezogen werden könnte. Doch verfehlt eine Kritik aus dieser relativen Ecke den Erfahrungskern des Satzes, der eben auf der relativen Erfahrungsebene nicht zu finden ist.

Das ist auch das defensive Standardargument, das jeden gestandenen Skeptiker zur Weißglut treibt, wenn ihm jemand aus der spirituellen oder esoterischen Welt berichtet. Gleich ob prä- oder transrational, also der Prä-Trans-Verwechslungsecke kommt: Mitreden kann nur, wer die entsprechende Erfahrung gemacht hat. Und damit öffnet sich ein Graubereich, der mit dem Reinheitsgebot einer intellektuellen und spirituellen Redlichkeit in Konflikt kommt.

Doch die transrationale Erfahrung – und das unterscheidet sie von der prärational-esoterischen – ist so beschaffen, dass sie dem rational denkenden Menschen zumindest intellektuell verdeutlichen kann, warum bestimmte Einsichten nur auf einer vertieften Erfahrungsebene Sinn machen. Es ist argumentierbar und kann einem verantwortungsbewussten Rationalisten verständlich gemacht werden, wo die Grenze der Rationalität liegt. Soweit reichen eben die Argumente, und das Jenseits der Argumente ist nur dem zugänglich, der bereit ist, seine einschränkenden Denkgewohnheiten zurückzulassen.

Der kommunikative Raum des Absoluten


Absolute Wahrheiten kann man nicht zwischen zwei Buchdeckeln kaufen oder aus einschlägigen Seminaren in der Aktentasche mitnehmen. Sie erscheinen nur unter ganz bestimmten Bedingungen, wie Glühwürmchen zu Sommerbeginn. Es ist eine nicht konventionelle Form der Offenheit bei der Sprecherin und beim Empfänger erforderlich, damit sich eine absolute Wahrheit als solche überhaupt manifestieren kann. Diese Form der Offenheit ist dann möglich, wenn weitgehend alle emotionalen und mentalen Einschränkungen zurückgenommen sind. Sowohl der Sprecher wie die Empfängerin müssen in der Lage sein, ihre konventionellen Sprech- und Wahrnehmungsgewohnheiten abzulegen. Das ist dann möglich, wenn die emotionalen Fixierungen, die die Gewohnheiten an ihrem Platz festhalten, also vor allem die alten Ängste, aufgelöst sind.

Angst- und vorurteilsfrei sowie mit dem gebührenden Respekt müssen wir in den Raum der absoluten Wahrheit eintreten, dann wird sie sich zeigen. Nehme ich nun eine solche Wahrheit, der ich teilhaftig geworden bin, und trage sie in die Welt der Relativität, so werde ich erkennen, dass sie verblasst und ihre Kraft verliert, weil die Menschen, auf die sie trifft, sie nicht empfangen können. Sie wollen nur, dass ihre Vorurteile und Ängste bestätigt werden und bekämpfen alles, was diese in Frage stellt. Der Weise erkennt daran, dass geschwiegen werden muss, wo nicht geredet werden kann.

Die Lehrerin dagegen, die übersehen hat, dass sie das Heiligtum verlassen hat und auf den Marktplatz getreten ist, wird vielleicht Wege der Überzeugung und Überredung suchen, um ihre Wahrheit „an den Mann“ zu bringen. Sie macht dann schnell die Erfahrung, dass manche Leute fasziniert sind, weil sie die Wahrheit hinter der Überzeugung spüren, die ihre Sehnsüchte nach Befreiung anspricht. Deshalb werden sie der Lehrerin folgen und ihre Lehren übernehmen. Solange sie jedoch selber nicht ins Heiligtum eingetreten sind, werden sie nicht verstehen, worum es wirklich geht. Und die Lehrerin kann der Versuchung verfallen, die Schüler statt ins Heiligtum in die Irre zu führen, indem sie sich selbst und ihre Lehren als das Heiligtum darstellt. Damit ist die absolute Wahrheit von beiden Seiten, Sprecherin und Hörer, relativiert und verdinglicht.

Im System der Vorurteile und Ängste wird die absolute Wahrheit ein Spielball von allen möglichen Interessen und Motivationen. Dann können mit ihr Geschäfte gemacht, Abhängigkeiten aufgebaut, Lehrgebäude errichtet werden. Die Sehnsüchte werden mit Fantasien und Illusionen gefüttert, und die Seelen der Suchenden regredieren in einen dumpfen Kindheitsschlummer, den sie für ein tiefes Erwachen halten.

