Freitag, 21. Februar 2020

Die guten und die schlechten Gewohnheiten

Wenn wir uns im Bereich unserer liebgewonnenen Gewohnheiten suhlen, nennen wir das die Komfortzone. Sie wird bewacht von Ängsten und Schamgefühlen. Lieber bleiben wir als genügsame Schuster bei unserem Leisten, als dass wir Neues ausprobieren, bei dem wir uns blamieren könnten. Lieber umgeben wir uns mit Menschen, die wir seit Ewigkeiten kennen, als dass wir neue Kontakte knüpfen, von denen wir nicht wissen, ob sie uns guttun. Gewohnheiten machen das Leben bequem, aber engen es ein und bewirken Langeweile, Ödigkeit bis hin zu allen suchtartigen Verhaltensweisen. 

Gewohnheiten sind also auch die Wurzel von vielem Üblen. Die eingefleischten Hirnbahnen, die uns zu immer gleichen Handlungen treiben, von denen wir wissen, dass sie uns schaden – von Denkzwängen bis zu ungesundem Essen und Trinken, von Nörgelschleifen bis zu Drogenabhängigkeiten.


Die Wurzeln der Erforschungsambivalenz


Gewohnheiten machen uns das Leben einfacher und ersparen uns viele kleine Entscheidungen, die wir durch Routine ersetzen. Sie sind aber auch Sand im Getriebe unserer Wachstumsenergie, die Grenzen erweitern und neue Räume erschließen will. Wir sind Wesen, die immer dazu lernen wollen, bis ins hohe Alter. Die Gegner der Neugier sind Angst und Scham, verbündet mit dem Zweifel, deren kognitivem Bruder. Die Ambivalenz zwischen dem Erforscher- und Erkunderdrang und der Scheu davor geht zurück auf die sogenannte Übungsphase (nach Margaret Mahler), die mit dem Erringen des aufrechten Ganges und der verbalen Sprache um die Wende vom ersten zum zweiten Lebensjahr beginnt und ungefähr eineinhalb Jahre andauert. 

In dieser Phase entwickelt sich das explizite und lebhafte Interesse des Kindes an seiner Umwelt, die es nun viel aktiver erforschen kann. Das entdeckte Neue wird zu einer Quelle von Interesse, Freude, positivem Selbstgefühl und erwachender Selbstwirksamkeit. Das Kind kann spielerisch mit Nähe und Distanz experimentieren und erweitert damit seinen Raum für Vertrauen und Sicherheit in die äußere Welt hinein. Andererseits schwankt es zwischen Trennungsangst und Expansionslust. 

Kommt es in dieser Phase aber zu Verstörungen, die durch überängstliche und überfürsorgliche oder andererseits durch vernachlässigende Betreuungspersonen oder auch durch eine frühzeitige Überlassung an Kinderkrippen oder Zieheltern hervorgerufen werden, so ist dieser Drang nach dem Neuen von Unsicherheit und Misstrauen geprägt. Der Raum für das Experimentieren wird kleingehalten und verbindet sich mit verschiedenen Ängsten. Fixe Gewohnheiten bilden sich als Rettungsanker aus, bei denen sich sicher anfühlt, dass nichts Unangenehmes passieren kann. 

Der überfürsorgliche Erziehungsstil schränkt neben der Impulsivität auch die Kreativität ein und vermindert damit die Lebenschancen in der Gesellschaft, die kreative Kräfte braucht.  
Die überfordernden und vernachlässigenden Eltern hingegen vermitteln ihren Kindern eine Welterfahrung, in der das Kindliche nur wenig Platz erhält und in der es darum geht, dass die Kinder das Kindliche möglichst schnell überwinden und erwachsen werden. Der Bezug zum Spielerischen wird eingeschränkt und mit Scham belegt, von Erwachsenen geschätzte Kompetenzen und Leistungen stehen im Vordergrund und bekommen Lob und Anerkennung. Das Kind bildet dann seine Gewohnheiten in diesen Bereichen aus.


Krankhafte Gewohnheiten


Gewohnheiten, die eine hilfreiche Funktion in unserem Lebensalltag ausüben, erleichtern uns das Leben, weil sie uns von Entscheidungen entlasten und unsere Energien für andere Aufgaben nutzen lassen. Andere Gewohnheiten sind dagegen aus frühen Verhaltensmustern entstanden, die uns als Kleinkindern das Überleben von schwierigen Situationen ermöglicht haben. Sie können sich im späteren Leben zu Neurosen und Süchten entwickeln und das eigene Leben einschränken. Es sind Abläufe, die sich im Gehirn fest eingegraben haben und wichtige Botenstoffe monopolisieren, sodass wir meinen, nur durch solche Gewohnheiten einen Lustgewinn zu erzielen oder zumindest ein angenehmes Wohlgefühl zu finden. 

Dieser Zusammenhang führt zu den Süchten aller Art, vom Alkohol bis zum Medienkonsum, von der Streitsucht bis zum chronischen Stress. Unser Essverhalten kann davon geprägt sein wie die Zeiten unseres Schlafengehens. Zwangsneurosen und Zwangsgedanken beruhen auf ähnlichen Zusammenhängen.


