Samstag, 16. Januar 2021

Ungewissheit als Chance

Die Ungewissheit ist zu einem zentralen Teil unserer Wirklichkeitserfahrung geworden. Abläufe und Planungen, die früher leicht berechenbar und erwartbar waren, sind es jetzt nicht mehr. Wir wissen nicht, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird und welche Maßnahmen die Regierungen ergreifen werden. Was Zeitungen am einen Tag schreiben, kann am nächsten Tag schon überholt sein, und am übernächsten Tag kann wieder ganz anderes gelten.

Doch ist die Ungewissheit keine Erfindung unserer Zeit, sondern eine Grundkonstante unseres Daseins, die wir nur durch den hohen Grad an Sicherheit, der im Zug der Modernisierung in unseren Gesellschaften entstanden ist, überdeckt haben. Es ist also diese umfassende Absicherung, die uns selbstverständlich geworden ist und die bewirkt, dass wir so besonders an der Unsicherheit leiden und uns über Störungen aufregen und sie sogar, je nach Temperament, als Frechheit und Zumutung empfinden.

Tatsächlich gibt es im Leben keinerlei absolute Sicherheit und Gewissheit über die Zukunft. Wie es oft heißt, kann uns im nächsten Moment ein Dachziegel oder eine Kokosnuss auf den Kopf fallen, und es ist vorbei mit uns. Weil wir in hochfunktionalen Zusammenhängen leben, fällt die Zufälligkeit der Sicherheit nur auf, wenn ein System plötzlich zusammenbricht: Es gibt auf einmal keinen Strom mehr, ein Zug ist einfach ausgefallen, die U-Bahn bleibt mitten auf der Strecke stehen, das Handynetz hat ausgesetzt, und wir wissen nicht, wann die Störung behoben sein wird. Davon abgesehen, haben wir selbst bei diesen Fällen die Überzeugung, dass die Störung schnell behoben wird.

Das Leiden an der Unsicherheit hat seine Wurzeln in unseren frühen Erfahrungen. Kaum jemand wird in völlig sichere Umstände hineingeboren. Es gibt wohl nur selten Eltern, die ihre Kinder in völliger Gelassenheit und Gewissheit empfangen. Erschwerend können alle möglichen Umstände mitwirken: Ungewollte Schwangerschaft, gesundheitliche oder soziale Probleme während der Schwangerschaft, Spannungen und Konflikte zwischen Vater und Mutter oder mit den Großeltern usw.

Je schwerer die Belastungen aus dem Aufwachsen in einem unsicheren Feld sind, desto stärker ist die eigene Lebensunsicherheit ausgeprägt. Sie wird dann viel leichter durch Ungewissheiten und Unvorhersehbarkeiten in der Umwelt ausgehebelt und zeigt sich in Ängsten, die dann schnell irrationale Züge und Ausmaße annehmen. 

Die Unsicherheiten im Umfeld des eigenen Aufwachsens bilden sich in einem inneren Modell von der Welt ab: Ein Modell voll von Unvorhersehbarkeiten und Bedrohungen. Als Folge werden viele Handlungen und Lebenspläne vom Bestreben getrieben, mehr Sicherheit zu schaffen. Weil aber die Sicherheit, die wir um uns aufbauen können, immer nur relativ ist, bleibt das Unsicherheitsgefühl bestehen und spornt zu mehr Anstrengung an, das Sicherheitsnetz um einen herum noch mehr zu verdichten, ohne das Sicherheitsbestreben jemals zu beruhigen. Vielmehr geht die Aufmerksamkeit dorthin und bleibt dort, wo sich mögliche Bedrohungen zeigen könnten.

In der Folge passiert es häufig, dass irrationale Sicherheits- und Heilsangeboten blindlings angenommen werden. Es verursacht mehr Mühen, sich selber zu orientieren, als wenn ein Paket der Welterklärung von einer smarten Person mit nettem Lächeln und großen Augen angeboten wird. Da die innere Verunsicherung so stark verbreitet ist, braucht es nicht zu wundern, dass so viele Menschen Verlockungen auf den Leim gehen, bei denen eine einfache Verursachung der Unsicherheiten propagiert wird. Sie glauben, dass die – meist personifizierte – Gefahr erfolgreich bekämpft werden kann, wenn sie eindeutig benannt und angeprangert wird. Sie suchen ideale Elternfiguren, die die Welt simpel und klar erklären, Gut und Böse ohne jeden Zweifel auseinander sortieren und die Richtung für das Handeln im Brustton der Überzeugung vorgeben. So hätten sie es als Kinder gebraucht, aber jetzt endlich gibt es jemanden, der all die ersehnten Qualitäten aufweist und dem man nachfolgen kann. Aufgrund dieser Verwechslung fällt es vielen Leuten leicht, ihren Erwachsenenverstand auszuschalten und naiv vertrauensselig allen möglichen Heilsbringern oder Welterklärern nachzulaufen, ohne das eigene Denken und Faktensuchen anstrengen zu müssen.

