Sonntag, 23. Februar 2020

Das Pathos der Beschämung in der Klimadebatte

Wie in vielen anderen Fragen unseres Lebens ist auch beim aktuellen Thema „Klima“ die Scham in vielfacher Weise involviert. Es kann helfen, die eigenen Standpunkte und Handlungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang besser zu verstehen und zu positionieren, wenn wir die Rolle der Scham in diesem Zusammenhang untersuchen.

Die Scham spielt immer eine Doppelrolle. Zum einen hemmt sie uns, etwas zu tun, was den eigenen Maßstäben oder den Erwartungen anderer nicht entspricht. Zum anderen motiviert sie uns dazu, unser Verhalten zu verändern, damit sie nicht mehr auftreten muss.

Wenn wir ernstnehmen, was wir mit unserem Verhalten anrichten (wir, die Konsumenten, wir die Produzenten, wir die Dienstleister etc.), dann ist Scham angebracht. Diese Menschheitsgeneration hat so viele Ressourcen verbraucht wie keine zuvor, Bodenschätze konsumiert und Arten vernichtet wie keine zuvor. Und wir sind Teil davon, wie ökologisch und nachhaltig immer wir uns verhalten. Diese Scham konfrontiert uns mit unseren Vorfahren, die mit viel Weniger ihr Auslangen fanden und zufrieden leben konnten, und mit unseren Nachfahren, denen wir einen ausgeplünderten Planeten überlassen, ungewiss, wie sie damit zurechtkommen können. Wie stehen wir anders da als mit schamgesenktem Blick?

Diese Perspektive ist schwer verkraftbar, obwohl sie ein zentraler Teil der Wirklichkeit ist, in der wir uns befinden, weil die Scham belastet und ohnmächtig macht. Andererseits kann sie leicht verdrängt werden, weil es keine direkt Betroffenen in der eigenen Umgebung gibt. Die Vorfahren, die mit weniger Wohlstand ihr Auslangen fanden, betrachten wir mit Mitleid und leichter Verachtung. Die Kinder, die im Blick auf ihre Zukunft anklagen, leben in einem fetten Wohlstand. Die Pazifik-Insulaner, denen das Meerwasser an die Hausschwelle schwappt, sind weit weg. Die abgemagerten Eisbärenfotos wurden als Fake entlarvt.

Doch was wäre, wenn wir die Scham anerkennen und ihr in unserer Innenwelt Raum geben statt sie lässig beiseite zu schieben? Wir würden mit der Verantwortung konfrontiert, die mit unserem Anteil an der Krisensituation verbunden ist. Wir würden die Aufforderung hautnahe spüren, unser Handeln zu ändern, Gewohnheiten abzulegen und neue Wege einzuschlagen, die mit einem Verzicht auf bisherige Bequemlichkeiten einhergehen könnten. Wir wären dem Anspruch ausgesetzt, neue Einstellungen zu übernehmen, die mit Bescheidenheit und Einfachheit verbunden sind. Wir würden die Weite unseres Verantwortungsraumes wahrnehmen: Ausgedehnt auf alle lebenden Wesen, jetzt und in die Zukunft hinein. Wir würden nicht mehr isoliert in unseren engen Lebenskreisen dastehen, sondern als Weltbürger, als Akteure auf der Bühne des globalen Geschehens.

Da ist es wohl einfacher, mit kognitiven Taschenspielertricks unsere Scham zu überspielen und einfach so weiterzuleben, wie bisher, vielleicht mit ein paar besorgten Gesprächen über das Klima da und dort. Vielleicht, je nach aktueller Wetterlage, dramatisieren wir dabei manchmal und verharmlosen ein andermal. Wir machen uns klein und unscheinbar und verstecken uns wie Adam und Eva vor dem strengen Blick Gottes. Wir tun so, als gäbe es uns als Akteure und Mitverantwortliche nicht und als wäre die Klimakrise ein Katastrophenereignis in einer weitentlegenen Welt, während wir weiter aus dem Vollen schöpfen. Auf diese Weise leben wir bar jeder Verantwortung, wie unschuldige Kinder, die nicht wissen, was sie tun und was sie anrichten.


