Dienstag, 16. Juli 2019

Die mystische Leere

Im vorhergehenden Blogbeitrag war die Rede vom Verzicht auf den Gottesbegriff, der eine Leerstelle auffüllen soll, die nur in ihrer Leere wirksam und sinnvoll ist. Was wir aber nicht benennen können, können wir nicht kontrollieren. Also wollen wir der Leerstelle einen Namen geben, den wir gebrauchen können. Sobald ein Inhalt in die Leere eingefüllt wird, wird sie in das menschliche Verhaltensrepertoire eingegliedert. Damit wird das Absolute handhabbar, benutzbar und missbrauchbar. Und natürlich: All diese Möglichkeiten wurden im Lauf der Glaubens- und Religionsgeschichte der Menschheit weidlich ausgenutzt.

Das ist es auch, was das Auffüllen so beliebt macht: Was wir in die Leerstelle hineinfüttern, ist unser eigener Brei, unsere Ideen, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Wir kennen uns aus mit dem Stoff, an den wir immer schon glauben und mit dem wir unsere Alltagssorgen und konditionierten Ängste erklären. Menschliches, allzu Menschliches, allgemein Menschliches. Zwar ist dieser Stoff nicht immer angenehm und beschaulich, sondern manchmal auch furchterregend und fordernd. Doch auch das ist uns vertraut aus unseren menschlichen Verwendungszusammenhängen. Was wir kennen, können wir in Gebrauch nehmen, und was wir kontrollieren, können wir verstehen. Es ist ein „Absolutes“ nach unserem Geschmack, entsprechend unserer Erwartungen und Vorprägungen. Wir brauchen uns nicht zu ändern, sondern wir passen das, was uns herausfordern könnte, an unsere Beliebigkeiten an.

Die moderne und aufgeklärte Welt bietet die verschiedenartigsten Gerichte an am Markt der Leerefüllungen. Man kann es auf christlich oder buddhistisch goutieren, in einer der vielfältigen Strömungen, die überall leicht zugänglich sind. Vielleicht verbringe ich eine Lebensphase muslimisch, die nächste hinduistisch und trete dann mal ins Judentum ein, vielleicht fertige ich mir eine Mischung aus verschiedenen Geschmäckern, ein religiöses Curry, dazu noch mit einem Schuss neumoderner Esoterik.

Die Angst vor der Leere 


Der „horror vacui“ hat eine ehrwürdige Geschichte, die auf die antike Naturvorstellung zurückgeht. Der Begriff geht davon aus, dass die Natur keine Leere zulassen möchte, sondern sofort alles füllt, was sich als Vakuum auftut. Bei Künstlern ist damit gemeint, dass eine Leinwand keine leere Stelle enthalten sollte, sondern dass die ganze Fläche mit Farbe zu bemalen sei. Schriftsteller leiden manchmal an der Angst vor der Leere, wenn sie mit einer Schreibhemmung vor einem leeren Blatt Papier oder Computerscreen sitzen. 

Heute nutzen Alltagspsychologen den Begriff, um das Phänomen der permanenten Erreichbarkeit und Ablenkbarkeit zu beschreiben, das typisch für den Menschen des 21. Jahrhunderts ist: Die Unfähigkeit, ohne Smartphone zu sein, das dauernd neue Nachrichten, Geschichten und Bilder ins Gehirn einspeisen muss, damit keine Fadesse einkehrt. Die Angst vor einer inneren Leere treibt dazu, fortwährend den Blick auf den Bildschirm zu heften, um ja nichts zu versäumen, was sich im Universum des Netzes abspielt. Jede Mitteilung, die eintrudelt, bestätigt die eigene Wichtigkeit, die im nächsten Moment verfallen kann, wenn niemand ein „like“ beim eigenen Foto drückt.

Auf den tieferen Ebenen des Seelenerlebens ist die Leere ein furchterregendes Phänomen, weil es auf existenzielle Mangelzustände hinweist, die meist frühkindlichen Ursprungs sind. Als bedürftige Wesen werden wir geboren, angewiesen auf Menschen, die unsere Mängel auffüllen. Die emotionale Leere, die übrigbleibt, wenn die frühen Bedürfnisse nur ungenügend befriedigt wurden, kann in Depressionen oder Hyperaktivität münden. Sie wird besonders dann aktiviert, wenn Beziehungen in die Brüche gehen, bei denen der Partner als Ersatz für die emotionale Leere aus der frühen Kindheit gedient hat.

