Das Englische sagt es so prägnant: Hurt people hurt people. Menschen, die häufig und viel verletzt wurden, verletzen andere häufig und viel. Oft merken sie es gar nicht, wenn sie anderen Menschen Leid zufügen, oder sie halten es für normal und selbstverständlich, andere zu verletzen. Ihre vielen Verletzungen bringen sie zur Haltung, dass anderen das Verletztwerden bei weitem nicht so wehtun kann wie das, was sie selber erlitten haben.
Wir lehnen natürlich Verbrecher und ihre Taten ab, die viel Schaden anrichten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt verunsichern. Täter wollen mit ihren Taten ihr eigenes vergangenes Opfersein ausgleichen. Sie üben gewissermaßen Rache für das eigene Leid, indem sie neues Leid verursachen. Dass sie dafür zumeist Unbeteiligte in die Opferrolle bringen, muss angeprangert, verurteilt und möglichst verhindert werden.
Die Entstehung des Bösen
Mittlerweile wissen wir aus vielen empirischen Erhebungen, dass die meisten, wenn nicht alle Straftäter eine schwere Kindheit hatten. Zum Beispiel geben 76% der in Deutschland inhaftierten Männer und 62% der inhaftierten Frauen an, in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt worden zu sein – ein Wert der wesentlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Ähnlich liegen die Zahlen bei körperlicher Misshandlung und bei sexuellem Missbrauch. Es gibt zwar auch viele Menschen, die trotz solcher traumatischer Erfahrungen nicht kriminell werden. Aber umgekehrt erweist sich der Blick auf die Bedingungen in der Kindheit bei den straffällig gewordenen Menschen als sehr aufschlussreich.
Straftäter konnten aufgrund ihrer Traumatisierungen keine klare Wertordnung und keine konsistenten Konzepte von Gut und Böse entwickeln. Außerdem war es ihnen nicht möglich, einen ausreichenden Respekt vor anderen Menschen aufbauen, weil ihnen selbst keine Achtung entgegengebracht wurde. Sie konnten sich nicht gegen Übergriffe abgrenzen und wehren, sondern waren ihnen hilflos ausgeliefert, solange, bis sie selber die Kraft hatten, sich durchzusetzen. Sie konnten deshalb kein Gespür für adäquate Grenzen im zwischenmenschlichen Bereich entwickeln und verletzen deshalb oft skrupellos die Grenzen anderer. Sie weisen schwere Defizite im Sozialverhalten und in der emotionalen Kompetenz auf. Gewaltakte und andere Verbrechen entstehen im Grund aus inneren Nöten und innerer Ausweglosigkeit. Ist dieser Weg der Kompensation frühkindlicher Mängel einmal beschritten, ist es schwer, wieder von ihm loszukommen. Er ist natürlich nicht zielführend, weil der emotionale Mangel nicht durch Gewaltakte wettgemacht werden kann. Vielmehr wachsen der Mangel und die innere Not mit jeder Handlung, die nicht im Einklang mit der allgemeinen Wertordnung steht.
Die Schamdynamik beim Verbrechen
Denn jeder Täter verstrickt sich in einen Schamkonflikt: Jede böse Tat hat Scham zur Folge, die entweder unangenehm gespürt wird oder durch eine Form der Schamabwehr verdrängt wird. Erst recht bewirken die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der Straftat und die Verurteilung eine massive Schambelastung. Eine Gefängnisstrafe schließt die betroffene Person aus der Menschengemeinschaft aus und wird als Demütigung und Bestätigung des emotionalen Zukurzkommens erfahren. Das Leiden an der Scham kann dann nur durch eine weitere Tat bewältigt werden, die dann sobald wie möglich nach der Entlassung die Selbstachtung wieder herstellen soll. Aber der erste Moment des Stolzes über einen gelungenen Coup weicht schnell wieder der Scham, spätestens dann, wenn die Handschellen klicken.
Die Verachtung der Täter
Da die Täter immer Opfer waren, steht die Verachtung der Täter niemandem zu. Die Haltung der moralischen Aburteilung wird vielmehr gespeist aus der Dämonisierung des Bösen im Außen, das der Verleugnung des Bösen im eigenen Inneren dient. Denn Neigungen zum Bösen gibt es in jedem Menschen; wer das Glück hatte, rechtzeitig zu lernen, wie diese Tendenzen unter Kontrolle gehalten werden können, braucht sich nicht denen überlegen fühlen, die diese Chance nicht hatten.
Das alles heißt nicht, dass die Schuld, die durch Verbrechen entsteht, mit Hinweisen auf eine verpatzte Kindheit entschuldigt werden könnten. Verbrecher sind erwachsen und haben die Verantwortung für ihre Taten zu tragen und die entsprechenden Strafen auf sich zu nehmen. Wir können allerdings ein Mitgefühl für die inneren Nöte und Konflikte von straffälligen Menschen entwickeln, ebenso wie für ihre Opfer. Das Mitgefühl ist ein menschlicher Akt und hat nichts mit der Ahndung der Tat zu tun, die erfolgen muss, damit einzelne Menschen und die Gesellschaft als ganze vor weiteren Übergriffen geschützt wird.
Es heißt nur, dass sie auch als Übeltäter vollwertige Menschen bleiben, die Respekt und Verständnis – für ihr Leid, nicht für ihr Tun – verdienen. Es braucht keine beschämenden und verachtenden Blicke der Gutmenschen auf die Bösmenschen. Kein Mensch ist gut, wenn er andere verachtet. Selbst die schlimmsten Taten löschen die Würde nicht aus, die jedem Menschen aufgrund seiner Geburt innewohnt.
Die Folgen für unseren kommunikativen Alltag
Die wenigsten unter uns haben viel mit Verbrechern zu tun. Wir leben in vergleichsweise sicheren Ländern. Wir können aber für unser alltägliches Leben mit seinen Unebenheiten und Beschwernissen die Sichtweise übernehmen, dass jede Verletzung, die uns zugefügt wird, aus einer Verletzung herrührt, die die Person, die uns verletzt hat, früher betroffen hat. Sie reagiert aus einer Episode ihrer alten Geschichte heraus und verwechselt uns gerade unbewusst mit einer Person, die ihr einmal Böses angetan hat.
Diese Sichtweise kann uns helfen, die Reaktivität, die uns begegnet, nicht mit der eigenen Reaktivität heimzuzahlen. Wir können die Reaktion verstehen, auch wenn wir sie nicht gutheißen müssen. Das Verständnis hilft uns, entspannt zu bleiben oder schneller in die Entspannung zu kommen und ruhig auf das zu antworten, was gerade abgelaufen ist.
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