Die „Klimahysteriker“ und ihre Verspotter


Politiker, die es besser wissen und auf Basis der systematischen Schamvermeidung in ihren Wirtschaftszielen weiterbasteln, können nichts mit den Warnern anfangen, die darauf hinweisen, dass auf die Menschheit größere Probleme zukommen als die Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Konzerngewinne. Sie unterstellen ihnen Verantwortungslosigkeit und Panikmache. Sie werten sie als Klimahysteriker ab, um sie in ein pathologisches Eck zu stellen. Sie ignorieren die Befunde von Tausenden von wissenschaftlichen Studien und tun so weiter wie bisher. Sie sind in ihrer Blase gefangen, in der es nur die Steigerung der eigenen Macht mit Hilfe eines ungezügelten Kapitalismus gibt. Mit ihrem offen zur Schau getragenen Zynismus wollen sie alle Andersdenkenden beschämen und sich selber von jeder Scham freisprechen.

Andere Politiker sehen nur die Probleme der Migration und übersehen deren Zusammenhang mit dem sich verändernden Klima. Ihre Hauptangst besteht darin, dass die eigene Kultur von einer fremden überlagert und ausgelöscht wird. Die Klimakrise erklären sie zur Erfindung von korrupten Wissenschaftlern, die damit von den wahren Problemen und drohenden Katastrophen ablenken wollen. Sie verstehen sich als Aufklärer und trauen nichts anderem als ihren selbstgebastelten Pseudowahrheiten. In ihrer Blase gibt es nur eins: Gierige Fremdländer, die an die eigenen Fleischtöpfe wollen und ignorante Leute, die blind in die Falle stolpern.


Die Klimaakteure und das Pathos der Beschämung


Die als Klimahysteriker verspotteten Aktivisten um Greta Thunberg und ihren Mitstreitern treten mit dem Pathos der Endzeitwarner auf, und niemand kann mit Gewissheit behaupten, dass sie darin unrecht haben. Dennoch können wir genauer auf den Gestus dieses Einsatzes schauen, um ihn und die Reaktionen auf ihn besser zu verstehen.

Umweltschützer und Grünenpolitiker haben seit jeher das Problem, dass sie als Moralisierer und Besserwisser gesehen und abgelehnt werden. Der Gestus des Belehrens, den sie für viele ausstrahlen, stößt auf die Gegenreaktion der Abwertung und Aggression. Wer mit dem erhobenen Zeigefinger dessen, der vor einer Gefahr warnt und zur dringenden Umkehr mahnt, konfrontiert ist, kann sich gemaßregelt und beschämt vorkommen. Einer moralischen Überlegenheit gegenüber kann man nur klein beigeben oder sie bekämpfen, indem sie entwertet oder lächerlich gemacht wird. Die meisten, die sich ertappt fühlen, reagieren mit der zweiten Möglichkeit, weil sie als Erwachsene sich nicht mehr unterordnen wollen, wie sie das als Kinder getan haben.

Wir alle kennen die Geste des mahnend erhobenen Fingers, der uns klein und das Gegenüber groß und mächtig macht. Dagegen regt sich der Geist der Opposition und Rebellion. Wenn zur Geste noch beschämende Worte kommen, wird die Situation bedrohlich. Und die neue Generation der Klimaaktivisten spart nicht mit unduldsamer Strenge, mit der die „Alten“ angeklagt werden. Sie haben nichts als Worte produziert und in ihren Taten die Katastrophe in Gang gesetzt und weiter befeuert. Sie haben sich nicht bloß geirrt oder unbewusst etwas Falsches gemacht, sondern wissend das Unglück vor- und aufbereitet. Sie gehören an den Pranger gestellt, damit alle sehen, was sie Unrechtes getan und verschuldet haben. Sie gehören öffentlich beschämt. Schämen soll sich, wer fliegt, Fleisch isst, Plastik verwendet und keine effektiven Gesetze zusammenbringt.