Dissoziative Gewohnheiten


Eine besondere Gruppe unter den Gewohnheiten bilden jene, die auf Dissoziationen beruhen. Dieser psychische Mechanismus ist die Reaktion auf traumatische Erfahrungen und dient ursprünglich dafür, die Schmerzen und den Stress, die durch die Erfahrung ausgelöst werden, nicht spüren zu müssen. Die Situation wird so erlebt, als würde sie jemand anderem passieren. Das Gehirn verfügt über einen Vorgang, in dem es die Schmerzleitungen stilllegt und das Bewusstsein vom Körper abspaltet. Es kann sich dann der Mechanismus entwickeln, dass bei weiteren unangenehmen und belastenden Erfahrungen die Aufmerksamkeit vom aktuellen Moment und von der aktuellen Wirklichkeit verabschiedet und in einen Fantasieraum ausweicht, in dem Ruhe und Frieden herrscht. 

In der harmlosen Form betreffen uns solche Gewohnheiten immer dann, wenn wir nicht im Moment sind und keine bewusste Verbindung zu unserem Körper spüren. In der krankhaften Form können sie Gedächtnislücken bis zu Lähmungen hervorrufen.


Die Befreiung von Gewohnheiten


Wir sind nicht dazu verpflichtet, die Sklaven unserer krankmachenden Gewohnheiten zu sein. Solche Gewohnheiten sind zunächst unbewusst entstandene, aber heute selbstauferlegte Qualen, deren Wirkungen wir nicht immer gleich merken, die aber langfristige Schäden an unserem Körper und unserer Psyche anrichten können. Gewohnheiten loszuwerden ist jedoch ähnlich schwierig wie sie zu erwerben. Sie sind unter erschwerenden Umständen entstanden und hatten oft viele Jahre Zeit, um sich fest in unseren Gehirnwindungen zu etablieren. Vieles in uns wehrt sich vor allem auf unbewusster Ebene, sie zu überwinden.

Es braucht viel Konsequenz, Disziplin und Geduld, um aus der Macht dieser Gewohnheiten zu entkommen. Das sind leider Fähigkeiten, die durch solche Gewohnheiten untergraben werden, sodass die erste Arbeit darin besteht, sie wieder zu kultivieren und zu stärken. Die ersten Schritte werden klein sein, aber je mehr Anerkennung wir ihnen schenken können, desto besser werden sie sich etablieren; es ist wie die Trockenlegungsarbeit, mit der Sigmund Freud die Arbeit am Unterbewusstsein vergleicht: Stück für Stück neue Gewohnheit wird der alten abgerungen. Jeder Schritt verdient ein Quäntchen Selbstzufriedenheit und Stolz. Denn jede Selbstanerkennung wirkt als Selbstverstärkung.

Und jeder Rückschritt braucht Verständnis. Denn das innere Wachsen verläuft nicht linear nach oben. Manchmal sind die Widerstände stärker als der Wille zur Veränderung. Statt uns mit Vorwürfen zu überhäufen, ist es sinnvoller, die Macht der alten Gewohnheiten zu verstehen und mit uns selber nachsichtig und geduldig zu sein. Selbstanklagen helfen uns nicht weiter, sondern nur die Besinnung auf das, was wir wirklich verändern wollen. Aus Vorwürfen können Vorsätze werden, und aus Vorsätzen Willensentscheidungen.

Wenn wir unsere Veränderungsziele zu hoch gesteckt haben und dann gleich beim ersten Versuch scheitern, ist es besser, die Ziele auf ein realistisches Maß zu stutzen. Besser ein kleiner Schritt in die richtige Richtung als ein übermäßiger Sprung, bei dem wir uns den Knöchel verrenken. 

Hilfreich ist es auch, wohlgesonnenen Mitmenschen die eigenen Ziele mitzuteilen, damit die eigenen Absichten an die Öffentlichkeit kommen und dadurch mehr Kraft erhalten. Noch mehr wirkt eine kleine Gruppe von Leuten, die am gleichen Thema arbeiten, z.B. das Rauchen aufzuhören oder den Smartphonegebrauch einzuschränken. Der Austausch mit Gleichgesinnten motiviert zusätzlich und nutzt das Konkurrenzprinzip auf kreative Weise. 

Wir können zusätzlich regelmäßig mit der Vorstellung arbeiten, was sich alles durch das Aufgeben der alten Gewohnheit ändern wird und wie es uns dann gehen wird. Weitere Hilfen sind: Den eigenen Vorsatz durch oftmaliges Wiederholen stärken und sich klarmachen, dass es um das eigene Wollen geht, um die selbstgewählte Motivation. Wenn die Widerstände sehr stark sind, lohnt es sich, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn nachhaltig lösen sich die Hindernisse erst auf, wenn sie in ihren Wurzeln in früher Kindheit oder in der Pränatalzeit verstanden werden.

Kreativität ist der Ausdruck unseres Lebendigseins. Wenn wir unproduktive und selbstschädigende Gewohnheiten verabschieden können, öffnen wir den Raum für neue Ideen, Sichtweisen und Aktivitäten. So bereichern wir unser Leben und das unserer Mitmenschen.

Zum Weiterlesen:
Musterveränderung - aber wie?
Kreativitätshemmungen und ihre Lösung
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Selbstqual mit Selbstvorwürfen
Widerstand und Verwandlung

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