Die absolute Wahrheit zerfällt also sofort, wenn die Bedingungen ihrer Existenz verloren gehen. Sie ist wie eine sensible Pflanze, die nur in einem fein  abgestimmten Ökosystem wachsen und gedeihen kann.

Wahrheit und Aggression


Wahrheiten, die mit Aggressivität und mit der Abwertung von Andersdenkenden vertreten werden, entlarven sich selbst als relative, die sich als absolute verkleidet haben. Relative und absolute Wahrheiten kann man nicht an den Worten unterscheiden, sondern am Kontext, in dem sie ausgesprochen werden. Damit wird auch jede Form der Missionierung obsolet, denn die absolute Wahrheit will nur einleuchten und nicht überzeugen. Sobald sie erkannt, verstanden und inkorporiert worden ist, hat sie ihren Sinn erfüllt.

Die absolute Wahrheit braucht keine Schutzgefühle wie Angst oder Aggression. Sie wirkt oder sie wirkt nicht, je nach Kontext und Empfänger. Sie kann nicht um Verständnis und Akzeptanz kämpfen. Sie weiß, dass ihre Wirkmächtigkeit vom Erfahrungsgrad und emotionalen Zustand des Empfängers abhängt. Denn sie kann nur jemandem einleuchten, der sich ihr frei von Ängsten und Traumatisierungen nähert.

Freitag, 8. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Alltagspraxis

Sind wir Wanderer zwischen zwei Welten? Einmal in der einen, ein andermal in der anderen, nirgends wirklich zuhause? Pendeln wir vom einen ins andere, ohne irgendwo jemals wirklich anzukommen? Sollte der Weg nicht darin bestehen, die Welt des Relativen immer mehr hinter sich zu lassen, um schließlich ganz in der Welt des Absoluten aufzugehen? Oder genügt es, ab und zu von den Blüten des Absoluten zu kosten, damit das Leben im Relativen erträglich bleibt? 

Die Welt der relativen Wahrheit ist ein unendliches Feld des Lernens. Die Welt der absoluten Wahrheit ist ein unendliches Feld des Wachsens und Fallens. Das Lernen braucht das Fallen, um an Tiefe und Freiheit zu gewinnen, das Fallen braucht das Lernen, um am Spiel der Gegensätze zu wachsen. Insoferne können wir mit der Vorstellung von einer horizontalen und vertikalen Dimension arbeiten und erkennen, dass wir beides zugleich sein können und müssen, wenn wir nicht flach oder fadendünn werden wollen: Eine absolute Wahrheit ohne Bezug zur relativen ist stumm, in sich verschlossen, von den Menschen und ihrer Welt abgeschnitten. Eine relative Wahrheit ohne Bezug zur absoluten ist schal und oberflächlich, geschwätzig und besserwisserisch. 

Die Vergeistigung des Alltags 


Oft berichten Menschen von der Langeweile und Routine ihres Alltags. Das Wort selber hat schon die lethargische und resignative Schwingung - im Alltag ist das Alltägliche, Gewöhnliche, Uninteressante, Beschränkte. Das eigentliche Leben spiele sich erst dort ab, wo das engmaschige Gewebe dieses Alltags durchbrochen wird - auf einer tollen Urlaubsreise, bei einem schönen Konzert, während einer intensiven Meditationsgruppe. Das Zurückkehren in den "grauen" Alltag wird als Enttäuschung erlebt, und es wird geklagt, wie schnell die Farbenpracht und hohe Schwingung der außergewöhnlichen Erfahrungen verloren geht. Die Sehnsucht besteht darin, ein Leben führen zu können, in dem es keinen Alltag gibt. Wenn man es schon selber nicht wagt, auf eine Abenteuerreise ohne Rückkehr aufzubrechen, liest man von den Erzählungen anderer und schaut sich spannende Filme vor dem Schlafengehen an, um sich möglichst weit weg von der schwarzen Magie des Müssens zu zaubern, die unweigerlich den nächsten Tag von früh bis spät durchziehen wird. 