Das Einlassen auf die mystische Leere


All dies ist nicht gemeint, kann sich aber einmischen, wenn es um den spirituellen Weg zur Leere geht. Er beinhaltet die Reinigung von allen begrifflichen Anhaftungen und die Lösung von konzeptuellen, emotionalen und habituellen Sicherheiten. Alles, was schon bekannt und vertraut ist, ob angenehm oder unangenehm, muss zurückgelassen werden. Alles Geformte bleibt an der Oberfläche, während das Formlose in der Tiefe auf ein bedingungsloses Sich-Fallenlassen wartet. Das Ankommen dort muss kein spektakuläres Erleben sein, an dem sich die intensitätsgeilen Gefühle anhängen können, sondern gleicht eher einer Einkehr in eine einfache Stille und Weite, die unendliche Freiheit.

Der spirituelle Erfahrungsraum beginnt dort, wo wir uns auf die „nackte“ Leere einlassen, auf das nicht verdinglichte und nicht verdinglichbare Absolute, das nichts mit unseren Erwartungen zu tun hat. Alles, was wir nicht zu Dingen machen können, auf die wir zugreifen und die wir mit unserem Willen beeinflussen können, mag uns Angst machen; doch das ist das Abenteuer, das auf uns wartet, wenn wir uns auf eine spirituelle Reise begeben. Wir müssen alle Hoffnung fahren lassen, alle Voreinstellungen und Konzepte, alles Wünschen und Wollen müssen zurückbleiben. Was es braucht, ist nur die Bereitschaft, sich auf die Erfahrung einzulassen, die im Moment hochbringt, was gerade sein soll – irgendein Geschwätz des Verstandes oder die Leere. Solange sich Inhalte, und seien das auch erhebende göttliche Inspirationen oder lichtvolle Visionen, bemerkbar machen, sind wir in der Geiselhaft dieses Verstandes gefangen. Solange wir Begriffe für unser Erleben – selbst wenn es ein Erleben des Absoluten ist –  finden müssen, bewegen wir uns im Bereich des Relativen.

Die Radikalität des Jenseits macht erst die Transzendenz aus: Ein Jenseits, das nichts mehr mit dem Diesseits zu tun hat. Wir übersteigen die relative Wirklichkeit nicht durch ein schrittweises Hinausgehen, sondern wir geraten durch die Gnade oder Gunst des Augenblicks in die andere Welt, ohne unser Zutun und Verdienst. Es geschieht etwas mit uns und verändert uns. Und es geschieht dann irgendwann, vielleicht schon nach einem Sekundenbruchteil, dass wir wieder in die relative Welt zurückkommen, wieder ohne unsere Kontrolle. Der Verstand meldet sich wieder vorlaut zu Wort und möchte gleich einen Bericht vom Ereignis, damit er es in eines seiner Register einordnen kann. 

Das ist der Punkt, an dem die Religionsstifter oder ihre Anhänger angefangen haben, das Absolute zu verschriftlichen. Die heiligen Schriften sollten die spirituellen Erfahrungen kommunizierbar machen, damit sie möglichst vielen Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Tatsächlich haben sie dazu gedient, dass sich viele Menschen auf den Weg gemacht haben, um selber mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen; sie wurden und werden aber auch dafür benutzt und missbraucht, begrenzte Interessen zu bedienen und Machtstrukturen zur Kontrolle der Menschen aufzubauen, wie das in der Geschichte aller Religionen, die randvoll sind mit Leid und Gewalt, nachverfolgt werden kann. All die Schindluder, die im Namen von Religionen mit dem Absoluten getrieben wurden, müssen verstanden und demaskiert werden: Als feiges Zurückschrecken vor der Leere, als Ausweichen vor der mystischen Kraft des Absoluten, als zynisches Spiel mit Illusionen zum eigenen Machterhalt, als Zementierung von Unrechtszuständen usw. 

Das Aushalten der Leere ist die eigentliche spirituelle Prüfung. Inhalte können uns Angst machen oder schrecken, aber sie sind uns dennoch vertrauter als die mystische Leere. Wir wissen aus Erfahrung, dass wir auch mit der schlimmsten Angst zurechtkommen können, doch wir haben kein Wissen darüber, wie wir diese Leere aushalten könnten. Denn unser Erleben ist beständig mit Inhalten gefüllt. 

Der Wert aller Vorstufen soll damit nicht geschmälert werden: Die Ekstase des sinnlichen Erlebens, die Entdeckung der Wunder in der Natur, das Einswerden mit dem Fließen des Lebens usw. sind wertvolle Zustände, die uns auf das Absolute aufmerksam und neugierig machen. All das vermittelt uns einen Geschmack und eine Idee von Transzendenz, gibt uns den Mut und die Ausdauer für das Weitergehen auf der Suche. Doch das „Ziel“ ist noch immer jenseits all dieser wunderbaren Erfahrungen, eine namenlose Leere, ein Verschwinden in das Jenseits von Raum und Zeit.

Zum Weiterlesen:
Gott und das Absolute
Über die Willkür im Umgang mit dem Absoluten
Gott und das Ego
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
Letzte Fragen ohne Antworten

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