Montag, 19. Oktober 2020

Von der Ungewissheit zur Mystik

Peter Sloterdijk spricht in seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft in Bezug auf die Entwicklung der christlichen Theologie von „Dimensionen von unvermeidlicher Ungewissheit, die durch Dogmatisierung in Gewissheit umgelogen werden“ (S. 518) Er deutet in dem Text auch an, dass mit dieser Form der Wahrheitsmanipulation, die zugleich eine Selbstmanipulation darstellt, eine Tradition der Verlogenheit begründet wurde, die bis heute nachwirkt: „Es gibt auf unserem Kulturboden eine Tradition, die das per se Ungewisse im Habitus der ‚Überzeugung‘, das Geglaubte als das Gewusste, die Konfession als Kampflüge vorzutragen lehrt.“ (520) 

Ich möchte diese Überlegungen weiterspinnen und auf die aktuelle Diskurssituation anwenden. Denn was Sloterdijk vor fast 40 Jahren zur Theologie geschrieben hat, lässt sich eins zu eins auf die Hintergründe der aktuellen Debatten übertragen: „Die christliche Theologie bedeutet den so unermesslichen wie gespenstischen Versuch, Gewissheit gerade dort zu suchen, wo sie der Natur der Dinge nach nicht sein kann.“ (519)

Die Anfälligkeit für Autonomieverzicht

Ungewissheit ist der Nährboden für die Entwicklung von Glaubenssystemen, weil es so schwer fällt auszuhalten, dass wir nur ein begrenztes und fehleranfälliges Wissen zur Verfügung haben. Wir wollen ein sicheres Wissen und laufen deshalb Menschen nach, die ein solches anbieten. 

Wir brauchen uns dann keine Mühe mehr machen, das Wissen zu überprüfen, denn die Person, die uns Sicherheit durch ihr überzeugendes Auftreten vermittelt, bürgt dafür. Schon haben wir unser eigenes Denken abgegeben, schon sind wir Meinungsuntertan geworden. Um die Scham, die mit diesem Autonomieverzicht verbunden ist, nicht spüren zu müssen, suchen wir uns weitere Bestätigungen für die Scheinsicherheit, die wir gewonnen haben – Gleichgesinnte, die die selbe Autorität nachbeten, oder andere „Experten“, die die von uns verehrte Autorität bestätigen.

Unsicherheiten sind uns unbehaglich und lösen Ängste aus, die wir nicht mögen. Also suchen wir uns Ankerpunkte im Außen, die uns Sicherheit versprechen und fallen leicht auf den äußeren Schein herein, vor allem, wenn die Ängste im Hintergrund mächtig wirken. Wer es vermag, Sicherheit auszustrahlen, durch kraftvolles Auftreten, Gefühlspräsenz, Eloquenz oder Sachlichkeit, wird zum Garanten für Sicherheit erklärt, mit dem Vorteil, dass der Vertrauensvorschuss weitere Nachforschungen erspart – das Rattenfängersyndrom.

Wahrheiten umlügen

Interessant im Zitat von Sloterdijk ist der Ausdruck „umlügen“. Zunächst geht es darum, dass durch die Absolutsetzung einer relativen Aussage (z.B. „Nasen-Mundschutzmasken sind wirkungslos und gefährlich“ oder „Nasen-Mundschutzmasken sind der einzige Schutz vor Ansteckung“) ein Dogma fixiert wird, das jeder Infragestellung entzogen ist. In der katholischen Theologie war ein Dogma durch den Nachsatz festgeschrieben, dass jeder, der anderes glaubt, ein Ketzer ist, also ein vogelfreier Außenseiter der Gesellschaft, der sein Lebensrecht verwirkt hat. 

Das Lügen, das bei dem Vorgang des Absolutsetzens geschieht, ist zumeist ein unbewusster Vorgang. Was bewusst geschieht, ist der Vernunftverzicht des Gläubigen („sacrificium intellectus“, er bringt also seine Intelligenz als Opfer für die Scheinsicherheit dar). Er ist getrieben von der Angst der Verunsicherung und Ungewissheit. Er unterschreibt eine Wahrheit, die keine Wahrheit sein kann und täuscht sich damit selber eine Sicherheit vor, die es nicht geben kann. Er belügt sich selbst, um ein bisschen Frieden im Meer der Angst zu finden. 

Zur aktiven Lüge wird dieser Schutzvorgang, wenn das Dogma wider besseres Wissen weiter propagiert wird, um andere zu überzeugen und sich selber als Wahrheitsbringer wichtig zu machen. Eine Schar Gleichgläubiger bestätigt die eigene Überzeugung. Mit diesem Schritt wird allerdings die Wahrheit bewusst geopfert und die Absicht bekräftigt, andere zum Irrtum zu verführen. Das Festhalten am Dogma wird zum Selbstzweck.

