Freitag, 27. Juni 2014

Funktions- und Flussmodus

In Analogie zu den zwei Kategorien von Wahrheit können wir zwei Weisen der Lebensführung unterscheiden. Ich möchte sie Funktionsmodus und Flussmodus nennen. Der Funktionsmodus ist den relativen Wahrheiten und der Flussmodus den absoluten zugeordnet. Das bedeutet, dass wir uns im ersten Fall auf die relativen Erkenntnisse und Erfahrungen stützen, die wir im zweiten Fall zwar auch benutzen, aber in ihrer Relativität erkennen, sodass wir von ihnen nicht abhängig sind.

Der Funktionsmodus ist die Grundeinstellung, die uns in Extremzuständen und Bedrohungssituationen am Leben erhält. Menschen, die eine schwere Traumatisierung erlitten haben, berichten manchmal, dass sie sich nach dem Unfall oder der Katastrophe wie Roboter oder Zombies bewegt haben, eingeschränkt in der Wahrnehmung und in den Handlungsmöglichkeiten, aber dennoch, auf das Notwendigste reduziert, fähig, sich in der Welt zu bewegen.

Es dominieren die Anforderungen der Außenwelt. Sie sagen uns, was zu tun und was zu lassen ist. Wir mischen dazu die Ingredienzien unseres inneren Funktionsapparats - unsere Ängste und Begierden, unsere Prägungen und Muster. So ist immer klar, was getan werden soll, wie bei einer gut kalibrierten Maschine. Nur ungewohnte und überraschende Situationen erzeugen Unsicherheiten und Verwirrung. Hier muss der Funktionsapparat eine neue Variante erlernen und abspeichern, um wieder sicheren Boden unter den Füßen zu gewinnen. "Das kenne ich schon, das habe ich schon einmal überstanden." Das eigene Repertoire wird vergrößert und das Territorium für das Sicherheitsdenken kann sich erweitern.

Aufgrund verschiedenster Traumatisierungen, die wir in früher oder frühester Zeit erlitten haben, verfügen wir alle über solche Überlebensprogramme in unterschiedlicher Machart. Der Grundstress, der sich als Folge der Nichtverarbeitung der Traumen in uns chronifiziert hat, mobilisiert diese Mechanismen permanent, sodass das Leben aus dem Funktionsmodus für die meisten Menschen die Regel und das Leben aus dem Flussmodus die Ausnahme darstellt. Wir beklagen uns über die Mühsal, den Stress, die Langeweile und die Monotonie unseres Lebens, über die lästigen Widernisse des Alltags. Dabei mischen wir, ohne es zu merken, Grautöne in die Buntheit unserer Erfahrungen, und in deren Abläufe weben wir Bleifäden hinein, die uns selbst dann schwer werden lassen. Das gibt uns dann wieder Grund fürs Klagen und Jammern.


Leben im Fluss


Leben im Fluss heißt, dass das Leben sich selbst reguliert. Impulse kommen von außen und von innen und lenken die Handlungen. Es ist ein Leben in der Verbindung nach innen und nach außen, mit den Erfordernissen des jeweiligen Moments. Die Wahrnehmung ist offen und frei, nimmt also ohne Abwehr und Zensur auf, was sich gerade darbietet und was wir für unsere Orientierung benötigen. Eins folgt aufs andere, nichts davon muss als besser oder schlechter bewertet werden, und wir können uns an den kleinen Dingen wie an den großen gleichermaßen erfreuen.

Die Handlungen schöpfen aus einem unendlichen Reservoir an Möglichkeiten und brauchen keine Stereotypien oder vorgeprägte Muster. Leben aus der Kreativität ist ein anderer Ausdruck für den Flussmodus. In jedem Moment entfaltet sich eine noch nicht dagewesene Schönheit.


Überlebensstrategien


Da wir von früh an gelernt haben, den Überlebensmodus zu perfektionieren, fühlen wir uns in ihm am sichersten. Er ist uns vertraut und arbeitet einigermaßen zuverlässig. Wir verhalten uns vorhersagbar und berechenbar. Wir brauchen und verlangen es auch von den Mitmenschen, dass sie sich so verhalten. Deshalb gehört zum Funktionsmodus ein riesiger Werkzeugkoffer an Kontrollmechanismen und Manipulationsspielen.

Zunächst bauen wir diese Strategien in uns auf, um von früh an unsere Emotionen zu regulieren, je nachdem, wie wir besser damit zurechtkommen: introvertiert in Richtung Depressivität, extrovertiert in Richtung Aggressivität. Der Sinn der Selbstkontrolle liegt darin, die Außenwelt zu kontrollieren, sodass sie uns möglichst wenig bedroht. Wenn wir uns selber kontrolliert verhalten, hoffen wir darauf, dass wir damit die Umwelt, die anderen Menschen am besten in Schach halten können. Wir schützen uns vor Gefahren, indem wir uns selbst berechenbar machen. Ich tue dir nichts, tue du mir auch nichts. Ich verhalte mich brav, und da du dich dadurch sicher fühlen kannst, verhalte dich auch so.

