Der Ausgangspunkt der Problematik liegt in der Gleichsetzung des Guten mit dem Schmerzfreien und Leidenslosigkeit. Ein gutes Leben muss schmerzlos und beschwerdefrei sein. Dabei verkennen wir – aus naheliegenden Gründen – die Natur des Lebens und damit des guten Lebens. Die naheliegenden Gründe liegen im Wunsch nach Schmerzfreiheit und Wohlgefühl ohne Ende. Wenn wir leiden, fühlen wir uns dagegen eben nicht gut, sondern miserabel, gepeinigt und manchmal sogar verzweifelt. Jeder will genießen und Freude empfinden und unangenehme Erfahrungen möglichst schnell überwinden. Das ist auch ein im Leben grundgelegter Antrieb, der die kreative Seite des Lebens ermöglicht. Denn nur im Zustand innerer Ausgeglichenheit und Entspanntheit können wir schöpferisch aktiv werden und anderen helfen.
Was ist aber die Natur, die Eigenart des Lebens? Das Leben umfasst alle seine Aspekte und Dimensionen. Organismen sind fühlende Wesen, sie nehmen sich selbst und die Umgebung wahr. Jedes Fühlen ist von einem Kontinuum gekennzeichnet: Zwischen maximaler Bedrohung und maximaler Lebenssteigerung, zwischen maximalem Schmerz und maximalem Wohlgenuss. Wir verfügen über diese Empfindungsfähigkeit, um uns in der Wirklichkeit orientieren zu können, wenn wir unser Überleben sichern. Auf dieser Ebene sind wir genauso ausgestattet wie alle anderen Lebewesen. Ich nehme an, dass sie alle ihre jeweiligen Leidenszustände kennen und irgendeine Form von Schmerz erleben.
Gäbe es kein Schmerzempfinden, wäre dieses Spektrum eingeschränkt – was auch bei Menschen, die eine spezielle Störungen im Gehirn haben, der Fall ist. Ohne körperliche Schmerzempfindung bekommen wir keine Signale über Probleme in unserem Organismus; ohne seelischen Schmerz erkennen wir nicht, wenn im Sozialsystem etwas schiefläuft. Eine völlige Schmerzbefreiung wäre lebensbedrohlich – für den Organismus und für das Sozialgefüge.
Der Schmerz ist also ein integraler Teil unseres Welterlebens als lebendige Wesen. Selbst wenn wir ihn minimieren wollen, weil wir natürlicherweise vom Unangenehmen zum Angenehmen streben, gilt es dennoch, ihn zu achten und ihm Sinn zuzugestehen. Sonst schneiden wir vom ganzen Raum des Lebens einen wesentlichen Teil aus und nutzen ihn nur zum Jammern und Einsammeln von Mitleid. Wir Menschen sind vermutlich die einzige Spezies, die überhaupt auf die Idee kommt, die Existenz und Sinnhaftigkeit von Schmerz und Leid in Frage zu stellen. Der Rest der Natur lebt einfach mit diesen Gegebenheiten.
Wenn wir uns da anschließen, statt eine Sonderrolle in der Natur zu beanspruchen, können wir das Leid in seiner vollen Bedeutung und Sinnhaftigkeit achten. Auf diese Weise sind wir mit dem Ganzen der Natur und des Lebens verbunden. Wir schreiben dem Leben nicht vor, wie es zu sein hat, sondern nehmen es so, wie es ist. Statt einen sinnlosen Kampf zu kämpfen, fühlen wir uns von dem Wissen getragen, dass jedes Leid, so unangenehm es nun mal ist, irgendwann sein Ende hat, wie auch jedes freudvolle Ereignis.
Schmerzen annehmen
Schmerzhafte Erfahrungen sind besonders heraufordernde Gelegenheiten für das Annehmen und Akzeptieren. Das heißt auch, dass sie besonders zu unserem inneren Wachsen beitragen. Je schwieriger das Annehmen, desto wertvoller ist es, wenn es uns gelingt. Wir werden unabhängiger von den Wechselfällen des Lebens, vom stimmungsmäßigen Auf und Ab, von Niederlagen und Enttäuschungen, von Verwundungen und Beleidigungen, von Unpässlichkeiten und Krankheiten. Unsere innere Stärke wächst mit jeder gelungenen Akzeptanz schwieriger Lebensumstände.
Im Einklang mit sich und dem Lebensprozess zu sein, ist die tiefste Form des Glücks, die dem Menschen möglich ist und die von niemandem genommen werden kann. Dazu gehört es, die angenehmen und unangenehmen Erfahrungen gleichermaßen zu umarmen, wie ein gerechter Elternteil die braven und schlimmen Kinder ohne Unterschied liebt.
