Bringt die aktuelle Krisensituation der Pandemie Fortschritte oder Rückschritte in Bezug auf das Projekt der Aufklärung? Die Befunde sind ambivalent, da sich neue Allianzen gebildet haben – Interessensgruppen, in denen sich politisch links und politisch rechts denkende Menschen zusammenfinden, in denen sich progressive und konservative Denkweisen überschneiden, in denen liberale und gegenaufklärerische Argumenten gleichermaßen vertreten werden. Damit die aus meiner Sicht für eine gedeihliche Weiterentwicklung der Menschheit Schlüsselrolle der Aufklärung vor manipulativen Zweckentfremdungen, Verzerrungen und Irreführungen frei bleibt, ist es wichtig, klar unterscheiden zu können, wo die Aufklärung an ihre Grenzen stößt und auf manipulative Weise Partikularinteressen für Allgemeininteressen ausgegeben werden.
Das Vermächtnis der Aufklärung
Unter der Aufklärung verstehe ich das Unterfangen, die
zwischenmenschlichen Angelegenheiten mit Hilfe der Vernunft zu regeln. Die
Aufklärung ist im 18. Jahrhundert angetreten, allgemeine Freiheitsrechte,
kritisches Denken und autonome Handlungsräume durchzusetzen. Die Menschen
sollten ihr Leben nach selbstgewählten Grundsätzen und Werten ausrichten und
gegenseitig respektieren. Außerdem sollten sie zu einem Diskurs fähig sein, in
dem sich die besseren Argumente durchsetzen, wobei besser hier heißt, dass sie
mehrheitsfähiger sind, also von möglichst vielen Menschen akzeptiert werden
können. Dazu dient der konstante Bezug auf die Fakten, auf das, was der Fall
ist, sprich auf die Wirklichkeit, die unabhängig von den Menschen besteht oder
die sich in ihrem eigenen Innenleben befindet. Die Aufklärung ist untrennbar
mit den Wissenschaften verbunden, die eine Form des Wissens zur Verfügung
stellen, das prinzipiell von jedem Menschen nachgeprüft werden kann und damit
der individuellen Willkür entzogen ist. Dieses Wissen soll mit Hilfe der
wissenschaftlichen Selbstkontrolle, soweit es geht, vor dem Zugriff der Macht geschützt
bleiben und allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Aber nicht nur das Wissen
unterliegt einer intersubjektiven Reflexion, also einer kritische Überprüfung,
sondern das ganze Programm der Aufklärung braucht immer wieder die
selbstreflexive Infragestellung der eigenen Positionen, um sie an die
Erfordernisse der jeweiligen historischen Situation anzupassen. Was Aufklärung
heißt und ist, muss fortlaufend aktualisiert werden.
Die Vernunft ist, wie aus dem Vorigen folgt, das Vermögen,
nicht aus der beschränkten Eigenperspektive, sondern aus der Perspektive
möglichst vieler anderer Menschen zu denken, zu argumentieren und zu handeln. Sie
erfordert die Fähigkeit, die eigenen Überlebensmuster zu überschreiten und die
damit verbundenen Ängste und Egoismen zu distanzieren, sodass sie sich nicht in
das Denken, Urteilen und Handeln einmischen. Vom Standpunkt der Vernunft aus
können wir zu Einsichten kommen, wie die Geschicke der Menschheit so gestaltet
werden können, dass sie mehr dem Menschsein entsprechen, also dem, was die
Menschen in ihrem Inneresten ausmacht und was sie aus diesem Inneren heraus
wollen und anstreben.
Immanuel Kant hat darauf verwiesen, dass die Aufklärung den
Mut benötigt, um praktisch werden zu können, um also in die Gesellschaft
eingreifen zu können. Wir können darunter die Fähigkeit verstehen, die eigenen
Ängste zu kennen, zu verstehen und sich davon frei zu machen. Mutige Menschen
handeln geleitet von ihren Werten und Zielen, ohne sich von ihren Ängsten
einschränken und bremsen zu lassen. Der Mut umfasst auch die Fähigkeit zur
fortlaufenden Überprüfung und selbstreflexiven Kritik der eigenen Werte und
Normen.
