Freitag, 8. November 2013

Die zwei Wahrheiten und die Alltagspraxis

Sind wir Wanderer zwischen zwei Welten? Einmal in der einen, ein andermal in der anderen, nirgends wirklich zuhause? Pendeln wir vom einen ins andere, ohne irgendwo jemals wirklich anzukommen? Sollte der Weg nicht darin bestehen, die Welt des Relativen immer mehr hinter sich zu lassen, um schließlich ganz in der Welt des Absoluten aufzugehen? Oder genügt es, ab und zu von den Blüten des Absoluten zu kosten, damit das Leben im Relativen erträglich bleibt? 

Die Welt der relativen Wahrheit ist ein unendliches Feld des Lernens. Die Welt der absoluten Wahrheit ist ein unendliches Feld des Wachsens und Fallens. Das Lernen braucht das Fallen, um an Tiefe und Freiheit zu gewinnen, das Fallen braucht das Lernen, um am Spiel der Gegensätze zu wachsen. Insoferne können wir mit der Vorstellung von einer horizontalen und vertikalen Dimension arbeiten und erkennen, dass wir beides zugleich sein können und müssen, wenn wir nicht flach oder fadendünn werden wollen: Eine absolute Wahrheit ohne Bezug zur relativen ist stumm, in sich verschlossen, von den Menschen und ihrer Welt abgeschnitten. Eine relative Wahrheit ohne Bezug zur absoluten ist schal und oberflächlich, geschwätzig und besserwisserisch. 

Die Vergeistigung des Alltags 


Oft berichten Menschen von der Langeweile und Routine ihres Alltags. Das Wort selber hat schon die lethargische und resignative Schwingung - im Alltag ist das Alltägliche, Gewöhnliche, Uninteressante, Beschränkte. Das eigentliche Leben spiele sich erst dort ab, wo das engmaschige Gewebe dieses Alltags durchbrochen wird - auf einer tollen Urlaubsreise, bei einem schönen Konzert, während einer intensiven Meditationsgruppe. Das Zurückkehren in den "grauen" Alltag wird als Enttäuschung erlebt, und es wird geklagt, wie schnell die Farbenpracht und hohe Schwingung der außergewöhnlichen Erfahrungen verloren geht. Die Sehnsucht besteht darin, ein Leben führen zu können, in dem es keinen Alltag gibt. Wenn man es schon selber nicht wagt, auf eine Abenteuerreise ohne Rückkehr aufzubrechen, liest man von den Erzählungen anderer und schaut sich spannende Filme vor dem Schlafengehen an, um sich möglichst weit weg von der schwarzen Magie des Müssens zu zaubern, die unweigerlich den nächsten Tag von früh bis spät durchziehen wird. 

Der Geschmack der absoluten Wahrheit ist nicht an bestimmte Speisen oder Bilder gebunden, an keine äußerliche Realität, an keine innere Gestimmtheit. Einmal genossen, kann er in alles und jedes eingewoben werden, was wir erleben. In jeder Situation, die uns das Leben beschert, können wir Schätze und Kostbarkeiten finden, wenn wir nur die internen Augen, Ohren und Geschmacksknospen dafür öffnen. Es sind nur Gewohnheiten der faulen Seele, die das Überschreiten einer Schwelle der Intensität erforderlich machen, dass das Außerordentliche am Leben erkannt wird. Wir können statt dessen lernen, in den kleinen Dingen das Große zu entdecken, in den matten Farben die Sattheit und in der Fadesse das Abenteuer. Wir brauchen nur zu tun und zu erleben, was wir gerade tun und erleben. Wenn wir uns ganz dahinein fallen lassen, was im Moment in unserer Erfahrung geschieht, wenn wir ganz darin aufgehen und zu dem werden, was gerade geschieht, dann zeigt sich ein Reichtum und eine Schönheit, die jeden Augenblick zu einer Feier des Lebens werden lässt. 

In dieser innigen Verbindung des Vertikalen und des Horizontalen, des Absoluten und des Relativen, kann jede Erfahrung eine Tiefe erlangen, die das Innere erfüllt, sodass nichts mehr belanglos, nichts mehr fahl und glatt erscheinen kann. Das ist wohl der Höhepunkt der Lebenskunst, die volle Verwirklichung des menschlichen Lebens. 

Die Erdung der Spiritualität 


Nicht nur der Alltag braucht die Vergeistigung. Auch der Geist braucht den Alltag. Er braucht den Kontakt zum Boden, zu den erdigen Dingen und Abläufen. Er wird lebendig, wenn er sich auf die vielfältigen Schönheiten der relativen Welt einlässt. Die Herausforderung, den Alltag zu verzaubern und die Routine zum Tanzen zu bringen, lässt den Geist wachsen. Der Humor ist eines seiner Wundermittel, der das Schräge, Absurde und Komische aufzeigt, das in der Verbohrtheit in die Kleinlichkeiten des Alltags liegt. Er macht auch nicht Halt vor den höchsten Heiligtümern und weisesten Menschen. Sollte das Verweilen im Absoluten oder das Suche der Wahrheit zu viel an Ernst und Strenge bewirken, bringt ein Bad in den irdischsten Formen des Humors alles wieder zurück an den rechten Platz der Menschlichkeit. 

