Sonntag, 21. Februar 2021

Kreative und reaktive Fantasien

Die Fantasie, zu der uns unser Gehirn befähigt, öffnet ein vielfältiges Feld von Möglichkeiten. Es reicht von Angstfantasien bis zu schöpferischen Inspirationen. Wir wollen keine fantasielosen Wesen sein, sollten uns aber auch nicht in unseren Fantasien verlieren. Hier geht es darum, ein paar Wegmarken im weiten Land der Fantasie anzulegen.

Fantasien sind Realitäten, die in unserem Kopf produziert werden. Sie unterscheiden sich von den äußeren Realitäten dadurch, dass sie mit keinen äußeren Wahrnehmungen korrespondieren. Sie haben also keine Fundierung und keine Referenzpunkte in der Außenwelt. Wohl stammen die Inhalte unserer Fantasien in irgendeiner Weise aus der Realität, die außerhalb von uns selbst vorhanden ist, aber unsere fantastische Kraft kombiniert sie zu neuen Gebilden und darin liegt das kreative Potenzial unserer Fantasie.

Bei der Entstehung von Kunstwerken ist es häufig so, dass innere Vorstellungen von dem Resultat, das erschaffen werden soll, den Prozess einleiten. Mit den ersten Schritten zur Verwirklichung kann sich das Fantasiebild ändern, aber oft ist die Fantasie der Produktion immer ein Stück voraus. Die Fantasie nimmt also das Resultat vorweg, indem sie es so wahrnimmt, als wäre es schon wirklich. 

Hier wirken Fantasien als treibende Kräfte zur Kreativität. Ohne die Fähigkeit zur Imagination gäbe es wohl keine Kultur, keine Kunst, Technik oder Wissenschaft. Die Neugier bedient sich der Fantasie, und beide zusammen haben großartige Schöpfungen der Menschheit verwirklicht.

Doch auch zur Erreichung anderer Ziele können wir die Kräfte unserer Imagination nutzen, um unsere Energien auf den Manifestationsprozess zu fokussieren. Kreative Bilder stärken die Motivation und Tatkraft und helfen dabei, Widerstände und Hindernisse zu überwinden. (vgl. den Artikel zur kreativen Lebensorientierung). 

Reaktive Fantasien

Auf der anderen Seite des Fantasiespektrums finden sich Formen der Innenwelt, die aus Reaktionen auf bedrohliche und verunsichernde Erfahrungen in der Außenwelt gebildet werden. Es handelt sich dabei um Bilder, die als Gefühlsersatz dienen. Typischerweise entstehen sie aus Dissoziationen, also aus Brüchen zwischen Innen- und Außenerfahrungen, die im Rahmen von Traumen entstehen. Die Innenwelt dient als Fluchtraum, die mit Fantasien eingerichtet werden wie mit Möbeln und Bildern. Hier ist die heile Welt, draußen ist es gefährlich. 

Dazu zählen auch sexuelle Fantasien, die das gesamte Pornogeschäft in Gang halten: Sichere Formen der sexuellen Lust, die nicht von den Risiken einer zwischenmenschlichen Begegnung belastet sind. Denn die Verletzungen, die hinter der Begierde nach solchen Bildern und Videos stecken, sind durch Personen verursacht worden. Deshalb enthält der Konsum von Pornografie immer auch ein Element der Rache an den Verursachern der eigenen Verletzungen.

Diese Verletzungen hängen mit unerfüllten frühkindlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten zusammen, die eigentlich nur wenig oder gar nichts mit Sexualität zu tun haben. Nur bietet sich dieses Erlebnisfeld als Ersatz an, sobald die erwachsenen Sexualinteressen erwachen. Die entsprechenden Triebe sind stark geladen, und die diversen Angebote gehen darauf erfolgreich ein indem sie starke Anreize verkaufen, die risikolos konsumiert werden können.

Kindliche Fluchtrouten

Kinder erwerben früh die Fähigkeit, Bedürfnisse, die keine Befriedigung erfahren, in der Innenwelt zu stillen. Dieser Trick, den das Gehirn zur Verfügung stellt, hilft, mit der Frustrationserfahrung zurechtzukommen. Es bleibt zwar eine Diskrepanz bestehen zwischen dem real unerfüllten Bedürfnis und der Scheinbefriedigung in der Fantasie, aber zumindest wird eine teilweise Erfüllung erfahrbar. Diese hilft auch, die ursprünglichen Gefühle (den Schmerz, die Angst und die Scham) zu begraben, die mit der Frustrationserfahrung verbunden sind.

Es kann sich die Tendenz verfestigen, sich mit der fantasierten teilweisen und ersatzweisen Wunscherfüllung zufrieden zu geben. Die Ersatzbefriedigung hilft im weiteren Leben immer wieder, sich den aktuellen Herausforderungen der Wirklichkeit zu entziehen und die Freuden von erfüllten Sehnsüchten und errungenen Erfolgen in der Scheinwirklichkeit zu genießen, als ob sie wirklich wären. Damit steht ein Mechanismus zur Verfügung, unangenehmen Gefühlen oder praktischen Herausforderungen im Leben auszuweichen. Der Fantasieraum bietet sich immer als Fluchtpunkt mit seinen angenehmen oder erregenden Bildern an, wenn es brenzlig oder langweilig wird.

