Montag, 21. Dezember 2020

Vom Sinn und Unsinn des Zweifelns

Ein Zweifel macht alles vielleichter.

Der Zweifel dient eigentlich der Unterscheidungskraft zwischen richtig und falsch. Der erste Augenschein, der uns von einem neuen Außeneindruck erreicht, kann überzeugend wirken, muss aber nicht stimmen. Unser Gehirn schätzt neue Situationen sofort ein und ordnet sie bestimmten Kategorien zu. So teilen wir Mitmenschen, denen wir erstmals begegnen, in Sekundenbruchteilen danach ein, ob sie gefährlich oder harmlos, sympathisch oder unsympathisch sind. Dieser erste Eindruck ist fehleranfällig, und im Zweifeln wird diese erste Einschätzung anhand von weiteren Erfahrungen überprüft.

Der Zweifel dient also zunächst als Warnsignal: Etwas könnte nicht stimmen, etwas könnte faul sein im Staate Dänemark. Es äußert sich ein Widerspruch gegen die inneren Annahmen, ein Widerstand gegen etwas, das zunächst für selbstverständlich genommen wurde. Damit startet ein Prozess der Neubewertung und Überprüfung.

Das notorische Zweifeln

Die Fähigkeit zum Zweifeln ist ein wichtiges Gegenmittel gegen die Naivität und die Impulsivität, die uns immer wieder in die Irre führen. Das Zweifeln kann aber zu einer störenden Gewohnheit werden, wenn es sich verselbständigt. Das Zweifeln wird notorisch, verbindet sich mit dem Grübeln, neigt zur Depression und wird, wenn ihm kein Einhalt geboten wird, irgendwann in einer Verzweiflung münden.

Zweifel entstehen unabhängig von der zur Verfügung stehenden Information: Sie können entstehen, wenn zu wenig Informationen vorhanden sind („Ich weiß nicht, was richtig ist, weil ich nicht genug darüber weiß”), aber auch wenn es ein Übermaß an Informationen gibt („Trotz all der Sachen, die ich darüber gelesen habe, weiß ich nicht, ob es wirklich stimmt.”) Das Ausmaß des Zweifelns hängt vor allem davon ab, wie ausgeprägt die Neigung zum Zweifeln ist, wie sehr also die kognitive Überprüfung der Wirklichkeitserfahrung für notwendig erachtet wird.

Notorische Zweifler sind Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, emotionale Unklarheiten, Verletzungen und Beschämungen mit dem Denken zu bewältigen. Innerlich stark verunsichert, haben sie ein feines Gespür für Unstimmigkeiten und Irritationen und können deshalb nur wenig für selbstverständlich halten. So kommt es, dass sie Neues, das auftaucht, zuerst nach allen Seiten abwägen und bewerten müssen, bis sie sich darauf einlassen können. Ihre Spontaneität ist durch die Notwendigkeit der kognitiven Prüfung unterbrochen. Sie bewältigen Unsicherheiten, indem sie möglichst alle Für und Wider der Phänomene untersuchen.

Sie sind getrieben von der Angst, etwas falsch zu bewerten oder zu machen. Lieber zweifeln sie lange und ausgiebig als dass sie möglicherweise einen Fehler oder eine Fehleinschätzung begehen. Hinter dem Zweifeln steckt also ein hoher Perfektionsanspruch an sich selbst (und auch die anderen, die vom Zweifler oft wegen ihrer Ansichten und Entscheidungen getadelt werden). 

Vom Zweifeln zum Zaudern 

Wir brauchen für die Orientierung in den Komplexitäten des Lebens ein gutes Maß an gesunder Skepsis. Diese kann allerdings ungesund werden, wenn sich das Zweifeln als Abwehr gegen jede Form der Veränderung aufspielt. Zweifel, der sich als Automatismus im Gehirn festsetzt, unterstützt die Unbeweglichkeit im Denken und führt leicht zu kognitiven Kreisprozessen: Soll ich, soll ich nicht. Nehme ich die Alternative A oder B? Selbst wenn die Blütenblätter beim Gänseblümchen gerupft werden und das letzte Blättchen die Entscheidung festlegt, kann der Zweifel bleiben, ob die Entscheidung richtig ist. 