Erst an den verworrenen Windungen des gemeinen Treibens zeigt sich, ob die erfahrenen Einsichten in das Absolute wirklich gediegen und klar sind. Nur eine Spiritualität, die diesen vielfältigen Herausforderungen gewachsen ist, ist von wirklicher Güte und Brillanz. Wie sie mit der Dummheit und Bosheit der Menschen, den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, den Wechselfällen des Beziehungslebens, den Zufälligkeiten des Marktes und Unzuverlässigkeiten des Körpers umzugehen vermag, ist ihr Prüfstein. Hier muss sich ihre Kreativität immer wieder aufs Neue erschaffen und bewähren. Das Reiben an den Verwerfungen und Kalamitäten des immer wieder neu sich erschaffenden Chaos des Menschenlebens poliert den Kristall und verleiht ihm immer wieder neue funkelnde Facetten. Das Umgehen mit solchen Prüfungen ist die eigentliche Aufgabe des Lebens, das nach Ganzheit und Vervollkommnung strebt, und weiß, dass es im Tanz von Relativem und Absolutem kein Ende gibt, sondern beständiges neues Erleben im „strebenden Bemühen“ (Goethe). 

Damit der Zugang zur absoluten Wahrheit nicht verschüttet wird von den vielfältigen Anforderungen und Versuchungen der Alltagswelt, braucht es spezielle Zeiten, die nur ihr gewidmet sind. Darin liegt der Sinn der rituellen Praktiken, wie sie in den Religionsgemeinschaften gepflogen werden, und der meditativen Übungen, die in Gruppen oder alleine durchgeführt werden können. Der Sinn des Rückzugs aus der Umtriebigkeit liegt nicht im Verschwinden in einer Kontrastwelt, sondern in einer Stärkung für das Wieder-Zurückkommen und Mitmischen in der Geschäftigkeit. Damit wird in das relative Tun eine Note hineingewoben, ein Klang, der ihm einen tieferen Sinn verleiht, eine tiefere Verbundenheit mit allem, was geschieht. 

Eine Spiritualität, die sich hermetisch in sich selbst zurückzieht und den Kontakt zur Lebenswelt der "relativen" Menschen verliert, wird verarmen und vertrocknen. Sie wird keine Worte mehr finden, um sich mitzuteilen, und sie wird von den anderen Menschen ignoriert werden. So bleibt sie unfruchtbar für die Erfordernisse der Weiterentwicklung. Pflegt sie jedoch die Beziehung zu den verschiedenen Lebensformen der Menschen, sucht sie immer wieder den Austausch, dann kann sie Wertvolles beitragen zur Verbesserung der Qualität des Lebens in den Kreisen der Gesellschaft. 

Was hat der Buddha auf dem Marktplatz verloren? 



Er muss sein Gemüse und Obst einkaufen und mit dem Händler einen guten Preis aushandeln. Dazu muss er die Logiken der relativen Wahrheit kennen, um nicht als naiver Tor durch die Welt zu taumeln. Er braucht die Bereitschaft, immer weiter und immer Neues zu lernen, weil sich die relative Welt fortwährend weiter entwickelt. So lernt er im Gemüsehändler eine Facette des Menschseins kennen, die auch eine Facette von sich selbst ist. Ohne den Händler würde er sie nie in sich finden. Und er übt sich in einer Weise des Redens, wie sie nur mit dem Gemüsehändler möglich ist, eine Form des Austausches, in der sich seine Buddhanatur in ganz spezieller Weise nach außen hin zeigt.

Zugleich erkennt er in dem Weben und Streben des Marktplatzes eine tiefere Wahrheit über das Leben: dessen permanentes Entstehen und Vergehen. Das Erleben der Unbeständigkeit in allen relativen Belangen verbindet ihn mit dem absoluten Wissen. Nichts ist von Dauer, und nichts braucht deshalb festgehalten zu werden. Da alles in permanenter Veränderung ist, gilt es, sich immer wieder dem Fließen anzuvertrauen, statt ihm Widerstand entgegenzusetzen. 

Hier unterscheidet er sich vom Gemüsehändler, dessen Blick nicht über sein Gemüse hinausreicht. Sein Leben hängt ab von den Gemüsepreisen, von den Saisonen und der Kauflust der Kunden. Nur Teil der relativen Welt zu sein, bedeutet, ihrer Willkür ausgesetzt zu sein, wie ein Tischtennisball den Wellen des Meeres. 

Der Weise dagegen kann inmitten der Wellengänge des großen Ozeans des Lebens immer wieder zur Gelassenheit und Ruhe in sich selbst finden. Er wird damit zum Modell für ein Leben im Relativen und jenseits des Relativen, für ein Leben im Vertikalen wie im Horizontalen. 

Vielleicht macht sich der Gemüsehändler, inspiriert von seinem Buddha-Kunden, eines Tages auf den Weg, die tieferen Gesetzmäßigkeiten des Menschlichen zu erforschen und wird dann selber ein Buddha auf dem Marktplatz. 

Einfach in die Einheit von Absolutem und Relativem eintauchen 


Wer - wie jeder Mensch - des bewussten Atmens mächtig ist, weiß im Grunde, wie in jedem Augenblick das Mysterium der Verbindung von Absolutem und Relativem geschehen kann: Im Einatmen die Weite und Vielfalt der Welt, im Ausatmen die Einfachheit des In-die-innere-Weite-Fallens, und beides im jeweilig Anderen erkannt und gelebt werden kann. Der Atemvorgang wird vom vergänglichen Körper in Gang gehalten, vergänglich wie jeder Atemzug selbst, und der Atem lässt uns mehr und ganz anderes spüren, die Qualität des einfachen, zeitlosen Daseins. Mit dieser Einfachheit können wir beginnen, Relatives und Absolutes als Eines zu erfahren, und immer wieder können wir in sie eintauchen. 

Vgl. Die zwei Wahrheiten, Die zwei Wahrheiten und das Ego, Die zwei Wahrheiten und die Religionen, Die zwei Wahrheiten und die Sprache

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