Süchte und reaktive Fantasien

Viele Süchte und selbstschädigende Verhaltensweisen haben ihren Ursprung in dieser Dynamik. Die illusionäre Befriedigung, die sie gewähren, entfesselt immer wieder die Gier nach noch mehr davon. Das Illusionäre verhindert das vollständige und endgültige Stillen der Bedürfnisse, sondern hält sie im Irrealen fest. In der Folge werden die Bedürfnisse selbst bald zu Fantasieprodukten. Zunehmend überlagert ein Scheinleben das wirkliche. Die an die Suchtobjekte gebundene und von ihnen okkupierte Fantasie verkümmert und in ihrer kreativen Seite verstummt. 

Reaktive Fantasien und Scham

Die Scham mischt auf mehreren Ebenen bei reaktiven Fantasien mit. Sie liefert zunächst einen Anlass dafür, dass überhaupt der Ausweg aus der Realität in die Fantasie gesucht wird. Die Scham ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das umgangen werden kann, wenn sich eine dissoziative Welt öffnet, in der alles in Ordnung ist. Sobald jedoch bewusst wird, dass es sich um eine Traumwelt handelt, kommt erst recht wieder Scham. Manchmal hören Kinder: „Was bist du für ein Traummännlein?“, wenn sie gerade mit ihren Fantasien beschäftigt sind, und schämen sich dafür. Ist das Fantasieren dann im Aufwachsen zur Gewohnheit geworden, die allenthalben auftritt und den Alltag durchzieht, kann es zu peinlichen Fehlern und Pannen kommen. „Ich war so in Gedanken und habe übersehen, dass die Ampel schon auf Rot geschaltet war.“ Als Folge tritt wieder die Scham auf den Plan. 

Alle Suchtformen sind mit Scham verbunden, obwohl sie zu einem wichtigen Teil gerade der Schamentlastung dienen sollen. Die ritualisierten Abläufe, die mit jeder Sucht verbunden sind, sollen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und Schutz vor Beschämungen bieten. Andererseits unterliegt die Ausübung des Suchtverhaltens in zweierlei Hinsicht einer Schambelastung: Die Sucht ist nicht konform mit den eigenen Werten und steht im Widerspruch zur Integrität. Sie ist auch nicht sozialverträglich, sondern wird von der Gesellschaft im allgemeinen abgelehnt. Es bilden sich zwar manchmal Subgruppen von Suchtabhängigen, die sich gegenseitig bestätigen, die sich aber zugleich nach außen abgrenzen müssen, weil sie wissen, dass sie mit massiver Ablehnung und Abwertung rechnen müssen. Es ist dann wieder die Scham, die auf der emotionalen Ebene das Suchtverhalten aufrechterhält und dafür sorgt, dass es in vielen Fällen geheim gehalten wird und im Verborgenen ausgeübt wird, womit sich ein weiterer Schamkreis schließt.

Der Ausweg

Reaktive Fantasien haben einen mächtigen Einfluss, wenn sie sich einmal etabliert haben. Sie versprechen eine sofortige Belohnung und Erleichterung. Deshalb ist es auch schwer, sie wieder loszuwerden, wenn die Erkenntnis über ihre Schädlichkeit eingesickert ist.

Der Weg zurück aus den Verwicklungen der Fantasiebedürfnisse ist deshalb oftmals mühsam. Er beginnt mit der Überwindung der Scham, die das Verhalten verstecken will. Er führt dann über das Freilegen der frühen Wurzeln mit ihren Verletzungen und über das Durchleben des hinter den Frustrationen steckenden Schmerzes bis zur Befreiung. Jetzt können die kreativen Potenziale der Fantasie wieder zum Fließen kommen und schöpferische Resultate hervorbringen.

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2 Kommentare:

  1. Viele Schöpfer großartiger Kunstwerke handelten aus großen inneren Nöten und Verzweiflung heraus und bauten sich eine künstliche Gegenwelt auf. Ist dies dann auch eine Form reaktiver Phantasie?

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  2. Reaktive Fantasien können Großartiges und Kreatives hervorbringen. Man spricht ja auch davon, dass das Kunstschaffen einen selbsttherapeutischen Effekt hat, dass gewissermaßen die Kunst auf das Subjekt, das sie produziert, zurückwirkt. Andererseits gibt es Phänomene, bei denen dann die Fantasiewelt und die reale Welt so weit auseinanderklaffen, dass es zu einem Zusammenbruch kommt - der bekannte Topos von Genie und Wahnsinn. Ich denke andererseits, dass dieses Phänomen eine besondere Hervorbringung des 19. Jahrhunderts ist, das auch mit einer Romantisierung der Kunstproduktion verbunden ist und dass die meisten Künstler weniger aus ihren Nöten und Verzweiflungen heraus schöpferisch sind, sondern deshalb, weil sie gerade nicht darunter leiden.

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