Die vorgeschriebene Verhüllung der Frauen in islamisch geprägten Ländern führt direkt zu
vielschichten Schamthemen. Nach dem Psychologen Konrad Schüttauf hat jede Scham mit Verhüllung und Enthüllung zu tun.
Um diese Dynamik zu veranschaulichen, entnehme ich dem Buch von Schüttauf, Specht und Wachenhausen* ein Beispiel: Es geht um einen Professor für Moraltheologie, der in seinen Vorlesungen gegen jede Form von Pornographie wettert, weil dort enthüllt wird, was verhüllt bleiben sollte. Dann grüßt ihn eines Tages ein Student, als er in einem Nachbarort gerade aus dem Pornokino kommt. Er ist selbst enthüllt und einem mächtigen Schamgefühl ausgesetzt. Das, was er in sich verhüllen wollte, eine Verhüllung, die er mit viel Einsatz auch „in der Welt“ durchsetzen wollte, ist ans Tageslicht gekommen. Er steht plötzlich entblößt in der Öffentlichkeit und ist seines Schutzes entkleidet, ein Schutz, den er mit seiner öffentlichen Identität verknüpft hat.
Es handelt sich also um die Spaltung zwischen einer privaten Person, die sich in diesem Beispiel zur Pornografie hingezogen fühlt, und einer öffentlichen, die vehement gegen ebendiese Form der Darstellung von Sexualität kämpft. Die Angst vor der Beschämung wacht darüber, dass die öffentliche Person in der Verhüllung bleibt. Deshalb lässt sie viel Energie ins Bekämpfen dessen hineinfließen, was der privaten Person wichtig ist, aber von der öffentlichen Person, die mit dem eigenen idealen Ich verbunden ist, strikt abgelehnt und verurteilt wird. Der Professor kämpft also die ganze Zeit gegen die eigenen Wünsche und muss im Dienst seiner Ideale in der Öffentlichkeit immer heftiger gegen das wettern, was er im Privaten begehrt – bis zu dem Moment, in dem durch eine unvorhergesehene (aber vielleicht vom Unbewussten, das die Spannung nicht mehr aushalten kann, angestiftete) Enthüllung das Abwehrsystem zusammenbricht.
Die Verhüllung als stellvertretende Schamabwehr
Soweit also ein Beispiel zur Dynamik von Verhüllung und Enthüllung, deren emotionaler Katalysator die Scham ist. In vielen Kulturen gelten besondere Regeln zur Verhüllung der Frauen. Das Zeigen von offenen Haaren war das gesamte europäische Mittelalter hindurch den Frauen verboten, während die Männer zum Teil ihre ausgeprägte Haaresfülle und -länge zur Schau stellen konnten. Ähnlich wie bis heute in islamischen Ländern wurde die Notwendigkeit der Verhüllung der Frauen von den Männern dadurch begründet, dass das Zurschaustellen bestimmter Teile des weiblichen Äußeren die männliche Begierde entfachen würde, die dann zu Übergriffen gegen die Frauen führen würde, was ja verhindert werden sollte. Allerdings trügen dann die Frauen die Schuld am Vergehen, indem sie dadurch die Schwächen der Männer provozieren würden, wobei es sich dabei um eine Täter-Opfer-Umkehr handelt. Denn initiiert wurden alle diese Regeln von den Männern, die in den öffentlichen Machtstrukturen das Sagen hatten und haben.
Es ist also die Enthüllung männlicher Schwächen, die durch eine Verhüllung der Frauen verhindert werden soll. Denn es stellt eine Charakterschwäche dar, die gleich allen Männern einer Kultur, wenn nicht allen Männern überhaupt, unterstellt wird, nämlich dass sie das eigene Macht-, Dominanz- und Sexstreben nicht kontrollieren können, sondern ihren eigenen Trieben schutzlos und ohnmächtig ausgeliefert sind, sobald sie einem bestimmten Schlüsselreiz, z.B. dem offenen Haar einer Frau oder deren auch nur deren Fußgelenk, ausgesetzt sind. Männer stellen sich selbst demnach als triebgesteuerte Instinktwesen ohne jede Vernunft dar, also als mental zurückgeblieben und behindert, zumindest in Bezug auf die Kontrolle der Sexualität.
