Donnerstag, 28. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur

Wenn wir den Unterschied zwischen den relativen Wahrheiten und der absoluten Wahrheit gut verstanden haben, haben wir einen wichtigen Aspekt der Klarheit nicht nur für unseren spirituellen Weg, sondern auch für das Verständnis der menschlichen Gesellschaftsformen gewonnen.

Verwechslungen im Typ der Wahrheit, die immer auch mit Prä-Trans-Verwechslungen im Sinn von Ken Wilber zu tun haben, liegen an der Wurzel vieler Konflikte, innerer Konflikte, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Konflikte. Ich möchte in diesem Beitrag einige Themen in diesem Zusammenhang aufgreifen und auch darauf eingehen, wie wir mit solchen Konflikten umgehen können.

Menschen unterliegen immer wieder ihrer Tendenz zur narzisstischen Selbsttäuschung. Das wird uns immer dann passieren, wenn wir aus dem Fließen des unmittelbaren Erlebens dessen, was jetzt gerade da ist, aussteigen. Vermutlich geschieht das, weil sich ein verstecktes ungelöstes Thema meldet, das mit Angst besetzt ist. Irgendetwas, das wir denken oder wahrnehmen, erinnert uns an eine frühere Erfahrung, die wir damals nicht integrieren konnten. Die Aufmerksamkeit geht zurück zu dieser Erfahrung bzw. zu den Gefühlen und Gedanken, die damit verbunden waren. Wir sind plötzlich in einem Film aus der Vergangenheit und nicht mehr bei dem, was jetzt gerade geschieht.

Wir merken allerdings nicht, dass wir gar nicht mehr wirklich anwesend, sondern von unserem Kopfkino beherrscht sind. Aus diesem selbstgetäuschten Selbstverständnis heraus nehmen wir leicht die Pose eines Rechthabers ein, der über alles und jedes das richtige Urteil hat. Wir werfen uns in die Haltung eines Verkünders absoluter Wahrheiten und fühlen uns berufen, die anderen darüber zu belehren, was jetzt in Wirklichkeit und eigentlich Sache ist und was genauso klar daneben und falsch ist.

Mit solchen Aktionen, die ja andauernd und fortlaufend im täglichen Leben passieren, stiften wir vor allem eine Verwirrung, in die wir andere verwickeln und uns selber. Deshalb zählt es zu den wichtigsten Lernaufgaben auf dem Weg zur absoluten Wahrheit, ein feines und zuverlässiges Gespür dafür zu entwickeln, wann wir den Bezug zu ihr verloren haben und dabei zu erkennen, welchen typischen Neigungen zur Selbsttäuschung wir bei solchen Gelegenheiten gerne verfallen.

Die Demagogen


In verschiedenen Sektoren der Gesellschaft treten charismatische Personen auf, die Einfluss und Macht gewinnen, auch wenn zugleich deutlich wird, wie stark sie sich dabei selber in Szene setzen und begünstigen. Hier begegnet uns z.B. der Typ des Demagogen. Seine Erfolgsmasche liegt darin, seine eigenen relativen Einsichten als absolute Botschaften zu tarnen und mit der Selbstsicherheit und Überzeugungskraft aufzutreten, die aus einer gekonnten Selbstverleugnung stammt. Da reden Menschen von ihren Berufungen, die Welt zu erretten und das Unheil von den Menschen abzuwenden. Sie benennen mit plumpen Argumenten die Schuldigen und propagieren den Kampf gegen sie.

Warum fallen immer wieder viele Menschen auf ein derartiges Theater herein? Sie erkennen sich darin selbst und bestätigen ihre Selbsttäuschungen. Ähnliche Schicksale verbinden. Wer sich z.B. einmal als kleines Kind gedemütigt gefühlt hat, wird auf einen Redner oder Schreiber hereinfallen, der dieses Thema in einem neuen Zusammenhang anspricht, und wird jeden Ausweg, sprich jede Projektion, die er anbietet, bedingungslos akzeptieren. Wer das Gefühl hat, anderen gegenüber benachteiligt zu sein, wird in Resonanz mit Demagogen gehen, die diese Gefühle kanalisieren und ihnen nachfolgen, weil sie mit dem Pathos einer scheinbar absoluten Wahrheit die scheinbare Wurzel des eigenen Übels formulieren und zugleich das scheinbare Heilmittel anbieten.