Die Erosion der Sinnfindung

Auf der soziologischen Ebene wirkt sich die um sich greifende Verunsicherung als Erosion der Bedeutungsgebung aus und mündet in ein Durcheinander der Sinnfindung. Hanzi Freinacht hat dazu in einem Facebookartikel eine Analyse vorgelegt. 

Es gibt nach seiner Ansicht zwei wichtige Faktoren in dieser Entwicklung: Der eine Faktor besteht im Machtverlust des früher allumfassenden und allmächtigen Staates (“Containerstaat") als Folge der Globalisierung. In der Zeit vor dem Internet konnte der Containerstaat mit seinem riesigen Apparat aus Bildung, Medien und öffentlicher Kommunikation die Menschen in die Entwicklungsstufe der "Moderne" hinein motivieren und unterstützen. Wenn dieses System und seine Narrative aber jetzt schwächeln, fangen die Menschen an, zu regredieren. Sie orientieren sich an ihrer vertrautesten Stufe der Bewusstseinsentwicklung, also danach, was ihnen am meisten Sicherheit verspricht. Freinacht konstatiert dementsprechend die Aufteilung (oder den Zerfall?) der Gesellschaft in verschiedene Kreise, die ich hier mit den Begriffen aus meinem eigenen Modell der Bewusstseinsevolution bezeichne: tribal zentrierte Menschen (z.B. die Flacherdler und Menschen, die glauben, dass bei einer Impfung Chips eingepflanzt werden), emanzipatorische (z.B. die Führerfiguren und ihre Anhänger), hierarchische (die Unterordnenden und Gutgläubigen), materialistische (die Zyniker und Selbstoptimierer), personalistische (die Individualisierer) und systemische (die Allparteilichen). Alle finden sich in ihren Gruppen zusammen und zelebrieren die eigenen Stärken und ignorieren und projizieren die eigenen Schwächen. Die Neigung zur Selbstüberschätzung und Verachtung der Andersdenkenden nimmt dabei mit dem Fortschritt in der Bewusstseinsevolution ab,  d.h. auf der systemischen Stufe sind die meisten irrationalen Ängste aufgelöst und die kognitiven und sozialen Kompetenzen können sich am freiesten entfalten.

Allerdings ist das Gewicht dieser Stufe viel zu gering, um die Machtansprüche, die aus den anderen Stufen ins Zentrum drängen, zu neutralisieren. Die Konkurrenz um dieses Zentrum der Sinn- und Bedeutungsgebung wird immer vielschichtiger, denn es geht schon lange nicht mehr einfach um einen Streit zwischen zwei opponierenden Blöcken gekennzeichnet, wie Neoliberale und Sozialisten oder Verschwörungstheoretiker und Wissenschaftler. Vielmehr stecken wir nach Freinacht in einem “sechsseitigen komplexen Werte-Meme-Krieg".

Der zweite Faktor hat mit der Informationsarchitektur des Webs und der sozialen Medien zu tun: In vielen Bereichen geben ausgeklügelte Manipulationsapparate den Ton an, betrieben von gewinnmaximierenden Geschäftemachern. Schlimm daran ist nicht, dass Waren und Dienstleistungen verkauft werden, sondern dass genauso gefinkelt Meinungen und Überzeugungen gelenkt und gesteuert werden. Wir werden z.B. auf Facebook darauf konditioniert, Informationen, die mit unserem eigenen Wertesystem gemäß unserer Lieblingsbewusstseinsstufe übereinstimmen, besonders zu genießen und solche, die ihm nicht entsprechen, mit Frustration und Widerwillen abzulehnen. Die Folge ist, dass wir uns zunehmend in voneinander unabhängigen Clustern aufhalten, in denen wir in unseren Vorlieben und Abneigungen bestätigt werden. Freinacht: “Wir leben in einem Paradox der ‚Superconnected Disconnectedness‘.”

Abwärtslaufende Spiralen

Soweit die Gedanken von Freinacht. Erschwerend zu diesen Abläufen kommt dazu, dass sie die Unsicherheit in Großen vermehren, indem sie die Gewissheit im Kleinen nähren: Ich bin mit Gleichgesinnten einer Ansicht und wir werden etwas bewirken – in einer völlig unsicheren Welt. Viele regredieren in ihre Subsysteme, in denen die äußeren Gefahren aufgeblasen werden, was die inneren Ängste vermehrt. 

