Samstag, 18. Juni 2016

Faktizität und Innenerfahrung

Wir können über verschiedene Wege Informationen aus der Geschichte unserer Vorfahren bekommen, die nicht auf ihre Faktizität hin überprüft werden können. Eine Frau hat in einer therapeutischen Übung erlebt, dass eine ihrer Ahninnen fünf Generationen vor ihr dreimal in ihrem Leben abgetrieben hat. Sie war mit der Frage in die Übung eingestiegen, weshalb sie neben drei gesunden Geburten drei Fehlgeburten hatte.

Es handelt sich bei diesen Erkenntnissen um Wissen aus der Erste-Person-Perspektive, das also seine Gewissheit aus einer subjektiven Sichtweise schöpft und sein Wahrheitskriterium darin hat, dass die Erkenntnis dafür hilfreich ist, einen vorher belastenden Zustand durch einen entlastenden zu ersetzen, also zu einer integrativen Heilung zu führen.

Viele Ereignisse aus der Vergangenheit können objektiv im Sinn der historischen Faktizität nicht mehr nachgeprüft werden. Wir verfügen über keine Quellen, Zeugen oder verlässliche Erzählungen, sodass die Faktizität von der Furie des Vergessens für alle Zeiten verschlungen wurde. Allerdings verfügen wir offensichtlich über eine Erinnerungsfähigkeit, deren organische Basis, das Zellgedächtnis, vermutlich in epigenetischen Mechanismen besteht. Die Informationen aus dieser Speicherung, die vor allem bedrohliche, verletzende und traumatisierende Erfahrungen enthält, werden zugänglich, wenn wir entsprechend darauf vorbereitet sind und geeignete Methoden der Regression im therapeutischen Rahmen benutzen.

Es wird also bei solchen therapeutisch geleiteten Reisen in die Generationenreihen immer wieder Entdeckungen geben, die sich nicht durch einen Rückgriff auf Fakten absichern lassen, weil es keine ablieferten und erhaltenen Fakten gibt. Es bleibt uns in diesen Fällen nur die Gewissheit der Innenerfahrung ohne die Sicherheit einer historischen Tatsachenbestätigung.

Doch liegt das eigentlich Heilsame einer derartigen Regression nicht in der Feststellung von vergangenen Ereignissen wie in den Auflistungen auf historischen Zeittafeln. Vielmehr wird hier die eigene Lebensgeschichte über den Horizont der individuellen Biografie hinaus erweitert und in einen größeren Rahmen gestellt. Es entsteht durch die Innenentdeckung ein neuer Erzählstrang. Als Frucht der Aufarbeitung der in die Zellerinnerung eingewobenen emotionalen Belastungen gewinnen wir eine neue Ressource für die Gegenwart durch die stärkende Kraft der Erzählung.

Erzählungen wirken nicht dadurch, dass sie faktengetreu wiedergeben, was gewesen ist, sondern dass sie die Geschehnisse nach der weiterwirkenden Bedeutung gewichten und einordnen. Erzählungen stiften einen emotionalen Sinnzusammenhang, für den die Fakten zweitrangig sind.

Anders ausgedrückt, bleiben wir beim Innenerforschen und emotionalen Aufarbeiten auf der analogen Ebene, für welche die Ebene der Tatsachen nicht stichhaltig und sinnstiftend ist. Deshalb muss der digital-logische Verstand in solchen Zusammenhängen zurücktreten und sich mit Lücken in der Welt des Faktischen abfinden, in der es unzählig mehr weiße als bunte Flecken gibt. Wir können aus dieser Ecke unseres Bewusstseins an den Innenerfahrungen zweifeln, doch sollten wir uns dabei klar bleiben, dass es nicht vordringlich um die Faktizität, sondern um die Innenwirkung geht.

Nicht aufgearbeitete Traumatisierungen hinterlassen Lücken und Brüche in der biografischen Lebensgeschichte, die als Ganze immer mit einer Ahnengeschichte verknüpft ist. D.h. die eigene Lebensgeschichte ist unzusammenhängend, wenn in ihrer Vorgeschichte wesentliche Ereignisse verdrängt oder ausgeklammert sind, wie ein Familiensystem daran erkranken kann, dass ein Mitglied ausgeschlossen und totgeschwiegen wird. Weiße Flecken in der Familiengeschichte können, wenn es keine verlässlichen Quellen gibt, nur durch Erzählungen mit Leben gefüllt werden, die aus der Innenerfahrung gespeist sind. Das Vervollständigen der Erzählung stellt eine Kontinuität in der eigenen Lebensgeschichte her, und vor diesem Hintergrund findet die eigene Identität ein breiteres Fundament.

Außerdem kommt alles an seinen Platz, was verschoben wurde: insbesondere Belastungen, die unbewusst über die Generationenlinie weitergegeben wurden, können dorthin zurückgegeben werden, wo sie ihren Ursprung haben. Damit wird das gegenwärtige Leben frei und kann sich für seine kreativen Aufgaben öffnen.


Vgl. Epigenetische Weitergabe von Traumen

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