Einzelne Menschen haben es geschafft, in den schlimmsten vorstellbaren Situationen bei sich zu bleiben, im Gefängnis oder im KZ, im Krankenbett oder im Sterbeprozess, und sie können uns als Vorbilder dienen, wenn wir mit Leiden und Schmerzen in unserem Leben konfrontiert werden. Wir können unsere Würde aufrechterhalten, selbst unter den entwürdigendsten und unmenschlichsten Umständen, unter Schmerzen und Leiden. Denn die Würde kann uns niemand nehmen, höchstens wir selber, wenn wir uns von der Ganzheit unseres eigenen Lebens abtrennen und uns in herausfordernden Erfahrungen selbst verleugnen.
Die Schatten des Todes
Der Alterungsprozess beinhaltet viele schmerzhafte Momente, die mit zunehmender körperlicher und geistiger Gebrechlichkeit immer häufiger auftreten. Es zwackt hier und zwackt dort, das Gedächtnis wird löchrig und die Marotten werden noch wunderlicher. Dazu kommt, dass das Altern selber die Akzeptanz herausfordert, weil es mit der schmerzhaften Erkenntnis verbunden ist, dass es nicht rückgängig gemacht werden kann, sondern unausweichlich voranschreitet, relativ unabhängig davon, wie wir es gerne hätten. Das Altern ist der lange Schatten des Todes, der in seiner Strenge und Unausweichlichkeit fordert, dass wir das Sterben lernen, je früher desto besser.
Als lebende Organismus haben wir ein Ablaufdatum. Ob unser Leben länger oder kürzer als der Durchschnitt dauert, ist nur zum Teil in unserer Hand. Viele, die ein in mehrfacher Hinsicht vorbildliches Leben geführt haben, sind früh gestorben; andere mit unmäßigem oder wenig tugendhaftem Lebenswandel haben ein hohes Alter erreicht. Der Tod ist ein undurchsichtiger Gesell, der sich nicht in die Karten blicken lässt, trotz aller Versuche, das Alterungsgenom zu entschlüsseln und zu manipulieren. Er klopft unerbittlich an unsere Tür, wenn er es für angemessen hält, und gibt seine Gründe nicht preis. Er fordert einzig und allein unsere Bereitschaft zur Hingabe, in der ultimativen Form.
In jedem Schmerz, in jeder leidvollen Erfahrung kündigt sich der Tod an, als würde er das alles schicken, damit wir uns auf das Treffen mit ihm vorbereiten können. Doch ist der Tod nicht der Meister des Lebens, sondern selbst nur ein Diener im großen Prozess des Werdens und Vergehens, bei dem wir eine Weile mitsegeln, deren Dauer uns zugemessen ist. Jede Schmerzerfahrung können wir zum Einüben in die Hingabe, d.h. in die Endlichkeit und Sterblichkeit nutzen.
Erwartungsfreiheit
Erwartungsfrei durchs Leben zu gehen, absichtslos mit dem Leben zu fließen, erfordert viel Grundvertrauen und innere Stabilität. Der Lohn der Vertrauensstärkung ist der hohe Grad an Freiheit und der Zugang zu einer tiefen Form des Glücks, das aus dieser Freiheit kommt. Die Erwartungsfreiheit umfasst auch den geheimnisvollen Tod und lässt ihm seine Freiheit, zu kommen, wann immer es ihm beliebt und gleich welche Form des Endes er uns zubilligt.
Wir haben dieses Leben als Ganzes, mit seinem Anfang und seinem Ende, mit seinen Schokoladenseiten und Magenkrämpfen. Es hat uns ganz, und wir haben es entweder ganz oder gar nicht. Alles, was uns widerfährt, gehört dazu, ob es uns in den Kram passt oder nicht, ob es uns erfreut oder entsetzt. Akzeptanz gibt es nur in dieser Ganzheit. Wenn wir nur die Rosinen aus dem Lebenskuchen herauspicken, verdirbt der kostbare Rest, indem wir ihn verschmähen. Wir sind dann nicht mit der Annahme, sondern mit dem Verweigern des weniger wohlschmeckenden Teils beschäftigt, der dadurch mehr Bedeutung und Macht bekommt als die verführerischen und vergänglichen Süßigkeiten. Nehmen wir dagegen auch die sauren Kirschen aus dem breiten Angebot des Lebens zu uns, so lernen wir ihren Geschmack kennen und schätzen. Wir erweitern unser Repertoire und unsere Kraft im Umarmen und Halten.
Das gute Leben ist ein solches, das möglichst viele Schattierungen und Spielarten umfassen und umarmen kann und nichts ausschließen und missachten muss. Das gute Leben ist bereit zum Risiko der Totalität, zur Radikalität des Akzeptierens aller Freuden und Schmerzen. Das gute Leben kann auf alle Versprechen oder Heilsverkündungen von Schmerz- und Leidensfreiheit verzichten, weil es weiß, dass alles, was da ist, alles, was entsteht und vergeht, gut ist, wenn es mit Bewusstheit durchlebt wird.
Zum Weiterlesen:
Ein kleines Modell des Schmerzes
Von der Hilflosigkeit zur Hingabe
Die Dimensionen der Verzweiflung
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