Der Geschmack der absoluten Wahrheit ist nicht an bestimmte Speisen oder Bilder gebunden, an keine äußerliche Realität, an keine innere Gestimmtheit. Einmal genossen, kann er in alles und jedes eingewoben werden, was wir erleben. In jeder Situation, die uns das Leben beschert, können wir Schätze und Kostbarkeiten finden, wenn wir nur die internen Augen, Ohren und Geschmacksknospen dafür öffnen. Es sind nur Gewohnheiten der faulen Seele, die das Überschreiten einer Schwelle der Intensität erforderlich machen, dass das Außerordentliche am Leben erkannt wird. Wir können statt dessen lernen, in den kleinen Dingen das Große zu entdecken, in den matten Farben die Sattheit und in der Fadesse das Abenteuer. Wir brauchen nur zu tun und zu erleben, was wir gerade tun und erleben. Wenn wir uns ganz dahinein fallen lassen, was im Moment in unserer Erfahrung geschieht, wenn wir ganz darin aufgehen und zu dem werden, was gerade geschieht, dann zeigt sich ein Reichtum und eine Schönheit, die jeden Augenblick zu einer Feier des Lebens werden lässt. 

In dieser innigen Verbindung des Vertikalen und des Horizontalen, des Absoluten und des Relativen, kann jede Erfahrung eine Tiefe erlangen, die das Innere erfüllt, sodass nichts mehr belanglos, nichts mehr fahl und glatt erscheinen kann. Das ist wohl der Höhepunkt der Lebenskunst, die volle Verwirklichung des menschlichen Lebens. 

Die Erdung der Spiritualität 


Nicht nur der Alltag braucht die Vergeistigung. Auch der Geist braucht den Alltag. Er braucht den Kontakt zum Boden, zu den erdigen Dingen und Abläufen. Er wird lebendig, wenn er sich auf die vielfältigen Schönheiten der relativen Welt einlässt. Die Herausforderung, den Alltag zu verzaubern und die Routine zum Tanzen zu bringen, lässt den Geist wachsen. Der Humor ist eines seiner Wundermittel, der das Schräge, Absurde und Komische aufzeigt, das in der Verbohrtheit in die Kleinlichkeiten des Alltags liegt. Er macht auch nicht Halt vor den höchsten Heiligtümern und weisesten Menschen. Sollte das Verweilen im Absoluten oder das Suche der Wahrheit zu viel an Ernst und Strenge bewirken, bringt ein Bad in den irdischsten Formen des Humors alles wieder zurück an den rechten Platz der Menschlichkeit. 

Erst an den verworrenen Windungen des gemeinen Treibens zeigt sich, ob die erfahrenen Einsichten in das Absolute wirklich gediegen und klar sind. Nur eine Spiritualität, die diesen vielfältigen Herausforderungen gewachsen ist, ist von wirklicher Güte und Brillanz. Wie sie mit der Dummheit und Bosheit der Menschen, den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, den Wechselfällen des Beziehungslebens, den Zufälligkeiten des Marktes und Unzuverlässigkeiten des Körpers umzugehen vermag, ist ihr Prüfstein. Hier muss sich ihre Kreativität immer wieder aufs Neue erschaffen und bewähren. Das Reiben an den Verwerfungen und Kalamitäten des immer wieder neu sich erschaffenden Chaos des Menschenlebens poliert den Kristall und verleiht ihm immer wieder neue funkelnde Facetten. Das Umgehen mit solchen Prüfungen ist die eigentliche Aufgabe des Lebens, das nach Ganzheit und Vervollkommnung strebt, und weiß, dass es im Tanz von Relativem und Absolutem kein Ende gibt, sondern beständiges neues Erleben im „strebenden Bemühen“ (Goethe). 

Damit der Zugang zur absoluten Wahrheit nicht verschüttet wird von den vielfältigen Anforderungen und Versuchungen der Alltagswelt, braucht es spezielle Zeiten, die nur ihr gewidmet sind. Darin liegt der Sinn der rituellen Praktiken, wie sie in den Religionsgemeinschaften gepflogen werden, und der meditativen Übungen, die in Gruppen oder alleine durchgeführt werden können. Der Sinn des Rückzugs aus der Umtriebigkeit liegt nicht im Verschwinden in einer Kontrastwelt, sondern in einer Stärkung für das Wieder-Zurückkommen und Mitmischen in der Geschäftigkeit. Damit wird in das relative Tun eine Note hineingewoben, ein Klang, der ihm einen tieferen Sinn verleiht, eine tiefere Verbundenheit mit allem, was geschieht. 

