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Zwei Gesichter hat die Kali, die hinduistische Göttin der Zerstörung. Sie symbolisiert den Untergang des Alten, das weichen muss, um dem Neuen Raum zu geben. Zu diesem Zweck schafft sie Chaos, wo eine überholte Ordnung bestanden hatte und bringt alles durcheinander, was vorher fein säuberlich getrennt war, damit sich neue Konstellationen bilden können.
Sie hat aber auch, wie alle Götter im
Pantheon, eine Schattenseite, da ihre Zerstörungskraft keine Grenze kennt und unweigerlich
übers Ziel schießt, wenn es keine anderen Kräfte gibt, die ihr Einhalt gebieten.
Jede Zerstörung um ihrer selbst willen mündet schließlich in einer Selbstzerstörung.
Die Dynamik, die durch gewaltsame Zerstörung entfesselt
wird, ist schwer zu kontrollieren, was sich in der mythischen Geschichte von
Shiva und Kali ausdrückt. Kali tanzt unbändig auf dem Schlachtfeld, „trunken
vom Blut ihrer Feinde“, und ihr Gemahl Shiva kann ihr Toben nur beenden, indem
er sich hinlegt wie eine Leiche. Als sie auf ihm tanzt, erkennt sie, wer er ist,
und hält inne. Vor Schreck und Scham über ihr Tun streckt sie die Zunge heraus.
Es bedarf eines radikalen Einschnitts, um die
Dynamik einer unkontrollierten Zerstörungssucht zu unterbrechen. Die entfesselte
Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit kann nur durch die konzentrierte Rückbesinnung
auf das Menschliche eingegrenzt werden. Die Schamreaktion ist die innere Antwort
auf die Vernichtung des Menschlichen, die im Außen angerichtet wurde.
Die Kraft von Kali
Ein anderer Mythos besagt, dass Shiva seine
Lebenskraft Kali verdankt. Shiva wäre nur ein Leichnam, wenn er nicht Kali in
sich hätte. Kali ist also ein zentraler Anteil von Shiva. Die Kraft der
Zerstörung ist ein unverzichtbarer Teilaspekt der Lebendigkeit, dessen Geheimnis
wir erst verstehen lernen müssen und dessen Handhabung eine lebenslange
Lernaufgabe darstellt.
Kali ist auch eine Repräsentanz der
mütterlichen Energie, die jedem Menschen ins Leben hilft. Diese Energie ist die
schöpferische Kraft, die gewissermaßen aus dem Nichts Neues in die Welt setzt.
Dagegen ist die zerstörende Kraft jene, die neuem Leben Raum verschafft, indem
Altes vernichtet wird. In vielen anderen Mythen und Traditionen wird das
Zerstörerische, auch im Zusammenhang mit Gewalt, dem Männlichen zugeordnet, das
ja physisch im Durchschnitt das stärkere Geschlecht darstellt und genetisch mit
mehr Aggressionshormonen ausgestattet ist. Andererseits gibt es auch das
Phänomen der emotionalen Zerstörung, z.B. von Sicherheit und Vertrauen bis hin
zum Auslöschen des Selbst, die auch, aber nicht nur von Frauen verübt wird.
Das Mütterliche gibt das Leben; was gibt, kann
es auch wieder nehmen. Es ist diese Macht über das Leben, das Angst bereitet
und Respekt einflößt. Aus diesem Grund bilden sich oft intensive und lebenslang
wirksame Abhängigkeiten der Kinder (beiderlei Geschlechts) von den Müttern, Abhängigkeiten
der Geschöpfe von den Schöpferinnen, denen das Leben geschuldet ist.
Der Bann dieser Macht kann erst durchbrochen
werden, wenn der fantasierte Inhalt dieser Dynamik durchschaut ist.
Erwachsenwerden heißt sich von der internalisierten Zerstörungskraft des
Mütterlichen zu emanzipieren. Es gelingt umso besser, als die Angst vor der
Zerstörung nicht durch eigene Akte der Zerstörung kompensiert werden muss. Denn gerade die Zeit der Ablöse von der Macht
des Mütterlichen in der Adoleszenz ist für das Ausbrechen von destruktiven
Exzessen anfällig, so übermächtig ist die urmütterliche Verfügung über das
eigene Leben verankert.
Die Furie des Verschwindens
In den Wirtschaftswissenschaften gibt es den
Begriff der schöpferischen oder kreativen Zerstörung. Wenn in der Wirtschaft
neue technische Erfindungen erfolgreich eingesetzt werden, müssen alte
Strukturen verschwinden, wie z.B. die Heimweber durch den mechanischen Webstuhl
oder das Druckergewerbe durch die Digitalisierung. Auch Karl Marx war der
Meinung, dass überkommene Produktionsformen verschwinden müssen und dass
deshalb der Kommunismus mit Sicherheit auf den Kapitalismus folgen wird.
