Sonntag, 7. April 2013

Emergenz und die Abkehr vom Determinismus

Zum erweiterten Begriff des Lebens gehört die Selbsttranszendenz, die Fähigkeit, aus einer Lebensform grundlegend neue Organisationsformen zu bilden. Noch weiter gefasst, kann diese Eigenschaft auf alle „Holons“ übertragen werden. „Holon“ ist ein Begriff, den der österreichisch-ungarische Schriftsteller Arthur Koestler geprägt hat und der darauf verweist, dass in systemischer Sicht alles, was es gibt, zugleich Teil und Ganzes ist, dass somit Teilsein und Ganzsein untrennbar miteinander verbunden sind und universale Geltung haben. In diesem Sinn hat der US-Philosoph Ken Wilber die Holone als Grundelemente seines integralen Weltbildes verwendet. Alle Holone können sich selbst transzendieren, und so entstehen aus subatomaren Teilchen Atome, aus diesen Moleküle usw.

Das Hervortreten neuer Holone aus schon bestehenden nennt man Emergenz, und zwar dann, wenn die Eigenschaften des neuen Holons nicht aus dem alten abgeleitet werden können, so wie die Eigenschaften der Tiere nicht in den Pflanzen enthalten waren, oder die Reptilien keine Anlagen zu Flügeln hatten, die die Vögel entwickelten.

Unter dieser Annahme scheitert ein deterministisches Weltbild, das annimmt, dass sich jede Entwicklung der Zukunft bei Kenntnis der gegenwärtigen Bedingungen vorausberechnen lässt. Vielmehr kann grundsätzlich nicht vorhergesagt werden, welche neue Form entsteht, wenn eine bestehende sich selbst transzendiert. Die Pflanzen konnten also nicht wissen, wie die Tiere ausschauen würden, die sich aus ihnen entwickelten. Ebensowenig hätte ein Wissenschaftler, der zu der Zeit, als es nur Pflanzen gab,  diese beobachtet hätte, vorhersehen hätte können, dass sich Tierarten bilden könnten und wie diese beschaffen sein könnten.

Deterministisches, also vorausberechenbares Verhalten ist dann nicht die Norm im Universum, sondern ein Randphänomen, das auftritt, wenn ein Holon seine Fähigkeit zur Selbsttranszendenz verliert. Dagegen findet sich Emergenz in allen Bereichen, von Wirbelphänomenen im Wasser bis zu sozialen Gruppen. 


Die Wissenschaft vermag Phänomene, die sich auf Grund von Emergenz gebildet haben, nur im Rückblick zu erklären. Sie kann in diesen Fällen, und das betrifft den weitaus größten Teil der Phänomene, also nur rekonstruktiv vorgehen. Dennoch hat sich unser Ideal von Wissenschaft auf deren deterministische Version eingeprägt. Wissenschaftlich „im strengen Sinn“ sei nur, was Voraussagen erlaubt, die dann allgemein überprüfbar sind. Was keine Voraussage erlaubt, sei spekulativ und keine Wissenschaft. Allerdings trifft diese Form der Wissenschaftlichkeit dann nur mehr auf leblose Dinge in einem begrenzten Beobachtungsrahmen zu, wie z.B. die Gesetze der Schwerkraft, die voraussagen lassen, dass ein schwerer Gegenstand zu Boden fallen wird. In den Bereichen der Quantenphysik funktionieren diese Gesetzmäßigkeiten schon nicht mehr, und ihre Anwendung auf lebendige Bereiche bringt nur minimalen Erkenntnisgewinn.

Die deterministische Wissenschaftsnorm ist uns deshalb so vertraut, weil sie in unserer Lebenswelt von Dingen und ihrer technischen Anwendung erfolgreich ist. Unsere Wahrnehmung ist nicht geeignet, Quanten zu beobachten. Für die groben Strukturen, die wir sehen können, reicht das deterministische Erfahrungsmodell.

