Dienstag, 27. Oktober 2020

Das Korsett der Erwartungen

Wenn wir als neue Wesen ins Leben treten, treffen wir auf ein Feld der unterschiedlichsten Erwartungen, zumindest die unserer Eltern und Großeltern, gespeist aus unerfüllten Ambitionen, gesellschaftlichen Normen und vielen anderen Projektionen. Ist das Kind nicht willkommen, entsteht zusätzlich eine schwere Belastung, die wie ein Schatten über die Seele des unschuldigen Wesens gebreitet wird. Falls das Kind willkommen ist, herrscht Freude, aber unterschwellig werden immer Erwartungen an den Nachkommen wirken, die es spürt und innerlich verarbeitet.  

Es braucht für diese Einflüsse einen Ausgleich: Die unbedingte Akzeptanz der Individualität und Einzigartigkeit, die jedes Kind mitbringt, durch die mitmenschliche Umgebung. Für ein gutes seelisches Gedeihen, für eine Balance zwischen Innen- und Außensteuerung ist ein Fließgleichgewicht zwischen lenkenden und bestätigenden Außeneinflüssen notwendig. Gibt es nur Bestätigungen, so entwickelt das Kind ein unmäßiges Größenselbst, das sich mit der Kontrolle der eigenen Bedürfnisse und den Grenzen von Mitmenschen schwer tut. Die Innenbeziehung ist so mächtig, dass sie jede Außenbeziehung dominieren will.  

Gibt es andererseits nur Lenkungen und Vorgaben, die oft über gar nicht ausgesprochene, aber spürbare Erwartungen zur Wirkung kommen, dann bleibt die Selbstbeziehung auf der Strecke. Es wird nicht das Äußere ins Innere übersetzt, sondern als Ersatz des Inneren einfach übernommen. 

In diesem Fall bleibt nur eine Wahl, nämlich die Anpassung an die Außenerwartungen, die mit einer systematischen Selbstverleugnung einhergeht. Denn das eigene Überleben scheint nur sicher, wenn es gelingt, die Erwartungen zu erfüllen, die vorherrschen und den Platz vorzeichnen, den das neue Wesen in der Welt einnehmen soll, die Normen und Werte, die es vertreten soll, und die Charakterzüge, die ins Erwartungsschema passen. Das eigene Innere kann sich nur eingeschränkt entwickeln, im vorgefertigten Rahmen. Alles, was darüber hinausgeht oder nicht hineinpasst, muss unterdrückt werden und kann sich höchstens in der Fantasie oder über Ausweichgefühle ausleben. Ein Korsett wird angelegt, das die freie Entfaltung einklemmt und der kreativen Lebensgestaltung die Energie nimmt. 

Menschen, die gelernt haben, mit diesem Anpassungsdruck aufzuwachsen, entwickeln eine Wachsamkeit für die Reaktionen der Umwelt, Antennen, die immer ausgefahren sind, um die Stimmung der Umgebung zu registrieren. Das eigene Verhalten wird genau danach ausgerichtet, was von außen erwartet wird und in den Rahmen des Erwünschten passt. Sie verhalten sich wie Marionetten an den Schnüren ihrer Mitmenschen. 

Selbst die eigenen Gefühle müssen unterdrückt bleiben, damit die Anpassung gelingt. Vor allem die Wut, die zur Selbstbehauptung führen könnte, darf nicht gezeigt werden. Mit der Zeit wird sie von der Scham zugedeckt, die das nicht verwirklichte Selbst auslöst. Erst wenn der Körper rebelliert oder die Seele auf depressiven Rückzug geht, wird ein Ausweg aus der Abhängigkeit von außen gesucht. 

Das Eigene und das Fremde 

Erwartungen sind äußere Inhalte, die für das eigene Innere fremd sind. Ein reflektiertes Erwachsenen-Ich kann solche Erwartungen prüfen und entscheiden, ob es ihnen folgt oder nicht. Ein Kind hat diese Unterscheidungsfähigkeit noch nicht und erlebt solche Erwartungen, wenn sie in einer Atmosphäre der Anspannung gespürt werden, als richtig und berechtigt, weil es keine Maßstäbe zur Prüfung hat. Ihre Unausweichlichkeit wird zugleich als Druck wahrgenommen. Daraus entsteht die zwingende Notwendigkeit, diese Inhalte ins eigene Innere zu übernehmen, obwohl sie fremd sind.  

Solche Erwartungen wirken umso stärker, je weniger sie explizit ausgedrückt und konkret erläutert werden. Denn vage Erwartungen werden im Inneren des Kindes generalisiert. Erfährt ein Kind von einem Elternteil, dass es Arzt werden sollte, weil das ein angesehener Beruf ist, dann hat das Kind die Möglichkeit, sich innerlich mit dieser Erwartung auseinanderzusetzen. Wenn das Kind fortgesetzt bemerkt, dass die Eltern mit ihm nicht zufrieden sind und immer wieder nörgeln und kritisieren, wird es eine Meisterschaft darin entwickeln, die Reaktionen der Eltern im Vorhinein abzufangen und abzuwiegeln, indem es das macht, was von ihm erwartet wird. Es entwickelt vielleicht ein Leistungsstreben, dass Erfolge um jeden Preis errungen werden müssen. 

Unbewusst wirkende Erwartungen werden ungeprüft inhaliert und oft schon über die Nabelschnur aufgesogen. Sie führen dazu, dass es zur vordringlichen Lebensaufgabe wird, das eigene Verhalten so auszurichten, dass es in das von außen vorgesetzte Raster hineinpasst. Schließlich wird ununterscheidbar, was vom eigenen Selbst kommt und was von außen, was also das Eigene ist und was das Fremde. Das Selbst ist durchlöchert und das Äußere übermächtig. 

Erwartungen – sofern sie nicht ausreichend mit Akzeptanz und Bestätigung ausgeglichen werden – stören den Aufbau einer wachstumsfähigen Selbstbeziehung, mit der sich das eigene Potenzial in Auseinandersetzung mit der Umgebung entwickeln kann. Die Außenachse korrumpiert die Innenachse, statt als zweiter Pol die Entwicklungsdynamik zu befruchten. Die Einflüsse von außen, also die Erwartungen der relevanten Bezugspersonen, nehmen den Hauptraum ein und bestimmen die Selbstbeziehung, die sich danach richten muss. Sie üben eine Macht aus, der das Innere nichts Adäquates entgegensetzen kann, weil es von früh an mangels Achtung und Respekt geschädigt und geschwächt wurde. Es ordnet sich unter und verbiegt sich, um den Ansprüchen soweit zu genügen, dass das eigene Überleben und die dafür notwendige Liebe gesichert ist – ein Leben für die anderen ist vorgeprägt. 

Verinnerlichte Erwartungen legen sich wie ein Korsett um die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Ideale. Die Wiedergewinnung der Selbstbeziehung und mit ihr der Eigenautonomie und Selbstverantwortung führt aus dem Gespinst der Abhängigkeiten heraus, die durch die Verinnerlichung der Erwartungen entstanden sind. Der Weg dahin erfordert die Unterscheidung des Eigenen und des Fremden und die Rückgabe der verinnerlichten Erwartungen an diejenigen Personen, von denen sie übernommen wurden. 

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