Er folgt mit dem Konzept einer zwingenden
Entwicklungslogik in der Geschichte dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
der den Ausdruck von der „Furie des Verschwindens“ geprägt hat. Nach seiner
Auffassung ist alles Geschehen von dialektischen Strukturen gelenkt: Das Positive
wird durch das Negative zerstört, und beides wird dann in einer Synthese
aufgehoben: In einem dreifachen Sinn: bewahrt, verbessert und beseitigt. Alles,
was ist, muss sich in sein Gegenteil verkehren und findet daraus zu einer höheren
Gemeinsamkeit. Oder: Jede Ordnung verschwindet irgendwann im Chaos und daraus
erwächst dann eine geläuterte höhere Form der Ordnung.
Das ist auch ein weit verbreitetes Verständnis
der Macht von Kali und der Notwendigkeit von Zerstörung. Was ist, wird
irgendwann einmal unnötig, verbraucht oder schädlich, wie der schönste Salat
einmal verrottet. Was nicht mehr tauglich ist oder nicht mehr in die Gegenwart
passt, muss beseitigt werden, wenn es nicht von selber verschwindet. Wenn es
als überflüssiges Relikt aufbewahrt wird, steht es nur im Weg und unterbindet
die Erneuerung. Wie der Körper laufend Zellen abbaut und durch neue ersetzt,
braucht es auch auf allen anderen Ebenen die Abbauprozesse, damit die
Aufbauprozesse Platz bekommen, um wirken können.
Die Nutzung der Zerstörungskraft
Zerstörung ist also ein notwendiger Aspekt des
Wachsens. Die Frage ist nur, wie die Kraft der Zerstörung konstruktiv genutzt
werden kann, also wie die destruktive Kraft so eingegrenzt werden kann, dass
sie dem Leben und seiner Mehrung dienlich ist. Es gibt eine Nähe zum Gefühl der
Wut, das immer Teil der Zerstörungskraft ist. Beim Umgehen mit der Wut geht es
nicht darum, wutlos zu werden, sondern die Wut in Bahnen zu lenken, sodass die sozialen
Beziehungen bestehen bleiben. Ähnlich brauchen wir für den Umgang mit der
Zerstörungskraft ein Bewusstsein über ihre Grenzen und über ihre
Begrenzbarkeit. Die tragenden Strukturen und Werte der menschlichen
Gemeinschaft müssen erhalten bleiben.
Zerstörung ist manchmal notwendig, um einer
schleichenden Zerstörung entgegenzuwirken, wenn z.B. ein angefaulter Zahn
entfernt wird. Innere Muster und gesellschaftliche Strukturen, die der
Weiterentwicklung im Weg stehen und sie behindern, müssen entfernt werden, und
manchmal geht das nicht ohne Gewalt, also gegen den Willen der etablierten Strukturen.
Machtpositionen, die um ihrer selbst willen einbetoniert sind, müssen gesprengt
werden, über kurz oder lang.
Was lehrt uns Kali also? Das Leben besteht
auch darin, das Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung zu meistern. Wenn
Ordnungen starr und selbstbezogen werden, sind sie nicht mehr dienlich und
müssen aufgebrochen werden. Wenn das Chaos die Lebensgrundlagen angreift,
müssen Ordnungsstrukturen eingezogen werden. Jedes Leben kennt Phasen des Chaos
und Phasen der Ordnung. Die Lebenskompetenz besteht darin, die richtigen
Zeitpunkte für den Übergang vom einen zum anderen zu erkennen und beide Phasen
konstruktiv zu nutzen. Diese Kompetenz ist auf der individuellen wie auf der kollektiven
Ebene notwendig. Die Göttin Kali und ihre Mythen erinnern uns daran.
Kali und Covid
Die aktuelle Situation stellt ein spannendes
Wirkungsfeld für die Kali-Energie dar. Teile der Wirtschaft und des Geschäfts-
und Kulturlebens sind stark reduziert oder zerstört. Viele Tätigkeiten finden
online im Homeoffice statt, Büroräume werden nicht mehr benötigt. Statt
Geschäftsreisen werden Videokonferenzen abgehalten usw.
Während ganze Sektoren der Gesellschaft ins
Chaos gestürzt werden, herrschen auf anderen Ebenen neue Ordnungsstrukturen.
Die tagtägliche Disziplin im Abstandhalten und Maskentragen wurde eingeführt
und wird fast weltweit eingehalten. Der Staat übernimmt Ordnungsfunktionen, die
bis ins Privatleben hineinreichen. Neues, vorher unvorstellbares Chaos, neue,
vorher unvorstellbare Ordnung. Shiva und Kali im Tanz. Wir Menschen sind
mittendrin und haben den Eindruck, auch die Götter wissen nicht wirklich,
worauf alles hinausläuft. Also bleibt uns nichts anderes, als uns auf diesen
Tanz einzulassen und uns mit unseren Energien, Impulsen und Ideen mitzubewegen
und im Vertrauen auf eine höhere Regie weiter auf unsicherer See zu navigieren.
Wie bei jedem Tanz, so intensiv und chaotisch er auch sein mag, gibt es eine
Mitte, um die herum sich alles dreht, und dort herrscht tiefer Friede.
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