Sonntag, 1. November 2020

Anpassung als Überlebenszwang

Die Anpassung an äußere Lebensumstände ist ein Grundmechanismus des Lebens. Es gibt immer etwas Äußeres, mit dem sich das Innere auseinandersetzen muss. In dieser Begegnung, die in jedem Moment abläuft, findet Wachstum und Lernen statt. Das Äußere verändert das Innere und das Innere anschließend das Äußere.

Wenn wir uns die menschlichen Entwicklungsbedingungen anschauen, erkennen wir schnell, dass diese Austauschprozesse selten optimal verlaufen. Neue Wesen, die empfangen und geboren werden, stoßen auf die bestehenden Familienstrukturen, gesellschaftlichen Gegebenheiten und Naturbedingungen. Sie bringen ihre Individualität als Bereicherung ein. Schaffen es die äußeren Faktoren, vor allem die familialen Bezugspersonen, in Abstimmung und Resonanz mit den neuen Impulsen zu gehen, so entwickelt sich ein für beide Seiten fruchtbarer Verlauf, bei dem wechselseitiges Lernen stattfindet und emotionales und soziales Wachsen angeregt wird.

Sind hingegen die Außenbedingungen unflexibel und starr, wie z.B. festgefügte Rollenerwartungen, die dem Kind vorgesetzt werden, so bleibt die Wechselseitigkeit des Austausches auf der Strecke. Eltern, die genaue Vorstellungen darüber haben, wie ein Kind zu sein hat und wie es sich verhalten soll, welche Gefühle erwünscht sind und welche abgestellt werden müssen, bringen das Kind in eine Friss-oder-Stirb-Alternative: Entweder du fügst dich dem „Korsett der Erwartungen“ oder du musst schauen, wo du bleibst. Die letzte Möglichkeit ist keine, denn sie würde den sozialen Tod erwarten. Die Anpassung wird unweigerlich zur unumgänglichen Überlebensstrategie.

Das Äußere hat die Übermacht, weil es die Bedingungen fürs Überleben diktiert. Das Innere muss übernehmen, was ihm vorgesetzt wird. Es wird sich zunehmend mit den äußeren Inhalten anfüllen, um sich auf diese Weise ein- und unterzuordnen. Es muss das Eigene zurückstecken und beiseite stellen, oft bis es ganz verkümmert ist und scheinbar nichts mehr vom eigenen Selbst übriggeblieben ist. Gezwungenermaßen müssen die Eigenbestrebungen und -impulse geopfert werden. Der ängstliche Blick auf die Erwartungen, an die man sich möglichst lückenlos anpassen muss, gräbt sich in die Gesichtszüge ein und prägt die unterwürfige Haltung in der Begegnung mit der Welt.

Trotziger Widerstand

Da die Wachstumsimpulse nie ganz unterdrückt werden können, zeigt sich in bestimmten Entwicklungsphasen eine Gegenbewegung gegen die erlernte Überanpassung. Wenn neue Kompetenzen erworben werden, wie z.B. der Eigenwille, erprobt sich dieser an den äußeren Umständen und es kann zu Phänomenen der Rebellion kommen, mit denen gegen den Zwang zur Anpassung und Unterordnung protestiert wird. Gleich wie diese Prozesse dann ablaufen – ob sich der Aufstand gegen die Übermacht der Außenregulierung zumindest teilweise durchsetzen kann oder ob er an der Dominanz und Unerbittlichkeit der äußeren Instanzen zerbricht –, der Anpassungsdruck bleibt bestehen und bestimmt das weitere soziale und emotionale Schicksal. Denn auch die Trotzhaltung als Kompensation der erzwungenen Unterordnung beruht auf der Verleugnung und Weglegung des eigenen Selbst und will es krampfhaft als Imitierung des Zwanges wieder aufrichten. Im Protest wird das Selbst allerdings nicht gefunden, sondern nur die Rache an seiner Beschneidung geübt. Es sollen auch die anderen leiden, indem die Grausamkeit verdeutlicht wird, mit der das Eigene ignoriert wurde. Der Antrieb zum Aufstand stammt zwar aus den Quellen des Selbst, das sich aus den Korsettierungen befreien will. Aber ohne ein verständnisvolles und respektvolles Umfeld kann das Eigene nicht wiedergefunden werden. Eigenes wächst nur dort, wo es vom Anderen bestätigt wird.

Die Suche nach dem Selbst

Es ist nicht verwunderlich und gibt Hoffnung, dass immer mehr Menschen aufbrechen, um ihr Selbst wiederzufinden. Das Leiden an den inneren Konflikten, die eine unvermeidliche Folge der Überanpassungsprozesse sind, wird immer offensichtlicher und verlangt nach Heilung. All die Bestrebungen der Selbsterforschung und Selbstverwirklichung sind nichts anderes als Reisen zur Wiederentdeckung eines verlorenen Kontinents, auf dem das eigene innere Wesen, die Individualität und das Wunderbare der eigenen Lebendigkeit warten.

Zum Weiterlesen:

Das Korsett der Erwartungen

Katzenbuckeln - eine Traumareaktion

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