Montag, 9. Mai 2022

Das Geschehen und der Verstand

Ein naheliegender Einwand gegen die Orientierung des Geschehenlassens, die im vorigen Blogartikel beschrieben wurde, liegt darin, dass es wohl allzu leicht zum Nichtstun oder zum Faulenzen kommt, wenn es kein Funktionieren gibt: Ich lasse geschehen, was geschieht, lasse also das „Müssen“ weg, und schon bleibe ich morgens drei Stunden im Bett liegen. All die Aufgaben, die zu erledigen wären, bleiben unerledigt, es meldet sich keine Lust zum Tun. Ich habe eine probate Ausrede gegen jede Herausforderung des Lebens: Es wollte nicht geschehen. Vielmehr wollte geschehen, dass ich im Bett knotzen bleibe. 

Wenn wir allerdings genauer hinschauen, können wir sehen, dass wir in solchen Situationen nicht im Fluss sind. Vielmehr erkennen wir hier Anzeichen einer schleichenden Depression, verursacht durch hormonelle Störungen auf einer Ebene und durch belastende Kindheitserfahrungen auf der anderen. Dazu kann auch noch eine genetisch oder epigenetisch vererbte Neigung zur Depression kommen. Irgendwo führen dabei Ängste die Regie, die suggerieren, dass das Aufstehen zu Mühsal führen wird und deshalb besser unterlassen werden sollte. An anderer Stelle beginnen vielleicht Schamgefühle zu nagen, die uns vorwerfen unser Leben zu vergeuden, und bewirken irgendwann, dass der Entschluss zum Aufstehen erwacht und schließlich in einer Handlung mündet.

Die Macht des reaktiven Verstandes

In solchen Situationen kommt der reaktive Verstand dem Fließen in die Quere und nimmt es als Rechtfertigung für das Ausspielen der eigenen Muster und erlernten Gewohnheiten. Wo der Verstand Regie führt, gibt es keinen Flussmodus. Denn der Verstand ist von Ängsten angetrieben, die dann in ein „Müssen“ münden. Wer überlang im Bett liegt, um das „Müssen“ der täglichen Pflichten aufschieben zu können, unterliegt dem Müssen des Vermeidens, diktiert vom Verstand und den dahinter aktivierten Ängsten. Es ist ein versteckter Funktionsmodus, der regiert, das Nicht-Funktionierenmüssen besteht nur zum Schein. 

Die einzige Disziplin, die wir brauchen, ist jene, die den Machenschaften des Verstandes Einhalt gebietet. Sobald wir merken, dass wir aus dem Flussmodus herausgefallen sind und einem Müssen unterliegen, braucht es den bewussten Entschluss, die Vorherrschaft des Verstandes zu beenden. Wenn es nicht gelingt und der Verstand hartnäckig sein Terrain behauptet, gilt es, sich die Ängste bewusst zu machen, die aus dem Off den Verstand aktivieren. Dann können wir die Ängste mit der Realität konfrontieren und werden in den meisten Fällen draufkommen, dass es in Wirklichkeit keine aktuellen Bedrohungen gibt. Dann sollte sich die Angst auflösen und wir können wieder in den fließenden Modus zurückkommen.

Es ist also immer der reaktive Verstand, der diesen Zustand unterbricht. Er ist aus all den Unterbrechungen entstanden, die wir im Lauf unserer frühen Geschichte erlebt haben, und hat daraus seine Strategien abgeleitet. Gelehrig wie er ist, hat er die Agenda der Eltern aufgegriffen und unserem Bewusstsein als die besseren Strategien schmackhaft gemacht: „Wenn mich die Eltern aus meinem wunderbaren Zustand des Versunkenseins im Moment herausholen, werden sie schon wissen, wofür das gut ist. Sie sind ja die Großen und wissen, wo es lang geht. Da ich auch mal groß werden will, muss ich mich auch immer unterbrechen, wenn ich allzu lang im Geschehenlassen bin.“ So ungefähr tickt unser Verstand, der stets davon überzeugt ist, es gut mit uns zu meinen.