Wir haben es im Grunde mit einer infantilen Schwäche zu tun, die darin besteht, dass ein Reiz, der ein Bedürfnis auslöst, sofort die erwünschte Befriedigung bekommen muss. Es ist eine Schwäche, die bei Erwachsenen mit Scham belegt ist. Auf dass diese Schwäche nicht offenbar werde, was jedem Erwachsenen zur Scham gereichte, wird durch ein System von Vorschriften deren Auslösung hintangehalten. Die Frauen werden einem Zwang unterworfen, indem ihnen eine Verhüllung vorgeschrieben wird, damit sich die Männer nicht in ihrer Schwäche entblößen. Die Frauen müssen also das Symbol für die männliche Scham zur Schau stellen, z.B. ein Kopftuch oder eine Ganzkörperverschleierung. Verschleiert werden also eigentlich die männliche Zügellosigkeit und die durch sie hervorgerufene Gewaltanwendung an Frauen. Sie sollen dafür sorgen, dass diese Scham nicht auftritt, indem ihnen selber mit der Vorschrift die zugehörige Scham aufgezwungen wird: Sie sollen sich schämen, wenn sie sich nicht schamvoll verhüllen.
Die Spaltung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit
Auch hier spielt eine Spaltung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten eine zentrale Rolle. Das öffentliche Bild der Frauen ist durch die Verhüllung gekennzeichnet, während die Männer unverhüllt herumlaufen. Tatsächlich wird aber das Private der Männer, nämlich ihre zügellose Triebsteuerung, verhüllt. Im Äußeren unverhüllt, besetzen die Männer Öffentlichkeit und üben ungehindert und schamlos ihre Macht aus. Sie haben ihr Inneres den Frauen zur stellvertretenden Verhüllung übergeben, die damit öffentlich manifestieren sollen, dass sie sich für ihre Reize schämen. Den Frauen ist die Enthüllung ebenso wie das Ausüben von Selbstbestimmung und Macht nur im Privaten erlaubt.
Patriarchale Wurzeln
Es handelt sich bei dieser vorgeschriebenen Verhüllung um ein Beispiel für die Widersprüche der patriarchalen Ideologie. Die Männer können ihre öffentliche Vorherrschaft nur aufrechterhalten, wenn sie vermittels einer defizitären Selbstbeschreibung die Frauen dazu zwingen, aus der Öffentlichkeit mit ihrem Selbstausdruck zu verschwinden und in der verhüllten Schrumpfform die männliche Definitionsmacht zu bestätigen. Ausgangspunkt und treibendes Motiv dieses Manövers liegen aber in der Schwäche der Männer, die ihre bedrohlichste Wunde darstellt. Denn Männer müssen gemäß der patriarchalen Ideologie die Starken und die Mächtigen sein, denen nichts Furcht einflößt und die alles im Griff haben. Die Kraft des Weiblichen ist aber von einer Art, die nicht von der männlichen bezwungen werden kann, weil sie nicht auf Muskelkraft oder auf der Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen beruht, sondern auf dem Verständnis von Emotionen, insbesondere der Hingabe. Es ist geradezu die Macht, die in der äußeren Schwäche besteht, die die Frauen den Männern zeigen und vor der diese im patriarchalen Geflecht ihre größte Angst haben.
Durch die Emanzipationsbewegung der Frauen wurde der Patriarchalismus geschwächt, aber die Spuren sind noch in allen Gesellschaften zu finden, am augenfälligsten dort, wo das Verhüllen des Weiblichen vorgeschrieben ist. Die Gefahr, die vom Weiblichen ausgeht, erscheint dort so stark, dass jedes Gewaltmittel recht erscheint, um die weibliche Ausdrucksfreiheit zu unterdrücken. Im Iran z.B. gibt es den weitverzweigten Apparat der Sittenpolizei, deren Aufgabe darin liegt, die Gesetzeskonformität der weiblichen Verhüllungen zu kontrollieren und durchzusetzen, mit Mitteln, die offenbar das Morden mit einschließen, ohne Strafen fürchten zu müssen. Zu bewundern ist der Mut, mit dem sich Frauen und auch Männer aus verschiedenen Ethnien und gesellschaftlichen Schichten in diesen Tagen gegen diese Zwänge protestieren.
* Konrad Schüttauf, Ernst Konrad Specht, Gabriela Wachenhausen: Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2003
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