Das Ausmaß an Glaubensüberzeugungen und Ideologien, für das eine Person oder eine Gesellschaft anfällig ist, spiegelt das Ausmaß an innerer Angstbelastung wieder. Es geht um das subjektive Erleben des Bedrohtseins, das nach Erklärungen und Lösungen sucht, die umso einfacher sein sollen, je höher das innere Anspannungsniveau ist. Mit steigendem Stress wird die Außenwelt immer unwichtiger und das Blickfeld immer enger. Die höheren Denkfunktionen und Reflexionsfähigkeiten werden stillgelegt, individuell wie kollektiv. Das umsichtige Handeln und die Entwicklung langfristiger Perspektiven werden erschwert.

Wachsen in und an der Ungewissheit

Wollen wir die aktuelle Unsicherheitssituation zum Wachsen im Bewusstsein nutzen und nicht in eine Angsthypnose oder Schockstarre verfallen, dürfen wir nicht auf unsere höher entwickelten Fähigkeiten der Realitätserfahrung verzichten. Die Basis für eine Ideologieimmunisierung und Entdogmatisierung liegt in der Ungewissheitsresilienz. Als Ungewissheitsresilienz bezeichne ich die Fähigkeit, die unvermeidlichen Grenzen des Wissens auszuhalten und mit vorläufigen Wahrheiten leben und handeln zu können. 

Die Resilienz gegen Unsicherheiten stellt eine Erweiterung der Ambivalenztoleranz dar, der Fähigkeit, Widersprüche aushalten zu können. Widersprüche erzeugen eine innere Spannung, die unangenehm ist. Aber es ist in Fällen der Unsicherheit und Ungewissheit besser, sie bestehen zu lassen als sie um den Preis der Wirklichkeitsverzerrung zu verringern. Denn der einseitige Zugang zur Wirklichkeit, der wichtige Aspekte ausblendet, erzeugt eine viel belastendere Spannung – eine Spannung zwischen dem Innen und dem Außen. Wenn das Innen und das Außen keinen kommunikativen Fluss zustande bringen, tun wir uns überall im Leben schwer.

Unvermeidliche Spannungen aushalten

Es geht im Leben viel um Entspannung; die andere Ausrichtung jedoch, die wir brauchen, zielt auf das Aushalten von Spannungen, die nicht auf eine Seite hin weggekürzt werden können. Was in der Realität in Spannung ist, also Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten, können wir zur Kenntnis nehmen und brauchen es nicht mittels Selbstüberlistung verdrängen, indem wir die Realität durch Fantasie ausblenden.

Die Lebenskompetenzen der Spannungstoleranz werden von der aktuellen Situation besonders herausgefordert. Sie sind in einer Welt, in der immer mehr Eindeutigkeiten und scheinbar felsenfeste Sicherheiten produziert wurden, immer unnotwendiger geworden und verkümmert. Wir haben es uns bequem gemacht in einer rundum abgesicherten Welt, und dann kommt ein Virus und schmeißt alles über den Haufen.

Doch deshalb müssen wir nicht gleich auf einen mittelalterlichen Bewusstseinszustand zurückfallen. Denn die Corona-Panik hat ganze Dogmatisierungsschleudern in Gang gesetzt. Überall schießen Prediger aus dem Boden wie zu Zeiten der Pest, nur wollen sie nicht die Menschen zu einem moralischeren Leben bringen, sondern die Politiker zum Einschwenken auf das eigene Fürwahrhalten, oft mit hintergründigen und handfesten Eigeninteressen. Dazu bedienen sich viele der Absolutsetzung ihrer relativen Einsichten, um mehr Gehör zu finden und mehr Gläubige um sich zu versammeln. Sie müssen auch die Wissenschaften bekämpfen, weil diese nicht auf dem Prinzip von Dogmen und Verabsolutierungen funktionieren, sondern nur relative Erkenntnisse hervorbringen. 

Der Zivilisationsprozess der Menschheit hat die Elimination von Unsicherheiten und Ungewissheiten und das Erschaffen von Eindeutigkeiten als Ziel; ironischerweise produziert jeder Schritt im Fortschritt der Absicherung neue Unsicherheiten, die dann mit vermehrtem Aufwand wieder abgesichert werden müssen. Dazu kommt, dass sich mit jeder zivilisatorischen Weiterentwicklung die Ansprüche und Erwartungen an Sicherheit und Komfort steigern, sodass trotz des objektiven Fortschritts in der Sicherheit das subjektive Sicherheitsgefühl nicht vermindert wird. 

Die Angstbelastung bleibt und verführt uns zu Glaubenssystemen und Ideologien, solange wir sie nicht in unserem Inneren konfrontieren und durch Bewusstheit auflösen. Dann öffnet sich der Blick auf die Realität, die, obwohl sie mit vielen Ungewissheiten behaftet ist, ihre wunderbaren und zauberhaften Seiten zeigt. An die Stelle der Unsicherheiten tritt die Magie und Mystik des Augenblicks.

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983


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