Eine Spiritualität, die sich hermetisch in sich selbst zurückzieht und den Kontakt zur Lebenswelt der "relativen" Menschen verliert, wird verarmen und vertrocknen. Sie wird keine Worte mehr finden, um sich mitzuteilen, und sie wird von den anderen Menschen ignoriert werden. So bleibt sie unfruchtbar für die Erfordernisse der Weiterentwicklung. Pflegt sie jedoch die Beziehung zu den verschiedenen Lebensformen der Menschen, sucht sie immer wieder den Austausch, dann kann sie Wertvolles beitragen zur Verbesserung der Qualität des Lebens in den Kreisen der Gesellschaft. 

Was hat der Buddha auf dem Marktplatz verloren? 



Er muss sein Gemüse und Obst einkaufen und mit dem Händler einen guten Preis aushandeln. Dazu muss er die Logiken der relativen Wahrheit kennen, um nicht als naiver Tor durch die Welt zu taumeln. Er braucht die Bereitschaft, immer weiter und immer Neues zu lernen, weil sich die relative Welt fortwährend weiter entwickelt. So lernt er im Gemüsehändler eine Facette des Menschseins kennen, die auch eine Facette von sich selbst ist. Ohne den Händler würde er sie nie in sich finden. Und er übt sich in einer Weise des Redens, wie sie nur mit dem Gemüsehändler möglich ist, eine Form des Austausches, in der sich seine Buddhanatur in ganz spezieller Weise nach außen hin zeigt.

Zugleich erkennt er in dem Weben und Streben des Marktplatzes eine tiefere Wahrheit über das Leben: dessen permanentes Entstehen und Vergehen. Das Erleben der Unbeständigkeit in allen relativen Belangen verbindet ihn mit dem absoluten Wissen. Nichts ist von Dauer, und nichts braucht deshalb festgehalten zu werden. Da alles in permanenter Veränderung ist, gilt es, sich immer wieder dem Fließen anzuvertrauen, statt ihm Widerstand entgegenzusetzen. 

Hier unterscheidet er sich vom Gemüsehändler, dessen Blick nicht über sein Gemüse hinausreicht. Sein Leben hängt ab von den Gemüsepreisen, von den Saisonen und der Kauflust der Kunden. Nur Teil der relativen Welt zu sein, bedeutet, ihrer Willkür ausgesetzt zu sein, wie ein Tischtennisball den Wellen des Meeres. 

Der Weise dagegen kann inmitten der Wellengänge des großen Ozeans des Lebens immer wieder zur Gelassenheit und Ruhe in sich selbst finden. Er wird damit zum Modell für ein Leben im Relativen und jenseits des Relativen, für ein Leben im Vertikalen wie im Horizontalen. 

Vielleicht macht sich der Gemüsehändler, inspiriert von seinem Buddha-Kunden, eines Tages auf den Weg, die tieferen Gesetzmäßigkeiten des Menschlichen zu erforschen und wird dann selber ein Buddha auf dem Marktplatz. 

Einfach in die Einheit von Absolutem und Relativem eintauchen 


Wer - wie jeder Mensch - des bewussten Atmens mächtig ist, weiß im Grunde, wie in jedem Augenblick das Mysterium der Verbindung von Absolutem und Relativem geschehen kann: Im Einatmen die Weite und Vielfalt der Welt, im Ausatmen die Einfachheit des In-die-innere-Weite-Fallens, und beides im jeweilig Anderen erkannt und gelebt werden kann. Der Atemvorgang wird vom vergänglichen Körper in Gang gehalten, vergänglich wie jeder Atemzug selbst, und der Atem lässt uns mehr und ganz anderes spüren, die Qualität des einfachen, zeitlosen Daseins. Mit dieser Einfachheit können wir beginnen, Relatives und Absolutes als Eines zu erfahren, und immer wieder können wir in sie eintauchen. 

Vgl. Die zwei Wahrheiten, Die zwei Wahrheiten und das Ego, Die zwei Wahrheiten und die Religionen, Die zwei Wahrheiten und die Sprache