Über die Notwendigkeit der spirituellen Disziplin
Wir machen auf dem inneren Weg nur Fortschritte, wenn wir uns konsequent mit unseren Themen, vor allem mit unseren Gewohnheitsmustern und Widerständen auseinandersetzen. Sonst geht es uns wie beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“, dass wir durch störende Einflüsse von außen oder innen aus der Bahn geworfen werden und wieder zurück an den Start müssen. Die wichtigste Übungslektion besteht darin, unangenehme Lebensereignisse als Chancen für mehr Bewusstheit zu nutzen. Wenn wir das verstanden haben und zu einer nachhaltigen Praxis ausbauen konnten, haben wir schon einen überragenden Meilenstein errichtet, auf den wir zur Orientierung immer zurückschauen können, Um zu erkennen, dass wir auf einem guten Pfad unterwegs sind.
Das notwendige Hilfsmittel ist dabei die Disziplin. Sie holt uns zurück aus den Gewohnheiten und Vergessenheiten. Sie erinnert uns an unsere eigentliche Bestimmung und an unseren inneren Ruf. Sie hilft uns, eine regelmäßige Übungsform zu finden und aufrechtzuerhalten, mit der wir eingefräste Verhaltens- und Denkweisen durch beharrliches und konsequentes Arbeiten an der Achtsamkeit abschwächen und entkräften können. Arbeit an der Achtsamkeit heißt, die Aufmerksamkeit auf den Moment zu bringen, statt sich im Denken und Fantasieren zu verlieren. Im aktuellen Augenblick ist die Wirklichkeit zu finden, nirgends sonst.
Nur mit Disziplin schaffen wir es, den Verlockungen und Verkrustungen, die in unserem Verstand auf Abruf gespeichert sind, Einhalt zu gebieten und ihnen die Macht über unser Bewusstsein zu nehmen. Nur mit Disziplin werden wir zu den tonangebenden Herrschern in uns selber, nur mit ihr können wir uns unabhängig machen von den anderen Stimmen, die uns ablenken wollen und fortwährend die angstgesteuerten Überlebensprogramme aktivieren.
Die Gnade der Disziplin
Wie aber kommen wir zur Disziplin, wenn so Vieles dagegen arbeitet? Brauchen wir eine Meta-Disziplin, die uns zur Disziplin motiviert? Müssen wir uns also disziplinieren, um diszipliniert sein zu können? Bevor wir uns in einer endlosen Hierarchie von Metaebenen verlieren und verzweifeln, gilt es innezuhalten. Wir können die Disziplin nicht machen wie eine Gemüselasagne oder den Yoga-Kopfstand. Disziplin ist Gnade, sie ist uns gegeben worden, damit wir sie nutzen. Wir können auf sie vergessen oder uns von ihr erholen, wenn sie uns zu sehr anstrengt. Aber sie steht immer als Möglichkeit zur Verfügung. Sie erwächst aus der Kraft des Wachsens, die ihre eigene Konsequenz hat und uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind, mit unseren Stärken und Schwächen, Eigenheiten und Genialitäten. Würden wir über keine Disziplin verfügen, wären wir keine erwachsenen Menschen, sondern hilflose Babys in Riesenkörpern.
Der Zugang zur Kraft der Disziplin hängt auch von Faktoren unserer Geschichte ab: Können wir uns leicht motivieren, weil wir als Kinder immer bei unserer Neugier und Initiative unterstützt wurden, oder hat es uns an anregender und wertschätzender Umgebung gemangelt, sodass wir es schwerer hatten, innere Strukturen aufzubauen? Waren die Eltern maßvoll fordernd, was unsere Konsequenz und Zielstrebigkeit anbetrifft, oder neigten sie zu Überansprüchen oder zum Verwöhnen? Ungünstige emotionale und soziale Wachstumsbedingungen in der Kindheit wirken auf das Ausmaß ein, in dem uns die Disziplin zu unserer erwachsenen Lebensführung zur Verfügung steht und aktiviert werden kann.
Letztlich hat es auch mit Gnade zu tun, mit welchen Voraussetzungen und Ressourcen wir ausgestattet wurden. Ob wir uns mit der Disziplin leichter oder schwerer tun, sollte uns jedoch nicht daran hindern, die Kraft unserer Selbstverantwortung zur Wirkung zu bringen, um unser Pflicht- und Verantwortungsgefühl für die Strukturierung unseres Lebens einzusetzen. Disziplin als frei gewählter Einsatz für unsere eigenen Ziele ist eine wichtige Quelle für das Gelingen der Lebensführung.
Zwanghafte Disziplin
Disziplin hingegen als aufgezwungene und zwanghafte Haltung führt zu Selbstausbeutung und Unfreiheit. Menschen mit dieser Einstellung glauben, dass die Disziplin den Auftrag hat, alle genussvollen Antriebe zu unterdrücken, damit sie im Leben weiterkommen. Sie sind bestimmt von äußeren Normen, die sie erfüllen müssen, von äußeren Erwartungen, denen sie entsprechen müssen. Diese Form der Disziplin als Gegensatz zum Lustprinzip hat keinen Platz für die Gnade. Denn die Menschen mit dieser Prägung meinen, sich nur auf die eigene Pflichterfüllung und Leistung verlassen zu können. Sie stecken zwischen angestrengtem Arbeiten und schlechtem Gewissen fest, wodurch sie nie mit sich zufrieden sein können, sondern immer meinen, zu wenig und zu schlecht zu leisten. Jeder Zustand der Entspannung ist riskant, weil die Angst vorherrscht, dass die Zügel stets fest angezogen bleiben müssen, damit nicht ein verderblicher Schlendrian einbricht. Es ist also die dauernde Angst vor dem inneren Schweinehund oder Nichtsnutz, die zum disziplinierten Zusammenreißen antreibt.
