Mittwoch, 7. August 2019

Verletzlichkeit und Würde

Wir alle tragen einen verletzlichen Teil in uns, weil wir alle kleine, hilflose Babys waren. Wir alle sind darüber hinaus gewachsen und haben starke und kompetente Anteile gewonnen, die uns helfen, unser Leben selbständig zu bewältigen.

Tiefer als unsere Verletzlichkeit gründet unsere Würde. Sie ist uns nicht nur in die Wiege gelegt, sondern ist schon das Geschenk zu unserer Empfängnis. Wir sind in unserer vollständigen Besonderheit und Eigenart in diese Welt getreten, als eine wunderbare Schöpfung der Natur, begabt mit einem unerschöpflichen Geist. Darin wurzelt unsere Würde. 


Die verschüttete Würde


Damit die Würde wachsen kann, braucht sie eine förderliche Umgebung: liebevolle Menschen, die spüren können, was dieses neue Wesen braucht, um zu seiner Fülle zu gedeihen. Die Liebe besteht vor allem darin, das Wunderbare zu erkennen und zu schätzen und sich am Unergründlichen des Geistes zu begeistern.

Wo es an dieser Liebe mangelt, kommt es zu Verletzungen. Wo etwas nicht so wachsen kann, wie es wachsen sollte, verkümmert es. Der Unterschied zwischen dem, was sein könnte und sollte, und dem, was ist, ist schmerzlich, wenn er zu krass ist und zu lange andauert. Verletzungen nehmen nichts von der Würde weg, die immer da ist. Sie verdecken aber den Zugang zu ihr, sodass es geschehen kann, dass die Würde immer unsichtbarer wird und immer weniger wahrgenommen werden kann, von sich selber und von den anderen. Wo die Verletzungen sehr groß sind, entsteht ein Gefühl von Würdelosigkeit, von Wertlosigkeit, ein Gefühl, keine Liebe zu verdienen. 

Ein Mensch mit einer schweren Verletzungsgeschichte braucht deshalb besonders viel Liebe, um wieder zu seiner Würde zurückzufinden. Der erste Schritt für diese Liebe ist es, diese Würde zu erkennen und anzuerkennen. So zerrüttet oder zerschlagen ein Mensch auch sein kann – seine innere Würde ist im Grund immer intakt und wartet darauf, gesehen und gestärkt zu werden.


Liebe und Selbstliebe


Diese Liebe kommt idealerweise von anderen Menschen. Diese Form der Liebe kann aber nicht eingefordert oder erzwungen werden. Sie ist ein Glücksfall, wenn sie gefunden wird. Wo das nicht oder nur mangelhaft möglich ist, gilt es, die Selbstliebe zu entwickeln, die den Weg zur inneren Würde sucht, durch alle Verzwickungen und Vertrackungen hindurch. Die Selbstliebe besteht darin, die vielen und mannigfaltigen Verletzungen mit gütigem und verständnisvollem Blick zu berühren, zu umfangen und zu trösten. In jedem gelungenen Akt der Selbstliebe geschieht Heilung und es meldet sich die Würde zurück.


Die Vervollständigung der Geschichte


Im Prozess der Heilung wächst die eigene individuelle Geschichte zusammen – die Lücken, die durch die Verletzungen entstanden sind, werden gefüllt. Es bildet sich eine durchgängige Kontinuität, die allen Ereignissen dieses Lebens ihren besonderen Sinn zubilligen kann. Eine vervollständigte Geschichte stellt die Kraft für ein umfassendes Annehmen des gegenwärtigen Moments und für die Gestaltung der Zukunft zur Verfügung. Denn die Gedanken und Gefühle sind nicht mehr an die Verletzungen der Vergangenheit gebunden, sondern setzen die Kreativität frei, die für Wachstum und Entfaltung sorgt. 


Verletzbare Würde


Der erwachsene Mensch, der den Weg der Selbstliebe bestritten hat, ist in seiner Kraft und hat zu seiner Würde zurückgefunden. Er weiß zugleich um die Verletzlichkeit, um das Zerbrechliche am Menschsein, im Bewusstsein eigener Erfahrungen und im Blick auf die eigene Lebensgeschichte. Er braucht keinen Panzer, keine Verhärtungen und keine Gewalt, um sich in der Welt behaupten zu können. Er kann sich der Welt in seiner Verletzbarkeit zeigen, in dem Bewusstsein, dass dieses Leben in Zerbrechlichkeit begonnen hat und in Zerbrechlichkeit enden wird. Er braucht also keine Maske mehr, mit der er der Welt seine Anpassungsfähigkeit demonstriert und seine Bereitschaft, sich den Erwartungen der anderen zu unterwerfen. Vielmehr verbindet er seine Verletzlichkeit mit seiner Lebenskraft und umfasst beide mit seiner Würde. „Ich bin verletzbar, doch ich lasse es nicht zu, verletzt zu werden, weil ich um meine Kraft weiß.“


Die verletzlichen Helden


Die Helden und Heldinnen unserer Zeit sind Menschen, deren Kraft und Klarheit Hand in Hand mit dem Mitfühlen geht, wenn sie sich für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einsetzen. Sie speisen diese Haltung aus der Übung des Selbst-Mitgefühls in Beziehung zu ihrer eigenen Verletzlichkeit. Die Verletzlichkeit erweist sich als mächtiger als die Härte.

Bei Laotse heißt es dazu: „Dass Schwaches das Starke besiegt und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln.“ (Tao Te King, Kapitel 81) Die Vertreter des gewaltlosen Widerstandes und ihre Nachfolger haben inzwischen bewiesen, dass es möglich ist, nach dieser alten Weisheit zu handeln und auf diesem Weg immer wieder der Menschlichkeit zum Sieg über die Mächte der Zerstörung zu verhelfen. 


Der Weg des Mitgefühls


Eine Person, die den Weg der Heilung und Selbstliebe gegangen ist, kennt die Verletzbarkeit ihrer Mitmenschen und achtet sie, weil sie weiß, dass die besonders Verletzten besonders viel Liebe brauchen. Aus der Bewusstheit über das eigene Lebensschicksal und aus dem Annehmen der daraus entstandenen Belastungen und Leiden steht sie zu der Einsicht, dass der Weg der Verständigung und der liebevollen Akzeptanz der einzig sinnvolle ist. Sie weiß um die selbstverständliche und bedingungslose Gültigkeit und um die unbezwingbare Kraft der Menschenliebe.

Es ist ihr klar, dass es keine Alternative für die Suche nach Heilung und Frieden gibt als den, alle Mitmenschen in ihrem Leiden und ihren Schwächen und Stärken anzuerkennen und der Würde, die im Innersten von jedem von uns wirkt, volle Anerkennung und tiefen Respekt entgegenzubringen. Um es spirituell auszudrücken: Sie verneigt sich vor der Göttlichkeit in jedem Menschen, weil sie um ihre eigene Göttlichkeit weiß, die alles Schöne und Traurige des eigenen Lebens umfasst. In unserer Würde spiegelt sich das Göttliche.

Oder, wie Charlie Chaplin sagte: „Macht brauchst du nur, wenn du Böses vorhast. Für alles andere reicht Liebe.“

Zum Weiterlesen:
Scham und Verletzlichkeit

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