Bewusstheit unterbricht den Verstand

Der Verstand unterbricht, und mit unserer Bewusstheit unterbrechen wir den Verstand. Er reagiert auf alte Geschichten und spult dann sein Programm ab, das uns in den Müssen-Modus des Funktionierens hineinzwängt. Selber bleibt er solange drin, bis wir bewusst die Stopp-Taste drücken. Dann können wir wieder zurück in den Flussmodus gleiten.

Und siehe da: Im Flussmodus sind wir eben im Fließen, es gibt keinen Stillstand und keinen Leerlauf. Ein Impuls folgt auf den anderen. Jeder Moment bereitet den nächsten vor, der organisch aus ihm folgt. Deshalb kommen wir nicht in Zustände, in denen wir uns unwohl fühlen, wie z.B. in der anfangs geschilderten Situation des Nicht-Aufstehen-Wollens oder der Vermeidung von Herausforderungen. Vielmehr packen wir an, was zu tun ist, ob es schwierig oder einfach, anstrengend oder mühelos ist. Solange sich der reaktive Verstand fernhält, erledigen wir unsere Erledigungen, ohne Stress und Druck. Was an einem Tag geht, geht, was nicht, hat am nächsten Tag Zeit.

Von außen nach innen

Es ist zugleich eine Wendung von der Außenorientierung zur Innenorientierung. Im Funktionszustand ist unsere Aufmerksamkeit total nach außen gerichtet. Beständig scannen wir die Umwelt ab nach Anforderungen, Erwartungen und Bedrohungen. Sie liefert die Reize und wir reagieren auf sie, manchmal adäquat, manchmal unpassend. Dazu kommen die Pläne des Verstandes, die sich auch wie von außen machtvoll melden. 

Auf diese Weise funktionieren wir im Alltag und nehmen dabei kaum wahr, was sich innerlich abspielt, wie es uns also mit all dem geht. Unsere Gefühle werden uns meistens nur bewusst, wenn wir uns über etwas ärgern oder wenn wir uns vor etwas schrecken. Vor allem der Grundstress, der das Leben im Funktionieren kennzeichnet, ist uns schon so selbstverständlich geworden, dass er uns gar nicht mehr auffällt. Gerade deshalb ist die Wendung nach innen so wichtig. Denn sie macht uns auf unseren inneren Zustand aufmerksam, und dort liegt die einzige Möglichkeit, eine Änderung zu vollziehen. Der Schlüssel heißt Bewusstheit, und mit ihm können wir den Funktionsmodus beenden und in das Erleben des Moments zurückkommen, in dem Innen und Außen harmonisch miteinander schwingen.

Mit der Natur in Einklang

Oft hilft der Kontakt zur Natur, um unseren Verstand zu beruhigen und in den Moment zu kommen. Die Natur ist getragen und durchdrungen vom Geist des Geschehenlassens. Ihre entspannende Wirkung berührt uns deshalb, weil sie uns an unser eigentliches Sein erinnert, an das Übereinstimmen mit uns selbst. Da gibt es kein Müssen, kein Erwarten und kein Bewerten. Alles darf so sein, wie es ist.

Wir sind selber Natur, und das wird uns bewusst, sobald wir in Resonanz mit der Natur um uns herum treten. Wir sind ein Teil des Geschehens, das alles um uns herum in Bewegung hält. Wir sind nichts Besonderes im Sinn eines abgegrenzten Elements oder einer für sich bestehenden Einheit, sondern ein weiteres Sandkorn am Meeresstrand, eine Welle im Ozean, die kommt und wieder geht, ein Grashalm, der wächst und vergeht. Und wir sind etwas ganz Besonderes, etwas Einzigartiges, etwas noch nie Dagewesenes. Im Bewusstsein dieser beiden Aspekte unseres Seins kommen wir ganz zu uns.

Zum Weiterlesen:
Geschehenlassen und Funktionieren
Tun und Geschehenlassen
Funktions- und Flussmodus
Funktional und fließend wahrnehmen


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