Dieses Verhaltensmuster ist selbstquälerisch und kann zum Burnout und zu psychosomatischen Symptomen führen, weil es von einer chronischen Stressbelastung untermalt ist. Es ist körper- und lustfeindlich und damit unmenschlich. Die eigentliche Anstrengung sollte darin bestehen, das Muster zu durchschauen und durch eine neue Form von Disziplin zu ersetzen, die Zeiten der Entspannung und des Lebensgenusses mit umfasst. Gelingt es, die zwanghaften Prägungen zu überwinden, kann die Gnade zur Mitwirkung am Lebensglück eingeladen werden.
Das Geheimnis der Gnade
An diesem Punkt führen die Überlegungen zurück zum spirituellen Weg. Auf dieser Ebene gilt alles, was wir in unserem Leben tun oder unterlassen, alle disziplinierten Anstrengungen und undisziplinierten Durchhänger als Beitrag zum inneren Wachsen hin zu mehr Freiheit und Ego-Transzendenz. Die Gnade ist eine spirituelle Kategorie, die darauf verweist, dass vieles, wenn nicht alles, was geschieht, nicht in unserer Macht und Verfügung steht, sondern uns von einer tieferen Quelle gewährt wird oder auch nicht. Die Erfolge in unserem Leben sind nicht die Frucht unserer Bemühungen, sondern Ausfluss eines komplexen Gewebes von Ereignissen, deren Logik sich unserer Einsicht entzieht. Selbst unsere Bemühungen und die dafür notwendigen Energien sind dieser Quelle geschuldet und nicht eine Errungenschaft, die wir unserem Ego zuschreiben könnten.
In dieser Perspektive stammt jede disziplinierte Handlung von diesem Hintergrund, es wurde uns sogar jedes Quäntchen unserer Fähigkeit zur Selbstdisziplin von dort gespendet. Die Gnade verpflichtet uns zu nichts außer zu Dankbarkeit. Das Vertrauen auf die Gnade ist Teil des Grundvertrauens ins Leben, das uns entstehen und wachsen ließ, bis zum jetzigen Moment. Die Gnade wirkt allerdings unvorhersehbar und geheimnisvoll, manchmal schüttet sie ihr Füllhorn üppig aus und manchmal allzu karg. Es gibt keine Stelle, bei der wir mehr oder anderes einfordern könnten, vielmehr zwingt sie uns zum Üben im Annehmen dessen, was geschieht.
Die Alltagspraxis
Der alte Spruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, kann hier in abgewandelter Form angewendet werden: Gnade ist gut und Disziplin ist notwendig. Denn das Vertrauen in die Gnade sollte nicht blind sein – ich brauche nichts zu tun, es wird schon für mich gesorgt. Blind heißt, die Ränke der eigenen Selbstsucht nicht zu durchschauen. Das Ego findet immer Schlupflöcher, um seine Pläne durchzubringen und kann sich da leichtfertig auf die Gnade stützen und statt konzentrierter Anstrengung die eigene Faulheit kultivieren. Mit einer recht verstandenen Disziplin können wir unsere Selbstverantwortung über unsere gewohnten Ausflüchte stellen und für das aktiv werden, was wir aus uns selbst heraus im Leben verwirklichen wollen.
In der „weltlichen“ Welt braucht es auch weltliche Tugenden und Fertigkeiten, um ein kreatives Leben nachhaltig zu gestalten. All diese notwendigen Werkzeuge wie die Disziplin gehen umso leichter von der Hand, je mehr wir sie mit spirituellen Einsichten verbinden. Das Zusammenspiel von Disziplin und Gnade hilft uns z.B., eine tägliche Meditations- oder Achtsamkeitspraxis aufrechtzuerhalten, die uns mehr und mehr für die Segnungen der Gnade und der Dankbarkeit öffnet. Es hilft uns auch, in unseren anderen Anstrengungen nicht müde zu werden, ohne auf einen bestimmten Erfolg fixiert zu sein. Es versöhnt uns mit Rückschlägen und Fehlern. Es bildet die Grundlage für jede kreative Arbeit. Denn die Einfälle, die wir für schöpferisches Tun brauchen, machen wir nicht, sondern sie fallen uns zu, manchmal reichhaltiger, manchmal bescheidener.
Das in den eigenen Kräften Stehende zu tun und sich in das Nichtverfügbare fügen – eine Formel für das Zusammenwirken von Gnade und Disziplin zu unserem eigenen Besten. Oder, wie das Prophetenwort lautet: Vertraue auf Gott, und binde dein Kamel an.
Hier zur Video-Version.
Zum Weiterlesen:
Muße als Lebenskunst
Danke Dir für diese wundervolle Zusammenfassung ...
AntwortenLöschendem ist nichts hinzuzufügen als Dein Satz:
Die Gnade verpflichtet uns zu nichts außer zu Dankbarkeit