Samstag, 7. Dezember 2019

Konsumscham und Schamkonsum

Die Konsumscham

Der Kapitalismus hat es nicht nur geschafft, die Gier in sein Produktions- und Konsumationssystem einzubauen, sondern auch die Scham. Allerdings spielt die Scham eine Doppelrolle: Zum einen dient sie als Gegenspieler zur Gier. Die Gier ist eine egoistische Angelegenheit, die das individuelle Überleben sichern will. Gierige Menschen werden von vielen als asozial erlebt, und die Gier lebt sich deshalb auch gerne im Verborgenen aus. An die Öffentlichkeit gebracht, müssen oder sollen sich gierige Menschen in den Augen der anderen schämen. Das Laster der Gier wird durch die Scham eingegrenzt und gemäßigt.

Als Folge kann übermäßiger Konsum mit Scham behaftet sein. Ein aktuelles Beispiel stellt die Flugscham dar, mit der ein übermäßiger Konsum von Flugreisen angeprangert und mit sozialer Ächtung verbunden wird. Wer viele Flugreisen unternimmt, vor allem wenn es ums Vergnügen und um Kurzvisiten geht, soll sich dafür schämen, an der Belastung des Klimas mitzuwirken und für einen egoistischen Zweck der Allgemeinheit einen langfristigen Schaden zuzufügen.

Übermäßiges, unersättliches, exzessives Konsumieren unterliegt den kritischen Augen der Öffentlichkeit, die darauf schaut, dass ein gewisser gesellschaftlicher Grundkonsens erhalten bleibt: Niemand soll sich schamlos bereichern. Das ist die Rolle der Konsumscham.


Der Schamkonsum

Zum anderen kurbelt die Scham den Konsum an. Wir vergleichen uns fortwährend mit unseren Mitmenschen und deren Besitztümern. Insoweit wir uns selbst über Dinge definieren und unseren Selbstwert vom Verfügen über Gegenstände abhängig machen, kann sich ein schlechteres Abschneiden im Vergleich mit einem Nachbarn oder Kollegen problematisch auf den Selbstwert auswirken. Der Konsum dient dann dem Ausgleich, freilich mit der Falle, dass sich immer wieder neue Vergleiche finden, die die Selbstunzufriedenheit anstacheln. Vermutlich läuft ein großer Teil der Autokäufe über diese Schiene, denn eine vernünftige Erklärung dafür, dass Menschen immer schwerere, teurere, größere und umweltschädlichere Fahrzeuge erwerben und damit ihre Kurzausflüge im Stadtverkehr zu den Einkäufen oder zum Friseur, gibt es nicht. Man schämt sich offenbar, wenn man mit einem kleinen Gefährt unterwegs ist, während ringsum im Stau die mächtigen SUVs verächtlich von oben herabschauen und mit imponierendem Geheul zur nächsten Ampel davondonnern.

Die Werbung bedient sich unserer Zwänge zum Vergleichen. Sie stellt uns die strahlenden Menschen vor Augen, die scheinbar mit einem bestimmten Produkt ihr Glück gefunden haben. Da könnte uns schon die Scham packen, wenn wir gerade nicht so high sind wie die Schönheiten auf dem Plakat. Also fehlt uns noch irgendein Ding, das wir zu unserem Glück brauchen. Und flugs dreht sich das Konsumrad weiter, wie das ewige Schicksalsrad im Hinduismus. Nie finden wir das Glück, nie entfliehen wir der Beschämung durch die Konsumdiktate.


Zur Geschichte des Schamkonsums 

In früheren Gesellschaften war die Scham durch die soziale Stellung bestimmt und stark mit dem Begriff der Ehre assoziiert. Die Geburt bestimmte die Zugehörigkeit zur Schicht und damit zum gesellschaftlichen Rang. Wer sich mehr oder weniger Ehre zugestand, war mit Scham beladen.

Die traditionellen Hierarchien wurden durch die Gesellschaftsrevolutionen seit dem 18. Jahrhundert obsolet und in ihren Innenwirkungen entmachtet – es ist nicht mehr automatisch jemand besser, wenn er weiter oben auf einer sozialen Rangleiter steht. Vielmehr wird das Glück über den materiellen Besitz definiert, wovon eine unglaubliche Welle der gierigen Aneignung der Schätze dieses Planeten ausging. Die Konkurrenz der europäischen Mächte um die machtpolitische Aufteilung der Kontinente war von Gier und Scham angetrieben: Schande denen, die über kein Kolonialreich verfügten, aus dem ein scheinbar unermesslicher Reichtum nach Europa floss. Dann kam das 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen: Der erste war aus dem schamgetriebenen imperialistischen Konkurrenzdenken entstanden, der zweite als Folge der Beschämung der Besiegten durch die Sieger und endete mit massiven Zerstörungen, die eine äquivalent starke Welle der Scham auslöste.

Die Nachkriegsgeneration baute sich zur Kompensation der Scham- und Schuldgefühle ein Konsumparadies auf, in dem sich mehr und mehr Bürger mehr und mehr Luxusgüter leisten konnten, um zu feiern und das Schreckliche vergessen zu können. Damit konnte das üppige Konsumieren die große Scham und Beschämung zudecken. Statt sich des moralischen Versagens und der politischen Verantwortungslosigkeit zu stellen, verhalf der Wohlstandsschub zum Ausgleich: Wohlstand gegen Schuld. Die große Scham wurde durch die kleine abgelöst, angestachelt durch das Vergleichen der Besitztümer. Die kleinen Schamspiele ließen die kritischen Anfragen an die Menschlichkeit vergessen, die von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis heute widerhallen.


Infantilität und Verantwortung 

Heutzutage, wo endlich die Tragweite des Konsumverhaltens im Zeichen der Klima- und Umweltkrise diskutiert wird, nimmt die Scham eine neue Rolle ein, allerdings nur in einem Minderheitenprogramm. Eine kleine Gruppe von Aktivisten und Umweltbewussten nimmt sich und die Zeichen der Zeit so wichtig. Diese Menschen wandeln die Scham in klimafreundliche Handlungen um. Sie sind sich ihrer Verantwortung bewusst und bereit, auf Konsum zu verzichten und den eigenen Luxus einzuschränken. Sie stellen ihre erwachsenen Kompetenzen über die Infantilität ihrer Konsumimpulse.

Die breite „Masse“ konsumiert fröhlich weiter, als gäbe es kein Morgen oder Übermorgen, angetrieben von subtilen Gier- und Schamimpulsen.  Die Rechtfertigungen und Ausreden zur Dämpfung der Scham sind wohlformuliert im Kopf gespeichert, um bei Bedarf das schlechte Gewissen zu beruhigen. Papa Kapitalismus sagt: Je mehr Geld du ausgibst, desto besser bist du als Mensch.

Das Wissen um die Destruktivität des Kapitalismus und der von ihm in Dienst genommenen Gefühlsmechanismen von Gier und Scham erweist sich bei den meisten Menschen als relativ nutzlos und irrelevant für die überlebensnotwendigen Verhaltensänderungen. Der Schlüssel zur Veränderung im Sinn einer Qualitätsorientierung statt einer Quantitätsorientierung kann nach meiner Auffassung und Erfahrung nur in einer radikalen Innenschau gefunden werden, im Eingestehen von neurotischen und infantilen Motivationen und im Besinnen auf den tieferen Sinn unseres Daseins, der nichts mit Konsum zu tun hat. 

Zum Weiterlesen:
Das Pathos der Beschämung in der Klimadebatte
Konsum und Gier
Krankhafter Konsum
Das Giersystem im Kapitalismus
Gier und Selbstzerstörung

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