Vielleicht werden in diesen Zeiten so viele Standpunkte ausgetauscht wie noch nie zuvor und dabei so wenig diskutiert wie nie zuvor. Zeiten der Herausforderung und Unsicherheit erzeugen ein Bedürfnis danach, Stellung zu beziehen und diese zu behaupten. Jedenfalls endet das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Meinungen häufig sehr schnell mit einem schnippischen Statement: „Du hast deine Wahrheit, ich habe meine Wahrheit. Punkt.“
So bleiben nicht wenige Meinungsverschiedenheiten im leeren Raum einer scheinbar systemischen Haltung stecken: Jeder lebt in seiner Welt und entwickelt ihr entsprechend seine Wahrheiten. Jede Wahrheit ist von außen betrachtet relativ und subjektiv betrachtet absolut. Man kann zwar diese Wahrheiten vergleichen, dabei aber nie feststellen, welche Vorteile gegenüber der anderen hat, welche näher der Wirklichkeit ist usw., weil das eine übergeordnete Wahrheit voraussetzen würde, die wiederum nur auf subjektiven Festlegungen beruht.
Die Wahrheitsinseln
Es wirkt so, als lebte jeder auf seiner kleinen Wahrheitsinsel, ohne dass der Austausch und die Verbindung mit den anderen Wahrheitsinselchen Sinn machen würde. Denn jeder Austausch zeigt aufs Neue, dass es keine Gemeinsamkeiten gibt, sondern nur unterschiedliche Perspektiven, die für sich jeweils eine absolute Geltung beanspruchen.
Im Feststellen der eigenen Wahrheit in Abgrenzung zu anderen Wahrheiten steckt auch ein trotziges Behaupten: Ich halte an meiner Wahrheit fest, ich klammere mich an sie, als wäre sie ein Rettungsring, von dem mein Überleben abhängt. Ich höre den anderen mit ihrer Wahrheit nur mit halbem Ohr zu, weil sie für mich nicht relevant ist und ich von ihr nichts lernen kann.
Wenn es mir nicht gelingt, die anderen auf meine Insel zu zerren, muss ich sie in ihrer Wahrheit lassen, die ich zwar als minderwertig und unterentwickelt empfinde, aber nicht ändern kann. Die anderen sollen eben dumm sterben, wenn sie so stur auf ihrer Unvollkommenheit beharren.
Resignation und Angst
Das ist der resignative Anteil an der Theorie der abgegrenzten Wahrheiten. Entweder übernehmen die anderen die eigene Sichtweise oder sie lassen sie. All die Arbeit, die mit Argumentation, Zuhören, Abgleichen, Unterscheiden, Reflektieren verbunden ist, also all die Mühen der Debatte und des Wettstreits der Gedanken wird erspart und durch ein stumpfes Behaupten ersetzt. An die Stelle von kommunikativen Auseinandersetzungen mit ungewissem Ausgang tritt das schulterzuckende Abwenden vom ungläubigen oder skeptischen Gegenüber, mit dem sich ein Wortwechsel nicht lohnt.
Die Angst vor dem Verlust von Sicherheiten führt im Hintergrund die Regie. Was, wenn sich herausstellte, dass die eigene Überzeugung auf Sand gebaut ist – welcher Teil der eigenen Identität steht da auf dem Spiel? Da bleibt man auf der sicheren Seite, wenn man die eigene Sichtweise keiner Anfechtung aussetzt und damit sich selbst nicht in Frage stellen muss. In Frage gestellt wird die andere Person mit ihrer abweichenden oder abwegigen Meinung, und die Selbstaufwertung lebt, wie so oft, von der Fremdabwertung.
Die Lust am Diskutieren scheint zunehmend abhanden zu kommen. Jeder hat seine Quellen, auf die er schwört und die selber nicht infrage gestellt werden, und betet nach, was von dort sprudelt. Wenn jemand die eigene Quelle nicht anerkennt, ist er ein Ignorant.