Alltagsdinge sind relativ, ebenso unsere Einschätzung über sie. Was sich in einem Moment für richtig anfühlt, kann im nächsten falsch oder unpassend erscheinen. Deshalb ist das Denken in der Lage, an jeder Entscheidung Zweifel anmelden. Zweifeln wir jedoch alles und jedes an, gibt es nichts Selbstverständliches mehr und wir kommen vor lauter Fragen nicht mehr zum Tun. Wir verzweifeln an der Bedeutungskomplexität der Wirklichkeit. 

Das Zweifeln wird zum Zaudern, das nichts anderes ist als der Zweifel auf der Ebene des Handelns. Vor lauter unvollkommenen Möglichkeiten können wir keine sicheren Entscheidungen treffen und müssen zuwarten, bis sich mehr Sicherheit einstellt, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen usw. Beim Zauderer dauert die Entscheidungsphase oft so lange, bis die Entscheidung nicht mehr relevant ist.

Das isolierende Denken

Der Zweifel spielt sich im Denken ab und macht uns auf eine Denkstruktur aufmerksam: Das Denken isoliert Details aus der Ganzheit der Wahrnehmung und verallgemeinert sie. Die Idee dabei ist, auf diese Weise Macht und Herrschaft über die Wirklichkeit ausüben zu können. Allerdings handelt es sich um eine Illusion, denn tatsächlich verstärkt und steigert das zweifelnde Denken die Unsicherheit. Denn isolierte Einzelheiten enthalten keinen Sinn und können deshalb nicht als Orientierungs- und Entscheidungshilfe dienen.

Das Denken trennt, was zusammengehört und im Fluss ist, es hackt gewissermaßen einzelne Elemente aus diesem Fluss heraus und bläst sie in ihrer Bedeutung auf. Alles, was durch das isolierende Denken alleine dasteht, erscheint als starr und unveränderbar. Der Zweifel springt gewissermaßen von einem abgesonderten und fixierten Detail zum nächsten und kann nirgends einen sicheren Grund finden. 

Damit entfernt sich das zweifelnde Denken von der Wirklichkeit, die sich beständig verändert und keine absoluten Bedeutungen kennt. Es spinnt sich in sich selbst ein und läuft einer Sicherheit nach, die es nicht finden kann. Denn diese gibt es nur im Einlassen und Vertrauen auf den beständigen Wandel, der die Wirklichkeit kennzeichnet.

Die Beruhigung des Zweifels

Der notorische Zweifel findet erst zur Beruhigung, wenn die Beziehung zur Realität über das Wahrnehmen und Handeln aufgenommen wird. Jede Wahrnehmung enthält eine Wahrheit, die zunächst zweifelsfrei gilt. Jede Handlung verändert die Realität auf unverwechselbare und zweifellose Weise. Es braucht ein Pendeln zwischen dem Denken und dem Realitätskontakt, damit das eigene Leben konstruktiv mit dem Leben als Ganzem interagieren kann. Der Zweifel bekommt seinen nützlichen brauchbaren Stellenwert, wenn die innere Sicherheit auf der Wirklichkeitserfahrung beruht und das Denken dafür nur einen Zulieferdienst erfüllt.

Die Realität ist voll von Risiken, die das Denken nur abschätzen, aber nicht verhindern kann. Zugleich verhilft jedes Risiko zu mehr Realität und Erfahrung und damit zu mehr Lebendigkeit. 

Zum Weiterlesen:
Vom Sinn und Unsinn des Zweifels

Der notorische Selbstzweifel



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