Was wir über die Zukunft lernen können
Die Zukunft ist nicht in unserer Hand. Wir können sie nicht kontrollieren. Das verstehen wir zwar kognitiv, weil uns klar ist, dass der Verlauf der Zukunft von so vielen Faktoren abhängt, die nur zum winzigsten Teil von uns selber beeinflusst werden. Emotional allerdings leiden wir darunter – bzw. leidet unser Kontrollbedürfnis, das uns vor den Ängsten bewahren will, die durch eine ungewisse Zukunft bewirkt werden. Es könnte ja alles Mögliche auf uns zukommen, Ereignisse, die unangenehm und belastend sind und von denen wir nicht wissen, ob wir sie bewältigen können. Deshalb hat die Zukunft immer auch eine bedrohliche Note. Um der möglichen Gefahren Herr zu werden, die auf uns lauern, hätten wir gerne die Macht, alle Unwägbarkeiten auszuschalten und gegen die Sicherheit einzutauschen, dass alles, was wir uns ausdenken und planen, genauso eintreten wird, wie es für uns zum Besten ist.
Um diese Kontrolle zu erlangen, bemühen wir unser Wissen: Was in der Vergangenheit funktioniert hat, könnte uns auch für die Planung der Zukunft Sicherheit geben. Wissen ist natürlich notwendig und hilfreich, allerdings auch immer beschränkt in seiner Wirkmächtigkeit. Denn jedes Wissen kann seine Bedeutung und seinen Wert unter geänderten Umständen in der Zukunft verlieren. Was uns heute von Nutzen ist, kann morgen oder übermorgen schon überholt sein.
Die Intuition und der Narzissmus
Wir bemühen auch unsere Intuition für die interne Kontrolle der Zukunft. Wir haben Vorahnungen, und manchmal bewahrheiten sich diese, manchmal aber auch nicht. Unsere Vorahnungen sind mehr oder weniger unzuverlässig, wenn wir genauer hinschauen, vielleicht noch weniger als unser Wissen. Also ist auch die Intuition ein Wegweiser ins Ungewisse.
Wir neigen allerdings dazu, sie zu idealisieren. Es unterläuft uns nämlich, dass wir Vorahnungen, die sich bestätigen, deutlicher zu erinnern als solche, die nicht eingetreten sind. Schließlich ahnen wir, dass es unwahrscheinlicher ist, dass Fantasien, die wir in uns haben, eintreten als dass sie nicht eintreten und nehmen deshalb eingetretene Fantasien als bedeutsamer wahr als solche, mit denen wir falsch lagen. Der realistische Teil in uns achtet auf die inneren Stimmen der Intuition und bleibt vorsichtig, was ihren prognostischen Wert anbetrifft. Wenn wir diesen Teil außer Acht lassen, wird die Intuition in unser narzisstisches Gefüge eingebaut, indem wir uns für jemand Besonderen halten, weil wir doch über eine Zukunftsschau verfügen.
Die Intuition ist, was sie ist, ein Aspekt unserer Wirklichkeitswahrnehmung, eine Form der unbewussten Intelligenz. Sie wird auch mit dem Bauchhirn in Verbindung gebracht, weil wir sie als ein Gefühl im Bauch erleben. Die Wissenschaftler streiten, was wichtiger und hilfreicher für die Entscheidungsfindung ist: Die Intuition (das Bauchgefühl) oder der bewusste Verstand. Daraus folgt, dass wir über keinen zuverlässigen und fehlerfreien Ratgeber verfügen, der uns Sicherheit über die Zukunft geben könnte. Wir sind und bleiben fehlbar, ein Eingeständnis, das uns schwerfällt, weil damit ein Aspekt unserer Selbstverliebtheit aufgegeben werden muss.
Im Moment sein befreit von der Selbstüberschätzung
In Zeiten wie diesen, wo viele Sicherheiten durch ein Virus außer Kraft gesetzt wurden, wird deutlich, wie ausgeprägt unser Sicherheitsdenken ist und wie abhängig wir von ihm sind. Sofort tauchen diffuse Ängste auf, wenn die Umstände keine verlässlichen Planungen in die Zukunft erlauben: Können wir wieder zu unserem Arbeitsplatz zurückkehren, wenn ja, wann und unter welchen Umständen? Können wir diesen Sommer auf Urlaub fahren, wenn ja, wohin schon und wohin nicht? Gibt es jemals wieder eine „Normalität“ wie vor der Krise oder wird sie unser Leben völlig neu umgestalten?
Wir haben nur diesen Moment als Stütze für unser Sicherheitsbedürfnis zur Verfügung. Im Jetzt können wir uns sicher sein, dass wir da sind und leben. Die Vergangenheit ist vorbei, sie kann uns keine mehr Sicherheit geben, und die Zukunft ist noch nicht da, sie kann also auch in dieser Hinsicht nichts beisteuern. Der nächste Moment kann uns eine angenehme oder eine unangenehme Überraschung bereiten oder auch genau das bringen, was wir erwartet haben. Vorher wissen wir es nicht. Wenn ich diesen Text schreibe, weiß ich nie, ob und wann mir der nächste Satz einfällt.
Die Lebenskunst besteht einfach nur darin, sich von Überraschungen überraschen zu lassen und das Erwartbare anzunehmen. Die Ungewissheit über die Zukunft enthält die große Chance, den Moment, das Jetzt, die Gegenwart mit Sinn zu erfüllen. Wir können die Krise als Lehrerin in der Weisheit betrachten, indem sie uns ein tieferes Stück der Erkenntnis über die Wirklichkeit ermöglicht und unsere Illusionen zerstreut. Wir dachten nur, wir hätten die Kontrolle in einem nahezu unbegrenzten Ausmaß, und unsere diesbezüglichen überheblichen Einbildungen werden nun auf ein realistisches Maß zurückgestutzt. Wir wissen ganz wenig und wir erahnen ganz wenig. Wir sind mit unseren Einflussmöglichkeiten auf unsere engen Kreise beschränkt und all den anderen Einflüssen ausgesetzt, die durch all die anderen engen Kreise auf uns einwirken. Wir sind ohnmächtiger als wir glaubten, kleiner, als wir uns einschätzten. Diese Erkenntnis macht uns wohl mehr zu schaffen als die schrumpfende Wirtschaft und die Verluste an Einkommen und Freizeitmöglichkeiten.
Es ist handelt sich auch um eine Krise des Narzissmus, eine Krise der Selbstüberschätzung – für uns selbst, für die Gesellschaft und für die Menschheit. Die glänzende Fassade der neoliberalen Ideologie mit ihrer selbstverliebten Verblendung blättert ab. Es kann nur heilsam sein, wenn wir die aktuelle Situation als Krise unseres Hangs zur Überheblichkeit verstehen und in unser Inneres übersetzen. Jedes Stück Narzissmus, dessen wir uns entledigen können, macht uns mehr zu dem, was wir wirklich sind und hilft uns, unser Leben in diesem Moment mit all dem, was gerade ist, wertzuschätzen.
Zum Weiterlesen:
Leben mit dem Bauchhirn
Raus aus der Gehirnwäsche
Eine Krise des Neoliberalismus
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