Bei den Demagogen selber wird es wohl so laufen, dass sie ihrer eigenen Überzeugungskraft, die aus ihrer besonderen Fähigkeit zur Selbsttäuschung stammt, auf den Leim gehen. Da sie als Narzissten derart begeistert von sich selber sind, verlieren sie jedes Gefühl für wahr und falsch. Sie sind ja in ihr gefälschtes Selbst verliebt. Deshalb sind sie Virtuosen in der Selbsttäuschung, weil sie es schaffen, sich selber doppelt hinters Licht zu führen: Zum einen, indem sie ihre verzerrte Wirklichkeitserfahrung nicht durchschauen, und zum anderen, weil sie sich noch dafür bewundern. Das macht wohl auch ihre Faszination für andere aus, die sich in diesen Formen der Blindheit wiedererkennen.

Mit etwas Distanz mag es skurril wirken, wie sich der dieser Tage von der Macht entfernte Meisterdemagoge Berlusconi mitsamt seinem selbstgerechten und realitätsvergessenden Zorn ins Internet stellt; für seine Anhänger wirkt es wohl so, als wäre hier einem Unschuldigen die größte Ungerechtigkeit widerfahren, die sich Menschen vorstellen können.

Wer nicht bemerkt hat, wie störanfällig jede Aktion und jede Kommunikation auf der Ebene der relativen Wahrheit ist, wie leicht sich also Elemente der Ignoranz, Selbstbezogenheit und Wirklichkeitsverleugnung einschleichen, wird Personen Glauben schenken, die die eigenen frustrierten Hoffnungen und Wünsche ansprechen. Deshalb kann es auch einen armen Schlucker rühren, wenn der angebetete Milliardär (wie in einem Sketch von Otto Waalkes) bitterlichst darüber klagt, dass sein Rasierpinsel ins Klo gefallen ist, worauf ihm der Komiker den Trost spendet, dass manch anderer ja nicht einmal einen Bart habe.

Mit ihrer Selbstfaszination schaffen es die Demagogen jeden Metiers, eine nebelartige Aura der Irreführung und Falschinformation um sie herum zu verbreiten, in der wiederum die Unfähigkeit zur Unterscheidung gedeiht und Wissen durch blinden Glauben ersetzt wird. Dabei gründet sich der Glaube auf nicht mehr als auf die Faszination durch jemanden, der grenzenlos in der Selbstglorifizierung versunken ist.

Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, welchen Rang eine Wahrheit hat, dann ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Je mehr relative Wahrheiten als absolute angepriesen werden, desto mehr wird der Zugang zur absoluten Wahrheit verstopft.

Die Pflicht zum Widerstand


Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, heißt es bei Bert Brecht. Wo eine relative Wahrheit zu einer  absoluten verdreht wird, ist es wichtig, dagegen aufzutreten. Denn die Verallgemeinerung einer solchen Vertauschung ist die Verallgemeinerung einer Vertuschung. Wenn ihr nichts entgegen gehalten wird, wird der Schaden, den sie anrichtet, vermehrt.

Dagegen aufzutreten ist nicht mit den Mitteln der absoluten Wahrheit möglich. Sie gibt zwar die Motivation und die Kraft, denn sie weiß, wie wichtig sie ist und wie wichtig es ist, dass sie nicht missbraucht wird. Aber ihre Stimme wird auf dem Markt der relativen Wahrheit nur wie eine weitere Meinung im Gewirr des Marktgeschreis untergehen.

Wer gegen Egoismen im Kleid von ewigen Weisheiten auftreten will, muss deshalb aus der absoluten Wahrheit heraustreten und in die Arena der relativen Wahrheiten gehen. Er nimmt dafür allerdings die Kraft mit, die aus der Verbindung mit dem Fließen kommt. Der heilige Zorn, mit dem Jesus die Tische der Händler vor dem Tempel umwirft, das ist die Energie, mit der jemand nicht um seiner selbst willen, also aus einem Ego-Motiv heraus, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung für etwas Größeres und gegen das Hintertreiben der essentiellen Klarheit auftritt.

