Donnerstag, 31. Dezember 2020

Die eigene Wahrheit und die Verbundenheit mit anderen

Das Reden, das aus dem Zuhören kommt, wie es im vorigen Blogbeitrag beschrieben wurde, zeigt einen Ausweg aus der Borniertheit der Wahrheitsbehauptung, die die argumentative Auseinandersetzung scheut und zur Verarmung der Diskurskultur führt. 

Die Ebene der Verbundenheit

Jeder ehrlich und gewaltfrei ablaufende Dialog bringt uns unweigerlich auf eine tiefere Ebene: Die Einsicht in die Verbundenheit jenseits der Verschiedenheit. Diese Erkenntnis ist eine Hilfe, um den Zerfall unserer sozialen Welt in lauter Meinungsmonaden, die sich in sich abschließen, dort ihrer Wahrheit frönen und sich vor bedrohlichen Sichtweisen abschotten, zu verhindern. Dort liegt die Wurzel für die Produktion von und den Glauben an Verschwörungstheorien. 

Was beinhaltet die Einsicht in die Verbundenheit trotz der offensichtlichen Verschiedenheiten? Wenn wir näher in uns nachschauen, können wir unschwer erkennen, dass all die anderen Wahrheitsnester, die uns im Außen aufregen,  in unserem Inneren vorhanden sind, manchmal tief versteckt oder bis zur Unkenntlichkeit maskiert. Aber wir sind in uns um Dimensionen vielseitiger, als wir uns auf der Oberfläche eingestehen. Wir sind Konsumidioten und Konsumverweigerer, Gläubige und Gegner von Verschwörungstheorien,  Umweltschützer und Naturzerstörer, Sozialrevolutionäre und Heimattreue, Coronaängstliche und Coronaleugner usw. Wir kennen all diese Orientierungen und Werthaltungen in uns selbst; wir haben uns nur einmal, wohl aus guten Gründen, für eine der Richtungen im Weltanschauungsspektrum entschieden und die widersprechenden Ansichten verworfen und tiefer in unser Inneres verbannt. Im Außen werden sie Objekte für Abwertungen.

Wenn wir das Verständnis der Verbundenheit in uns kultivieren und festigen, erwerben wir eine solide Basis für die Toleranz und Akzeptanz von anderen Ansichten, Meinungen und Überzeugungen. Das ist die Basis für fruchtbare, weiterführende und öffnende Dialoge über die ideologischen Grenzen und angstgesteuerten Behauptungsdebatten hinweg. Es ist auch die Basis für eine lebendige, lernfähige und innovative Demokratie.

 Die mehrdimensionale Wahrheit

Der Zweck dieser Toleranzeinstellung liegt allerdings nicht darin, dass wir selber zu indifferenten Beobachtern der vielfältigen Szenerien der Wahrheitsfindung werden, sodass wir das Motto „Jeder hat seine Wahrheit und folglich ist jede Wahrheit gleichermaßen gültig“ als der Weisheit letzten Schluss internalisieren. Diese Einstellung ist kein Endzweck, sondern eine Bedingung für gelingende gewaltfreie Dialoge und Diskurse. Sie stärkt die Achtung für die Berechtigung anderer Meinungen und Sichtweisen, liefert aber keine Basis für die Verbesserung und Weiterentwicklung der Wirklichkeitserfahrung und Wahrheitsfindung.

Vielmehr bleibt die eigene Wahrheitserkundung als Aufgabe, die sich an drei Maßstäben orientiert: der Erschließung der objektiven und subjektiven Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Verträglichkeit und der ethischen Qualifizierung. Die Wahrheitsfindung ist ein kontinuierlicher Annäherungsprozess auf mehreren Ebenen: Der äußeren und inneren Wirklichkeit näher und näher kommen, mit dem Blick auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wahrheit und auf die Übereinstimmung mit den Werten der Menschlichkeit.

Wahrheit ist also niemals Besitz, weder von Einzelnen noch von Gruppen. Sie meint vielmehr den fortlaufenden Prozess der Annäherung an die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen und Ebenen, ebenso wie den Prozess der Implementierung der Menschenwürde in allen Bereichen des Zusammenlebens. Wahrheiten sind deshalb immer vorläufig und relativ, und im Sinn der Weiterentwicklung der Erkenntnisse besser oder schlechter.

Die eigene Wahrheit

Wir verfügen immer über eine subjektive Wahrheit: Das, was wir im gegebenen Moment für wahr halten. Auf dieser Basis treffen wir unsere Einschätzungen und Präferenzen und fällen unsere Urteile. Deshalb haben wir zu vielen Themen des Lebens eine Überzeugung, die wir häufig in Diskussionen vertreten. Diese Überzeugungen unterscheiden sich durch den Grad an Gewissheit und argumentativer Abstützung. Manche Meinungen sind „intuitiv“ und richten sich stark nach unbewussten Vorlieben. Wenn uns etwa jemand fragt, wie uns ein Haus, an dem wir gerade vorbeigehen, gefällt, antworten wir meist aus einem Areal des Unterbewusstseins. 

Andere Auffassungen sind Ergebnisse von längeren Prozessen des Überlegens, Informationensammelns und Reflektierens. Z.B. müssen wir auf die Frage, wie wir zum Neoliberalismus stehen, auf umfangreiche Datenbanken zurückgreifen, auf die gesammelten Informationen, und auf die Denkprozesse, die wir dieser Frage bisher gewidmet haben. Je komplexer die Themen sind, desto detailliertere und aufwändige Stellungnahmen erfordern sie. 

Wir haben ein Recht auf unsere eigenen Wahrheiten, wie jeder andere Mensch auch. Wir haben aber auch die Pflicht, unsere Wahrheiten weiterzuentwickeln, zu verfeinern und zu verbessern und darüber Klarheit zu gewinnen, wie sie als Wahrheiten qualifiziert werden, also welche Kriterien der Geltung wir vertreten. 

Wir haben demnach die Pflicht, unsere eigenen Wahrheiten immer wieder zu überprüfen und in Frage zu stellen. Die geeignete Arena dafür ist der zwischenmenschliche Diskurs, in dem unterschiedliche Meinungen aufeinander treffen, Überzeugungen ausgetauscht und Argumente präsentiert werden. Solche Diskurse misslingen, wenn die Teilnehmer mit der Absicht hineingehen, die eigenen Ansichten erfolgreich zu behaupten, und sie gelingen, wenn die Teilnehmer mit der Bereitschaft hineingehen, sich verändern zu lassen. Im letzteren Fall steht das Hören vor dem Reden, auch das Hören ins eigene Innere, auf diejenigen Kräfte, die wachsen wollen.

Zum Weiterlesen:
Jeder mit seiner Wahrheit



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