Wir alle haben die Prinzipien der Leistungsgesellschaft verinnerlicht, von klein auf und gründlich. Sie sind uns wie eine zweite Natur geworden, die von Schamgrenzen bewacht wird. Denn wenn wir dagegen verstoßen, fühlen wir uns nicht wohl in unserer Haut, und das ist das Schamgefühl. Ein wichtiger Teil dieser Prinzipien besteht darin, dass der Wert der Menschen nach den Erfolgen bemessen wird, die sie im Rahmen dieser Gesellschaft und ihrer Normen erwerben. Das beginnt spätestens mit dem Schuleintritt, ab dem Noten darüber Auskunft geben, wie erfolgreich jemand ist, also inwieweit die vorgegebenen Leistungskriterien erfüllt werden.
Ab nun heißt die Devise: Erfolg ist gefordert, wer keinen Erfolg aufweisen kann, muss sich schämen. Auch jemand, der sich nicht um Erfolg bemüht, wird abschätzig oder verächtlich betrachtet. Wer nach Erfolg strebt, aber scheitert, wird zwar von der Scham angetrieben, aber verfällt beim Scheitern einer doppelten Schambelastung: Er hat nicht geschafft, was er sich vorgenommen hat, und er hat sich schon in seinen Vorsätzen übernommen und muss sich auch dafür schämen. Scheiternder Ehrgeiz ist demnach ebenso Anlass für Scham wie ein Mangel daran.
Wir haben in unserer Gesellschaft die Konzepte der Leistungsgesellschaft in unser Ich-Ideal eingebaut, und sie wirken so, dass sie immer wieder Druck ausüben und uns antreiben, deshalb kann man diesen Teil auch den inneren Antreiber nennen. Er erzeugt Stress.
Bei den meisten Menschen heißt Erfolg, etwas zu schaffen, was die anderen bestaunen und bewundern. Es geht um Lob und Anerkennung und damit um die Bestätigung, dazuzugehören und einen sicheren Platz in der Gemeinschaft zu haben, der durch das Einhalten der Prinzipien der Leistungsgesellschaft gewährleistet ist. Damit kann die Scham in Schach gehalten werden.
Das Erfolgsstreben ist also von den Erwartungen der anderen getrieben und nicht vom eigenen Inneren. Manche Leute erkennen diese Außenorientierung irgendwann in ihrem Leben wie eine Fremdsteuerung und geben dann ihren Beruf auf, den sie aus diesem Antrieb gewählt haben, aber nicht mögen, und suchen sich eine Beschäftigung, die mehr ihren Leidenschaften und Visionen entspricht.
Der Zwang zur Selbstoptimierung
Der bekannte französische Psychoanalytiker und Theoretiker Jacques Lacan hat vom Zwang zur ständigen Selbstoptimierung gesprochen, der die moderne Gesellschaft kennzeichne. Der Glaube an unserer Freiheit ist nur eingebildet, weil uns der Zwang zum andauernden Entsprechen der Erwartungen selbstverständlich geworden ist. Dass die Scham vor dem Nicht-Entsprechen im Hintergrund die Triebkraft ist, fällt uns nicht mehr auf. Auf diese Weise spielen wir mit in einem Spiel, dessen Regeln uns nicht bekannt ist, ebenso wie sein hintergründiger Zweck. Wir wissen zwar, was wir gewinnen können, das Objekt unseres Erfolgsstrebens (oder Begehrens im Sinn von Lacan). Es ist uns aber nicht bewusst, warum wir gerade dieses Objekt anstreben und nicht ein anderes, bzw. verfügen wir nur über Scheinrationalisierungen und Scheinbegründungen.
Michel Foucault hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass sich die Machtmechanismen, die unterschwellig im Erfolgsstreben und in all den anderen Strebungen zur Selbstoptimierung stecken, in unsere Körper eingeprägt haben. Auf diese Weise kontrollieren wir uns beständig selber, ob wir Normen entsprechen, deren Geltung wir ungefragt hinnehmen. Wir enttäuschen also im Fall unseres Scheiterns nicht mehr nur die gesellschaftlichen Vorgaben, sondern das, was wir als die eigenen Ansprüche an uns selbst wahrnehmen.
Das isolierte Erwachsensein
Es kommt ein weiterer Aspekt dazu, den ich das isolierte Erwachsensein nennen möchte. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass diese Leistungs- und Optimierungsgesellschaft fordert, das Kindliche gänzlich hinter sich zu lassen. Es ist ein Spiel der rational agierenden und angetriebenen Erwachsenen, die von sich alles abverlangen, um zu entsprechen und um Anerkennung zu bekommen. Es ist ein Spiel, das der Vermeidung von Beschämung dient. Aus diesem Spiel ausgeschlossen ist alles, was mit Schwäche und Bedürftigkeit verbunden ist, aber auch alles, was als Lebensfreude, Spontaneität und Neugier erlebt wird. All diese Anteile des Menschlichen gelten als kindisch und werden mit Scham belegt. Jede Erkrankung, jeder Unfall, alles, was an der Produktivität und am Erfolgsstreben behindert, sollte nicht sein und weist auf einen persönlichen Makel hin, auf einen Mangel an erwachsener Kompetenz, die allein Anerkennung verdient. Verdammt zum Erfolgreichsein, vollzieht sich dieses Sich-Abschneiden von den kindlichen Anteilen, die verleugnet und innerlich abgewertet werden müssen. Sie melden sich zwar immer wieder in Anspannungen, Selbstzweifeln und Unsicherheiten, müssen aber tunlichst unbewusst bleiben, um die mit ihnen verknüpfte Scham nicht spüren zu müssen.
Heldentum und Ehre
Interessant in diesem Zusammenhang ist das Aufgreifen der Motive aus der hierarchischen Gesellschaftsform, also Ideale des Mittelalters, die immer noch weiterwirken und nun den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft dienen. Es sind die Ideale des Heros und der Ehre. Wer Erfolg hat, darf sich als Held fühlen und im Stolz baden. Sie hat Großes vollbracht und verdient Anerkennung. Die Ehre ist ihr gewiss. Allerdings nur solange, solange die Strähne des Erfolgs anhält. Bricht sie ab, ist es vorbei mit der Ehre und mit dem Heldenstatus. Jede Heldenposition hat ihr Ablaufdatum. Alle Helden der Körperbeherrschung, alle Sportler kommen irgendwann in ein Alter, in dem sie nur noch vom Ruhm der Vergangenheit zehren können. Manchen gelingt es, eine neue Erfolgsschiene aufzutun, andere bleiben auf dem Status der vergangenen Ehre.
Selbstausbeutung und Naturzerstörung
Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, immer schneller, und das bedeutet, dass sich die Erfolgskriterien laufend verschieben und verändern. Was noch vor einem Jahr eine heldenhafte Errungenschaft dargestellt hat, ist nun schon langweilig und selbstverständlich. Am Laufenden zu sein, ist zum Zwang und zur Überlebensmaxime in der Erfolgsgesellschaft geworden und sorgt für ein andauerndes Hinterherlaufen, ohne Verschnaufpause.
Eine Gesellschaft, in der das Kindliche keinen Platz in der Erwachsenenwelt hat, hat sich dem permanenten Stress verschrieben. Stress ist Ressourcenverbrauch ohne Ressourcenaufbau. Unschwer ist zu erkennen, dass die Art und Weise, wie die Individuen gelernt haben, sich selbst auszubeuten, genau diejenige ist, mit der die Natur und damit die Lebensgrundlage jeder Gesellschaft ausgebeutet wird.
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