Der Apparat an Normalität, der sich mit der Zeit in uns anhäuft und den wir als Rucksack mit uns schleppen, ist unser Überlebensgepäck. Wir streben danach, ihn zu perfektionieren. Wir wollen uns vollständig mit ihm identifizieren und müssen ihn um jeden Preis verteidigen. Niemand darf ihn wegnehmen, niemand darf ihn in Frage stellen. Sonst wären wir verloren. Denn wir sind ja dieser Apparat.


Die anscheinend normale Persönlichkeit


ANP ist eine Abkürzung aus dem Bereich der Psychotraumatologie und bezeichnet die  "anscheinend normalen Persönlichkeitsteile", die ein angepasstes Verhalten in der Gesellschaft trotz Traumatisierung ermöglichen. Die EPs, die "emotionalen Persönlichkeitsteile", die starke Gefühle, intensive Impulse und ungewöhnliche Körperzustände beinhalten, schränken die Normalität ein und bewirken, dass die Person in Situationen, die die Traumareaktion auslösen, "unnormal" reagiert.

Die Welt des Funktionsmodus benötigt solche "anscheinend normale Persönlichkeiten", die im enggesteckten Rahmen der vorgegebenen gesellschaftlichen Erwartungen ihre Aufgaben erfüllen. Die "Ausrutscher", die von einem emotionalen Persönlichkeitsteil gesteuert werden, werden bis zu einem gewissen Ausmaß toleriert. Wenn es zu arg wird, nach dem Überschreiten bestimmter Grenzen, wird die Person ins Abseits der Gesellschaft verbannt, als Alkoholiker, Psychopath oder Versager.

Das ist das Prekariat des Funktionsmodus: Die Bandbreite, innerhalb derer er sich entfalten kann, ist eng gesteckt. Die Leistungsgesellschaft fordert ein hohes Maß an Funktionalität und Angepasstheit.

Toleranz ist kein hoher Wert in System des Funktionsmodus. "Jede Nachsicht hat einmal ihre Grenze". Darum ist die Anstrengung groß, die aufgewendet werden muss, um im vorgegebenen Rahmen zu bleiben. Sie geht in zwei Richtungen: Die innere Unterwelt zu kontrollieren, sodass die Emotionalität im Toleranzrahmen bleibt, und die Außenwelt zu kontrollieren, sodass sie die emotionalen Ausreißer toleriert - im Fall des Alkoholikers die Exzesse einerseits möglichst gering zu halten und andererseits möglichst gut zu verbergen.


Eltern und Kinder


Eltern bringen ihren Funktionsrucksack in die Elternschaft mit ein. Selbstverständlich gehen sie davon aus, dass die Kinder in ihre Form der Weltbewältigung hineinwachsen, um selber einmal gut funktionieren zu können. Zwar kann die Spontaneität und Lebendigkeit der Kinder ein Stück des Fließens wachrufen. Doch die Erfordernisse der Erziehung, Versorgung und Förderung der Kinder nehmen allzu leicht überhand und überprägen den Alltag des Zusammenlebens und Aufwachsens mit Funktionalität

Mit dem Größerwerden der Kinder wird das zu einem häufigen Thema: Die Eltern haben sich mit ihrer Lebensform angefreundet und abgefunden - wie man denkt, wertet und handelt. Andere Lebensformen werden als falsch und verfehlt bewertet. Kinder wachsen mit einem Gefühl der Selbstverständlichkeit auf, was diese elterlichen Lebensformen anbetrifft. Sie glauben, dass so das Leben ist, dass Menschen so und nicht anders miteinander umgehen, dass dies gegessen wird und anderes nicht, dass über dies geredet wird und über anderes nicht usw.

Je mehr sie sich selber entdecken und spüren lernen, desto mehr erwacht in ihnen die Rebellion gegen diese vorgegebene Lebensform der Eltern. In der Rebellion verbirgt sich ein tiefes Wissen um die Unstimmigkeit und eine Sehnsucht nach dem Fließen, das viele Eltern schon längst aufgegeben haben. Deshalb wählen Jugendliche häufig ganz abwegige und heftige Formen der Neuorientierung und des Ausbrechens aus der Enge der elterlichen Lebensentwürfe, und die Konflikte, die daraus erwachsen, wachsen sich mitunter zu intensiven Zerwürfnissen aus.


Das Alte im Neuen


Letztlich dann findet jede neue Generation wieder zu einem Ausgleich zwischen dem Alten und dem Neuen, in einer nicht wirklich neuen Form des Funktionsmodus. Es ist die Resignation nach dem verzweifelten Bemühen, die Freiheit des Fließens zu finden und immer wieder zu scheitern, wie im Kater nach dem Besäufnis, das die Befreiung versprochen hatte.