Der „Fehler“, den wir allerdings begangen haben, liegt darin, dass wir diesen Wissenschaftsbegriff auf die anderen Wirklichkeitsbereiche übertragen haben. Seit der Erfindung der Landwirtschaft fand das Modell der technischen Beherrschung der unbelebten Natur Eingang in die Bereiche des Lebendigen. So wurde es ein gängiges Verfahren, Pflanzen und Tiere in ihrem Verhalten voraussagbar zu machen (zu züchten und zu zähmen), dass sie unseren Zwecksetzungen, vor allem der Nahrungssicherung dienen. Dadurch hat sich die Grundlage für dieses auf klare und unumstößliche wissenschaftliche Ergebnisse gestützte Weltbild gefestigt. Durch die Zeit der Aufklärung, die den Übergang aus einer religiös geprägten Wirklichkeitssicht des Mittelalters in eine durch Rationalität bestimmte Moderne bewirkte, ist der Determinismus zur Dominanz gelangt. Damit wurde allerdings ein wichtiger Teil des Menschseins in den Hintergrund gedrängt. Mit dem Siegeszug des materialistischen Bewusstseins wurde (und wird in vielen Bereichen bis heute) die soziale Ebene der ökonomischen untergeordnet. Die Wirtschaft berief sich, so weit es ging, auf das deterministische Denken, deshalb ist immer wieder von „ökonomischen Zwängen“ die Rede. Die Wirtschaft braucht für ihr gewinnorientiertes Funktionieren verlässliche und berechenbare Rahmenbedingungen.

Die Rückordnung des Sozialen wird dort deutlich, wo uns die Grenzen des materialistischen Weltbildes schmerzlich bewusst werden – in den ökologischen Problemzonen, in den Krisen des Finanzsystems, in den wachsenden Randbereichen der Wohlstandsgesellschaft, in der Ungleichentwicklung der Regionen, in den stressbedingten Krankheitsbildern. Die eigene Wirklichkeit und Logik der Kommunikation findet erst langsam wieder die Beachtung, die es braucht, um Individuen und Gesellschaft in der Moderne im Gleichgewicht zu halten.

Damit entsteht auch wieder mehr Raum und Wertschätzung für die Bereiche, in denen die Emergenz besonders spürbar ist, in den Künsten und nicht-technischen Wissenschaften. Diese benötigen für ihre Produktivität eine weitgehende Freisetzung von Stress, weil durch die Anspannung der inneren und der sozialen Systeme die Kräfte der Selbsttranszendenz blockiert werden. Statt dessen wird auf die „konservativen“ Orientierungen der Bestandssicherung zurückgegriffen, in denen deterministische Beziehungen vorherrschen.

Was in verschiedenen Beiträgen dieser Blogseite als Wachstumsorientierung zum Unterschied von einer Schutzorientierung dargestellt wurde, kann auch im Gegensatz von Emergenz und Determinismus verstanden werden. So enthält unser Nervensystem im Stress- und im Traumatisierungsmodus viele voraussagbare Elemente, z.B. reagieren wir immer ähnlich, wenn wir wütend sind. Unser Verhaltensrepertoire ist reduziert auf ein Minimum und unsere Reaktionsmöglichkeiten sind auf ganz wenige Alternativen eingeschränkt. Im Extremfall geraten wir in den Totstellreflex, in dem es keine Freiheit mehr gibt, sondern nur ein unerträgliches Maß an Angst, die alles lähmt.

Dagegen können wir im entspannten und/oder konzentrierten Wachzustand, bei aktivierter Smart-Vagus-Steuerung nach der Polyvagaltheorie, unsere sozialen und kreativen Elemente entfalten und kleinere oder größere Schritte in der Selbsttranszendenz, in der Emergenz von Neuem setzen. In diesen Zuständen fühlen wir uns verbunden mit uns selbst und unseren Mitmenschen und haben wir das Vertrauen, dass wir Gutes beitragen können. Damit leisten wir unseren individuellen Beitrag zur emergenten Weiterentwicklung der Menschheit und des Bewusstseins.

Und lassen wir uns nicht einschüchtern von einer Wissenschaftsgläubigkeit, die einem auf leblose Materie eingeschränkten Modell von Wirklichkeit folgt und die Kreativität der Emergenz nicht verstanden hat. Erweitern wir statt dessen unser Blick-, Denk- und Erlebensfeld auf die vielfältigen Wirklichkeiten und das Neue, das andauernd aus ihnen erwächst.

Literatur:

Arthur Koestler: Das Gespenst in der Maschine. Molden, Wien/München/Zürich 1968
Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 2011 (1995)


 Vgl.: Der freie Wille und die Ebenen der Bewusstseinsentwicklung

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