Nicht mehr ist bei diesem Auftreten möglich als die verdrehten und überzogenen Ansprüche zu entlarven und bloßzustellen und damit der anmaßenden Verwechslung Einhalt zu gebieten. Es gilt also, die Lüge als Lüge und die Verdrehung als Verdrehung bloßzustellen und die als absolut ausgegebene Botschaft auf ihren relativen Rang zurückzustufen. „Was du hier verkündest, ist deine Meinung und nicht mehr. Was du sagst, gilt vielleicht für dich, aber nicht für mich.“ So können wir eine Grenze ziehen und die Aussage wieder in das Feld ihrer Herkunft, auf das Feld der Relativität zurückholen, wenn sie aus dieser stammt. Wir müssen die andere Person nicht kritisieren und schlechtmachen, es genügt, ihren (Macht-)Anspruch einzudämmen. Wir können dabei nur für uns sprechen, ohne uns auf höhere Einsichten berufen zu können, weil wir in einer Sphäre des Kampfes nur die Waffen der relativen Welt zur Verfügung haben. Die absolute Wahrheit taugt nicht für Konflikte, weil sie außer Streit steht. Streiten erfordert relative Positionen und relative Methoden der Auseinandersetzung.

In der Sphäre der Relativität können wir nicht „rechter“ haben als die anderen. Wir können nur einem Rechthaben, das sich auf eine angemaßte Absolutheit beruft, entgegentreten und es damit relativieren. Wir unterbrechen ein Spiel, das verwirrt und verschleiert, indem wir seine Regeln brechen. Dabei setzen wir der die Wahrheit verdrehenden Definitionsmacht, die sich ungehindert ausbreiten will, eine ebensolche Macht entgegen, nicht, um uns selbst ebenso ausbreiten zu können, sondern um die Ausbreitung der Vernebelungskultur zu verhindern. Eine Farbe, die über alles gegossen werden soll, wird eine Kontrastfarbe hinzugefügt, und damit ist das einheitliche Bild verdorben, wie es sich für eine relative Welt gehört. Die dahinterstehende absolute Wahrheit wirkt allein aus dem Verborgenen.

Wachsamkeit gegen die Gleichgültigkeit


Wer von der absoluten Wahrheit gekostet hat, muss wachsam bleiben: Wachsam auf die eigenen Anmaßungen, den gehobenen Schatz für eigene Zwecke zu missbrauchen, und wachsam auf die Versuche anderer Menschen, Dreck als Gold zu verkaufen.

Und es gilt wachsam zu bleiben gegenüber der eigenen Tendenz, die Gelassenheit und Toleranz mit Gleichgültigkeit in einen Topf wirft. Es darf nicht egal sein, wenn die großen und kleinen Demagogen auftreten, um ihre Schäfchen hinterlistig ins Trockene zu bringen. Es muss Widerstand geleistet werden, damit solche Blockierungen erkannt und gemieden werden können. Wer von sich meint, dass er sich zu gut oder zu erhaben ist für solche Streitigkeiten und deshalb die Konflikte in der Öffentlichkeit und im Privaten meidet, unterliegt der eigenen Überheblichkeit und Feigheit, Haltungen, die nicht besser sind als das, worüber sie sich erheben wollen.

Das Missverständnis liegt darin, dass das Reich der absoluten Wahrheit nicht als Zuflucht dienen kann, in das sich alle, denen es in der Welt zu gewaltsam, gemein oder hässlich zugeht, zurückziehen könnten, um dort das biedere Gärtchen einer wohlgehegten Heiligkeit zu pflegen. Wenn das geschieht, ist längst schon verloren, was gesucht wurde. Eine solche spirituelle Idylle ist nur eine weitere Nische der relativen Welt, versteckt hinter einem kunstvollen Gespinst aus scheinbar absoluten Fäden.

Tatsächlich fallen wir sofort aus dem Reich des Absoluten, wenn wir auf die Widersprüche der Kommunikation und der Gesellschaft stoßen. Und das ist auch gut so, denn dort müssen wir uns immer wieder behaupten, dort müssen wir auftreten und Anmaßungen entgegentreten. Automatisch geraten wir in die Versuchung, unseren eigenen Anmaßungen zu erliegen. Und das ist auch gut so, damit wir immer wieder auf uns selbst zurückgeworfen werden, um immer wieder den Blick auf unsere eigene Bewusstheit zu richten. So können wir in uns wieder den Kontakt zur absoluten Wahrheit herstellen.

Je mehr Ahnung wir von der absoluten Sphäre haben, desto mehr von den Selbst- und Fremdtäuschungen, die wir selbst und die anderen Menschen inszenieren, wird uns bewusst werden und desto mehr können wir aufzeigen und bewusst machen. Damit halten wir das Gewissen wach, das uns immer wieder darauf aufmerksam macht, uns aus dem Leben im Relativen auf das Absolute zurück zu beziehen und damit die Bereiche des Absoluten im Gesamten zu erweitern.

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