Vernunft in Krisenzeiten
Jede Krisensituation fordert dazu heraus, praktische
Lösungen umzusetzen. Bei einem Feuer müssen zuerst die Menschen gerettet werden.
Sodann muss das Feuer eingedämmt und gelöscht werden. Es sind aber auch
Vernunftsgesichtspunkte notwendig, wie aus der Krise gelernt werden kann, damit
sie sich nicht wiederholt, zum Beispiel: Wie ist ein vernünftiger Brandschutz
machbar?
Wir leben in einer nun schon länger andauernden Krisensituation
infolge der Corona-Pandemie. Sie hat vor allem in unseren Ländern mit ihren
hohen Sicherheitsstandards und ausgeklügelten Mechanismen der Risikominimierung
zu großen Verunsicherungen geführt. Für andere Weltteile, in denen die
Grundunsicherheiten von vorn herein wesentlich höher sind, ist die Bedrohung
durch den Virus nur eine von vielen anderen Herausforderungen, die tagtäglich
bewältigt werden müssen.
Wissenschaften und Laien
Wir hingegen können uns auf dem relativ hohen Niveau des
Krisenmanagements eine verzweigte Vernunftdebatte leisten. Die kritische
Funktion der Vernunft wird genutzt, um die Maßnahmen, die die Behörden zur
Eindämmung der Seuche unternehmen, zu überprüfen. Es gibt viele Infragestellungen,
die die Wissenschaftlichkeit der Virusforschung und der Impfstoffforschung in
Zweifel ziehen. Diese Diskussionen müssen im Rahmen der Wissenschaften ausgefochten
und erledigt werden, was auch fortwährend geschieht.
Die Einmischung von Laien, die nur die Ansichten bestimmter
Wissenschaftler, die aus dem wissenschaftlichen Mainstream ausscheren, oder verkürzte
Interpretationen von wissenschaftlichen Ergebnissen wiedergeben und
propagieren, ist hier nicht hilfreich und kippt schnell in emotionalisierte Debatten
voll von ideologischen Einschüben. Ideologien entstehen häufig aus absolut
gesetzten relativen wissenschaftlichen Erkenntnissen – aus vereinzelten Forschungsergebnissen
werden ohne genaue Prüfung Wahrheiten geschmiedet, die keinen Widerspruch
zulassen. Damit wird augenscheinlich die Orientierung an den Idealen der
Aufklärung verlassen und die Basis für gleichrangige und konstruktive
Diskussionen zerstört.
Grund- und Freiheitsrechte
Eine andere Richtung der Kritik zielt auf die Einschränkung
der Grund- und Freiheitsrechte durch die Maßnahmen in der Pandemie-Bekämpfung.
Sie beziehen sich auf die Individualfreiheiten, die durch die Aufklärung
verankert wurden und ins allgemeine Selbstverständnis westlicher Bürger
übergegangen sind. So viel Freiheit wie möglich, so wenig Einschränkungen wie
notwendig, das ist die liberale Freiheitsnorm, die der menschlichen
Selbstentfaltung möglichst viel Raum garantieren will. Jede Einmischung des
Staates in diese Freiheitsrechte muss hieb- und stichfest sein, ansonsten
drohen diktatorische Zustände.