Wir haben es also mit selbstverstärkenden Dynamiken zu tun: Im Inneren verunsicherte Menschen reagieren übermäßig und irreal auf äußere unsichere und unkontrollierbare Situationen. Sie treffen mit ihren Ängsten auf gesellschaftliche Gruppierungen, die ähnlich gepolt sind. Diese wiederum aktivieren ihre sozialen Umgebungen mit einer gesteigerten Aufgeregtheit, die daraufhin die verunsicherten Personen weiter verunsichern. Pseudoerklärungen und irreale Fantasieproduktionen heizen diese Kreisläufe zusätzlich an und führen zu weiterer Destabilisierung, die ihrerseits die Verunsicherung steigert. 

Es entstehen fatale Kreisläufe: Die aus der Kindheit mitgenommenen Unsicherheiten werden durch äußere Ungewissheiten aufgeladen und verstärkt. Wenn die Angst wächst, ziehen sich die Menschen auf ältere Wachstumsphasen zurück, weil dort verlässlichere Überlebensgewohnheiten aufgebaut wurden und suchen auf dieser Ebene nach Kumpanen. Die Regression geht mit einem Realitätsverlust einher, der wiederum zum Ansteigen der Angst beiträgt. Denn ohne – oft mühsame – Realitätsprüfung (Faktencheck) können wir die Ängste nicht bewältigen. 

Der zweite Kreislauf bewegt sich zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Je ängstlicher die Menschen sind, desto undifferenzierter ist die Gemeinschaft, zu der sie sich hingezogen fühlen. Sie regredieren dadurch noch mehr und weiten zusätzlich die gesellschaftlichen Wertegruppen aus, die mit unreifen Mitteln komplexe Probleme lösen wollen, wie Mechaniker, die feine Schrauben mit massiven Schraubenziehern anziehen wollen. Das Grobe ruiniert das Feine, umgekehrt geht das nicht. Individuelle Regressionen, die sich in Gruppen wechselseitig verstärken, bewirken gesellschaftliche Regression, die wiederum mehr Menschen zur individuellen Regression verleiten.

Faschismus als Alternative?

Was in den westlichen Demokratien seit dem Ende der faschistischen Diktaturen nicht mehr vorstellbar war, ist plötzlich zur Alternative für die demokratische Willensbildung geworden: Parlamente zu stürmen, um auf diese Weise die eigene Meinung gewalttätig durchzusetzen. Nicht mehr bessere Argumente, sondern bessere Schläger sollen die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen.

Die beschriebenen Kreisläufe führen in die Gegenrichtung zur Bewusstseinsevolution. Sie setzen also Abwärtsspiralen in Gang. Solche Entwicklungen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, sie sind z.B. vor ziemlich genau 100 Jahren mit der Entstehung der faschistischen Bewegungen aufgetreten und haben in der Folge zu einem Weltkrieg geführt. Heute genügt ein Virus, um solche kollektiven Regressionen zu befeuern.

Die gegenläufige Dynamik

Wo Abwärtsspiralen florieren, entstehen Aufwärtsspiralen und setzen sich langfristig durch. Diese Dynamik hat bewirkt, dass im Zug der Kulturgeschichte der Fortschritt immer wieder den Rückschritt übertroffen hat. Jeder gesellschaftliche Rückschritt ruft Kräfte auf den Plan, die ihn bekämpfen. So hat der Niedergang des Parlamentarismus durch die faschistische Gewalt zu wesentlichen Weiterentwicklungen und Verbesserungen dieses Systems nach dem 2. Weltkrieg geführt. Das Herunterfahren des Sozialstaates in der gleichen Phase führte zu einem massiven Ausbau in der Nachkriegszeit usw.

Was wir aus der gegenwärtigen Krisensituation lernen werden, wissen wir noch nicht. Viele Chancen liegen darin, z.B. die Wirtschaft, die in vielen Bereichen leidet, auf einer ökologischen Basis neu aufzustellen, das Steuersystem entsprechend umzugestalten und die Sozialmaßnahmen, die jetzt gesetzt werden müssen, im Sinn eines Grundeinkommens zu institutionalisieren.

Wir können die neuen Formen der Einfachheit im Alltagsleben und in der Urlaubsgestaltung, die uns jetzt aufgezwungen werden, mehr schätzen und unsere Konsumgewohnheiten ändern. Wir können aufgrund der Restriktionen bei persönlichen Kontakten erkennen, wie wichtig uns andere Menschen sind und in unserem Leben deshalb andere Gewichtungen vornehmen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Krise zu nutzen, um in unserem individuellen und sozialen Lebensbewusstsein weiter zu kommen, es liegt an uns, an solchen Aufwärtsspiralen mitzutun und mitzugestalten.

Wenn wir uns darauf konzentrieren, statt die Angstspiralen zu nähren, lernen wir, wie wir unsere Unsicherheiten und Ungewissheiten produktiv nutzen können: Als Quellen für Kreativität und Ideenfindung, als Motivator für ein optimistisches Weitergehen  und als Momente zur Innenbesinnung.

Zum Weiterlesen:

Von der Ungewissheit zur Mystik
Mit Unvorhersehbarkeiten leben


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