Die Verkrustung der Demokratie
Die Verweigerung des Diskurses ist eine politische Angelegenheit. Denn sie beinhaltet eine Absage an die Demokratie. Deshalb ist diese Haltung nicht nur eine überhebliche und bequeme Form, sich mit den Ängsten, die hinter dem trotzigen Behaupten von Wahrheiten stecken, auseinanderzusetzen. Sie sägt zusätzlich an den Fundamenten der Demokratie, die ja nicht in sporadisch stattfindenden Wahlen und Verlautbarungen der einzelnen Parteien im Parlament bestehen sollte, sondern ihre Berechtigung und ihre robuste Gestaltungskraft aus den Diskursen der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen über die Themen des Gemeinwohls bezieht. Es geht um die Willensbildung, die entweder in einem geteilten gemeinsamen Prozess erfolgt, der auf einer lebendigen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Meinungen im Rahmen von Achtung und Wertschätzung stattfindet, oder im obrigkeitlich gelenkten Abfragen von Standpunkten durch Wahlen, Abstimmungen oder Befragungen besteht. Im einen Fall entwickelt sich ein dynamisches Kräfte- und Machtverhältnis, an dem die mündigen Staatsbürger gestaltend teilnehmen, im anderen zeitlich begrenzte halbdiktatorische Herrschaftssysteme mit abnickenden „Volksvertretern“ und einem entpolitisierten Volk, das nichts zu sagen hat.
Die Debattenkultur, die das Um und Auf einer teilhabenden Demokratie darstellt, erfordert eine reife Einstellung zum Diskurs. Sie enthält die Bereitschaft, die eigenen Standpunkte einer Überprüfung und Infragestellung im Austausch auszusetzen. Eigene Meinungen bleiben solange Meinungen, als sie sich nicht in der Debatte bewährt haben. Von Wahrheiten brauchen wir da lange noch nicht zu sprechen. Unter dieser Prämisse fällt es leichter, die eigenen Standpunkte zu revidieren, falls sie sich als unzureichend erweisen. Sie gehören nicht zur eigenen Identität, sondern sind nichts als vorläufige Modelle der Wirklichkeit, die laufend verändert und verbessert werden können und müssen, um nicht in Dogmen zu erstarren. Mit dieser Einstellung können wir angstfrei in jeden Diskurs eintreten, müssen nicht für oder gegen andere Meinungen kämpfen und erfreuen uns an der Lebendigkeit des Meinungsaustauschens.
Menschen sind unterschiedlich, und diese Unterschiede im kommunikativen Austausch zu nutzen, ist eine wichtige Quelle für Kreativität. Kreativität brauchen wir für alles, was den Menschen Probleme bereitet und worüber sie sich beschweren. Verhärtete Standpunkte, Argumentationsverweigerungen, faktenloses Behaupten, bequemes Nachplappern ohne Prüfung usw. tragen dazu bei, dass diese Quelle ungenutzt bleibt. Damit entstehen Gräben und Mauern in der gesellschaftlichen Landschaft, die Starrheit statt Beweglichkeit bewirken. Fixierte Problemstandpunkte kennen oft nur fixierte Lösungsideen, die so weit von der Wirklichkeit entfernt sind, dass ihre Umsetzung illusorisch erscheint.
Die Rede, die aus dem Hören kommt
Wie oft und zu Recht gesagt wird, geht es um das Erlernen und Erweitern des Zuhörens. Das, was wir zu sagen haben, bezieht sich dann auf das Gehörte, und auf diese Weise entsteht ein Fließen der Kommunikation, in dem Neues wachsen kann, das über die Gesprächspartner hinaus von Bedeutung ist und damit einen Beitrag für ein verbessertes Zusammenleben darstellt. Wir brauchen uns also nur von der Überheblichkeit der Besserwisserei zu verabschieden, um das Potenzial gelungener Kommunikation freizulegen. Die Wahrheit gehört niemandem, wir können sie nur gemeinsam suchen, bruchstückhaft finden und weiterentwickeln.
Zum Weiterlesen:
Hat die Vernunft eine Zukunft?
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