Und hier scheiden sich die Geister: Darf der Staat
vorschreiben, dass seine Bürger bei bestimmten Gelegenheiten Masken tragen
müssen? Den verantwortlichen Vertreter der Staatsmacht obliegt es in diesem
Zusammenhang, die Rechtsgüter abzuwägen – der Schutz der Menschen vor
Ansteckung und Krankheit gegen die Beschränkung der Freiheit. Solche
Entscheidungen können in einer Demokratie auf ihre Verfassungsgemäßheit geprüft
werden, bzw. können die Entscheidungsträger bei einer Wahl ihre Posten
verlieren. Der Disput über die Sachgemäßheit von solchen
Abwägungsentscheidungen ist wichtig, und abweichende Meinungen müssen gehört und
besprochen werden. Allerdings ist es auch vernünftig und notwendig, zu
akzeptieren, wie die Regeln sind, auch wenn die eigene Meinung nicht durchgesetzt
werden konnte. Sonst manövriert man sich an den Rand der Gesellschaft – und
fühlt sich ausgegrenzt, obwohl die Verantwortung dabei bei einem selbst liegt.
Manche geraten aus diesem Grund in eine radikale und aggressive Verweigerungshaltung
dem Staat gegenüber.
Freiheit und Zwang
Darf der Staat bestimmte Personengruppen oder alle dazu zwingen,
sich impfen zu lassen? Allerdings darf und muss der demokratische Staat das,
was an Gesetzen von der Mehrheit des Parlaments beschlossen wird, durchsetzen,
solange es verfassungskonform ist. Nicht alle müssen zustimmen, aber alle
müssen sich an die Regeln halten, oder sie nehmen bewusst Sanktionen in Kauf. Rebellen
gegen Gesetze hat es immer gegeben, sie machen darauf aufmerksam, dass es eine
Minderheit gibt, die mit bestimmten Maßnahmen nicht einverstanden ist. Aber sie
haben mit ihrer Haltung nicht automatisch recht, bloß weil ihre Sichtweisen von
der Mehrheit nicht geteilt werden. Ihre Argumente und ihre Kommunikationsmöglichkeiten
waren nicht stark genug, um im Konzert der Meinungen erfolgreich zu sein.
Es gibt keine Gesellschaft, die ohne Zwang auskommt. Jedes
Zusammenleben erfordert die Einschränkung der eigenen Bedürfnisse und Interesse
zugunsten des Gemeinsamen. Komplexere Gesellschaften brauchen komplexere Regeln,
und deren Einhaltung muss erzwungen werden, wenn sie nicht freiwillig vollzogen
wird. Sonst überwältigen die Einzelinteressen das Gemeinsame, und ein
chaotisches Jeder-gegen-jeden bricht aus.
Allerdings ist es weder klug noch vernünftig, wenn eine demokratisch
gewählte Regierung den Bogen überspannt und zu viel Zwang ausübt. Es geht immer
auch um die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Ausmaß an Freiheitseinschränkung
und dem dadurch erhofften allgemeinen Gewinn für das Gemeinwohl. Die kritischen
Stimmen der Betroffenen dienen als wichtige Rückmeldungen für den schwierigen
Kurs des Regierens und Verwaltens in Krisenzeiten.
Der Wirklichkeitsbezug
Über Richtigkeit oder Falschheit von Behauptungen
entscheidet deren Wirklichkeitsbezug: Wieweit beruht er auf allgemeinen, von
allen nachvollziehbaren Erkenntnisbedingungen, oder wieweit sind diese
subjektiv begründet und gefühlsgesteuert?
Die Pandemie-Gegner treten gerne mit dem Pathos der
Aufklärung auf, manchmal sogar mit dem der Weltrettung vor dem Bösen. Sie
verlassen das Terrain der Aufklärung aber dort, wo sie ihre Botschaften nicht
auf abgesichertes Wissen stützen, sondern auf Einzelmeinungen, die dann mit dem
eigenen „Gefühl“ als wahr erklärt werden. Gefühle sind keine Basis für die
Aufklärung, sondern für die Verdunkelung. Denn Gefühle lassen keine
Argumentation zu, sondern sind einfach, wie sie sind. Sie haben nicht die
Aufgabe, komplexe Themen zu klären. Sie sind nicht dafür da, allgemeine, für
alle Menschen gültige Prinzipien zu finden. Gefühle haben ihre eigene
Komplexität, die mit ihrer engen Anbindung an die eigene Lebensgeschichte
stammt. Deshalb sind sie immer nur subjektiv gültig und real. Ihr Dasein und
ihr Wahrheitsanspruch ist auf das erlebende Subjekt beschränkt.