Denn der Flussmodus zeigt sich jenseits der Konfliktlinien. Die Abgrenzung von einer Lebensform bindet insgeheim an diese, und in dieser Bindung ist nur die Etablierung des Gegenteils des Alten möglich, womit dieses im Neuen weiterlebt. Erst wo Friede herrscht im Inneren, kommt das Fließen wieder und umfängt mit seinem Zauber.


In den Fluss kommen


Die Atmung ist eines der Werkzeuge, die wir zur Selbstkontrolle verwenden. Wir lernen sie einzuschränken und damit unsere Lebendigkeit auf ein normiertes Maß zu reduzieren. Wir dürfen über keine Stränge schlagen und sollen niemanden auf die Nerven gehen.

An der Atmung können wir gut erkennen, in welchem Modus wir gerade sind. Jede Anspannung der Atmung weist darauf hin, dass wir vom freien Lebensfluss abgeschnitten sind und nur mehr funktionieren. 

In der befreiten Atmung vollzieht sich das Leben selbst, ohne Dazwischentreten von Konzepten und Normen, ohne Überformung durch relative Wahrheiten. Im Fließen sind wir mit der unaussprechlichen absoluten Wahrheit im Einklang. Da gibt es keine Zweifel mehr, und jede Frage ist schon beantwortet.

Jeder Moment, den wir im Flussmodus verbringen, gibt unserem Leben Qualität. Was es braucht, ist die Bewusstheit, die uns darauf aufmerksam macht, wenn wir in den Funktionsmodus gekippt sind, sodass wir die Wahl haben, in das Fließen zurückzugleiten.


Link zu "Anscheinend normale Persönlichkeitsteile"

2 Kommentare:

  1. Sehr gute Erklärung Wilfried, ich werde mich nach dem Abschluß meines Studiums wieder bei kursen bei dir einschreiben. Hat mir viel gebracht.
    Lg. Gernot

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  2. Dies ist ein ganz wunderbarer und wie ich finde sehr wichtiger Artikel. Dieses Thema gehört viel, viel mehr in die Öffentlichkeit. Es wäre so wichtig für unsere Gesellschaft.

    Ich selbst bin seit etwa anderthalb Jahren dabei, mich vom Funktionsmodus zum Flussmodus "umzuschulen", was einem Abenteuer gleich kommt. Dabei habe ich sozusagen das Glück, dass das Leben mir derzeit zügig nach und nach dafür eindeutige "Lektionen" zur Verfügung stellt, die zunächst einmal gar nicht so angenehm aussehen, die mir jedoch als Experimentierfeld dienen. Gewissermaßen werde ich dazu gezwungen, den Flussmodus zu trainieren, da ich mit dem Funktionsmodus jeweils nicht mehr weiterkomme.

    Erste Erfolge konnte ich verzeichnen und ich kann und muss sagen:
    Der Flussmodus fühlt sich wunderbar an! Da sind plötzlich Leichtigkeit, befreite Freude, ein Gefühl von innerer Freiheit zu spüren - trotz äußerer Schwierigkeiten. Ebenso finde ich Gelassenheit, Gleichmut, mehr innere Ruhe und Frieden und ein langsam wachsendes Vertrauen, dass sich alles nach und nach in rechter Weise ergeben wird.
    Ausserdem merke ich, dass ich eine erhebliche Menge Energie dabei einspare.

    Auch wenn ich "der Sache" noch nicht ganz traue, weil sie so ungewohnt ist, möchte ich sie nicht mehr verlieren. Experimentierfreude, Neugierde auf weitere Ergebnisse und wachsende Vorfreude auf ein dauerhaft neues Lebensgefühl treiben mich an.

    Auch ich arbeite zunehmend mit dem Atem und kann nur bestätigen, dass dies den Wechsel zum und das Leben im Fließmodus stark unterstützt.
    Förderlich sind auch die Erkenntnisse der buddhistischen Achtsamkeitspraxis, die mir unter anderem festzustellen helfen, wann ich wieder in den Funktionsmodus falle.

    Darüber hinaus möchte ich jedoch erwähnen, dass das sich freiwillige Einlassen auf den Fließmodus meines Erachtens nicht einfach ist, was ich durch andere Menschen erfahre, die auch diesen Weg suchen. Es bedarf entweder eines bereits vorhandenen oder wieder erinnerbaren Grundvertrauens in die Tragfähigkeit des Lebens oder man wird, wie oben geschildert, ins kalte Wasser geworfen.
    Eine dritte, stark fördernde Kraft ist eine spirituelle oder religiöse Beschäftigung, die eine absolute Wahrheit im Hintergrund erkennt. In Hinblick auf sie fällt es leichter, sich auf den Wechsel der beiden Modi einzulassen.

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