Dieses Pathos der Beschämung entsteht aus dem Gefühl der Not und der Dringlichkeit sowie der Hilflosigkeit und Ohnmächtigkeit einer übermächtigen erwachsenen Gesellschaft gegenüber, die sehenden Auges in die Katastrophe steuert, die ein anderer Teil dieser Gesellschaft mit den Mitteln der Wissenschaft vorausberechnet hat. Das Mittel der Beschämung gilt als ultima ratio angesichts einer sonst aussichtslosen Situation. Es will aufrütteln und zur Neuausrichtung des Handelns zwingen. 

Dieses Mittel kennen vermutlich alle aus ihrer Kindheit, als Erziehungsmittel. Wer etwas falsch gemacht hat, soll sich schämen und über die Erfahrung der Scham Verantwortung übernehmen und das eigene Verhalten verbessern. Es wird von Eltern oft in Extremsituationen angewendet, in denen sie mit anderen Mitteln nicht mehr weiterkommen, um das Kind „zur Räson“ zu bringen, um also aus einem emotionsgeleiteten kleinen Menschen einen vernunftgeleiteten zu bilden. 


Das Mittel der Beschämung im Modernisierungsprozess


Die Beschämung als Erziehungsmittel in Extremsituationen erregt viel Aufsehen in der Öffentlichkeit, überhaupt weil es die erste mächtige Jugendbewegung seit den 60er Jahren kennzeichnet. Diese war auch mit dem Pathos der Beschämung aufgetreten, mit dem der faschistoiden Nachkriegsgesellschaft der Spiegel vorgehalten wurde. Jene Bewegung mündete in einen Modernisierungsschub, der auch als Entstaubungsschub verstanden werden kann und z.B. die Normen des Familien- und Eherechts endlich der Zeit anpasste. Es steht zu hoffen, dass die Wortgewalt der jungen Warner zu einem ähnlichen Modernisierungsschub führt, mit dem die Normen der Güterproduktion, die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammen, der postkapitalistischen oder metamodernen Zeit angepasst werden und das nachhaltige Wirtschaften zum Leitprinzip machen.

Es braucht also offenbar manchmal – in Zeiten, in denen es um die Abwendung von Unheil geht – die Umkehrung der moralischen Macht zwischen den Generationen und das Mittel der Beschämung, um diesen Machtwechsel zur Geltung zu bringen. 


Kindliche und erwachsene Reaktionen


Es darf allerdings dann nicht wundern, wenn jene, die sich eine wasserdichte Schamabwehr zugelegt haben, mit Aggression, Hass und Gegenpropaganda auf die Strategie der Beschämung reagieren. Sie nutzen die Überlebensstrategien, die sie als Kinder gegen ihre übermächtigen Eltern erlernt haben, um mit dem, was sie jetzt als Erwachsene in ihrem Lebensstil und in ihren Werten bedroht, fertig zu werden. Vermutlich befürchten sie insgeheim, dass die Mahner recht haben, so wie sie als Kinder auch annehmen mussten, dass die Eltern recht hatten, als sie von ihnen beschämt wurden. Beschämt zu werden ist schmerzhaft, vor allem für Kinder, die auf die Liebe ihrer Eltern angewiesen sind.

Umso mehr müssen jene bekämpft werden, die den Finger in die Schamwunde legen, auch wenn sich ein Erwachsener nicht mehr gegen jede Beschämung zur Wehr setzen muss, sondern nachschauen könnte, wo es gilt, Verantwortung zu übernehmen. Aber es ist der kindliche Teil, der zu kämpfen beginnt und die emotionale Bedrohung als real erlebt. Daraus ist die Vehemenz und untergriffige Gemeinheit zu verstehen, mit der manche Kritiker auf die junge Schwedin losgehen und sie beschimpfen, lächerlich machen, für krank erklären oder als eine Marionette ihrer selbstsüchtigen Eltern oder skrupelloser Geschäftsleute sehen. 

Beschämung kann also Aggressionen auslösen; in der öffentlichen Debatte, in der es um eine wichtige, wenn nicht sogar überlebenswichtige Frage der Menschheit geht, sollten solche kindlichen Reaktionen keinen Stellenwert haben. Der Stellenwert, den sie dennoch haben, gibt allerdings Auskunft über den Grad an Erwachsenheit, der in unserer Gesellschaft herrscht.

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