Die Wahrheit, um die es der Aufklärung geht, soll gerade
nicht subjektiv sein, sondern eine über die Individuen hinausgehende Gültigkeit
haben. Der Anspruch der Aufklärung erstreckt sich auf alle Menschen, oder, wie
Kant es ausgedrückt hat, auf alle vernunftbegabte Wesen. Sie beruht deshalb auf
einem rationalen Fundament, also auf sprachlich formulierbaren Gedanken, die im
herrschafts- und gewaltfreien Diskurs eine intersubjektive Verständlichkeit
anstreben.
Gefühle in der Politik
Gefühle spielen eine wichtige Rolle in der Politik, und die
Aufgabe der Aufklärung liegt gerade darin, diese Rolle zu analysieren und zu thematisieren.
Denn sie werden häufig zum Zweck der Durchsetzung von Machtinteressen
instrumentalisiert. Das ist eine der klassischen Strategien von Demagogen und
Populisten, also von Leuten, die nicht mit Hilfe der Aufklärung, sondern gegen
sie Politik unter Verwendung von Manipulation betreiben wollen.
Wo also auch in den aktuellen Debatten um die Pandemie
Gefühlsimpulse für rationale Argumente ausgegeben werden oder hinter diesen
verborgen bleiben, gilt es, das aufklärerische Denken einzusetzen. Mit seiner
Hilfe können wir zuordnen, was im Rahmen der Rationalität geredet, argumentiert
und geschrieben wird und was in die Bereiche der Gefühlsökonomie, also der
inneren Auseinandersetzung eines Menschen mit sich selbst gehört. Auf diese
Weise bleibt das Anliegen der Aufklärung gewahrt und wird nicht mit anderen
Argumentationsebenen oder Behauptungsszenarien vermischt.
Die Bewahrung der Aufklärung
Wir sollen und können unsere unterschiedlichen Ansichten und
Meinungen haben und können uns sollen sie auch äußern. Die Meinungsfreiheit ist
ein wichtiges Anliegen der Aufklärung. Um aber unser Zusammenleben zu
erleichtern und die öffentlichen Diskurse in einem konstruktiven Rahmen
ablaufen zu lassen, ist es notwendig, die Quellen und Hintergründe unserer Standpunkte
zu berücksichtigen und Fakten (empirische Daten), wissenschaftlich gewonnenes
Wissen und subjektive Schlussfolgerungen und Extrapolationen voneinander zu
unterscheiden. Wir brauchen das Verständnis für die subjektiven Anteile, die in
unser Verständnis von Objektivität einfließen und die Bereitschaft, unsere
Subjektivität beiseite zu stellen, wenn wir in die Diskurse einsteigen.
Feindbilder und Vorurteile tragen wir alle in uns, aber wenn
wir deren Ursprünge mit dem Verständnis der früh gebildeten Prägung unserer
Gefühlsmuster entdeckt haben, können wir sie auflösen oder zumindest
abschwächen, sodass sie sich dann nicht mehr in die Verzerrung faktischer
Erkenntnisse und in unsere Gespräche mit unseren Mitmenschen sowie in alle
anderen öffentlichen Äußerungen einmischen. Die Selbstreflexion beinhaltet die
Fähigkeit, uns selber ein Stück zurückzunehmen. Das kommt uns zu Hilfe, wenn
wir uns bemühen, die gemeinsamen Anliegen weiterzuentwickeln.
Zum Weiterlesen:
Krisenängste und ihr Jenseits
Zwischen Wissenschaft und Lügenproduktion
Von der Angst zur Ethik
Angstkonditionierung und Corona-Reaktion
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