Sonntag, 6. Dezember 2020

Anklagen gegen das Kind und die Folgen

Eine klassische Methode der schwarzen Pädagogik besteht in folgenden Anklagen einer Elternperson gegen das Kind: „Du machst mir solche Sorgen (…Ängste, Wutgefühle), du bereitest mir solche Schmerzen und machst mich so traurig, verzweifelt, hilf- und ratlos.“ Oder: „Für dich muss ich mich so schämen.“ Die Du-Botschaft weist dem Kind etwas Schlimmes zu, das es dem Elternteil antut. Das Kind hat sich nicht durch eine falsche Handlung schuldig gemacht, sondern dadurch, dass es existiert. 

Die Eltern haben die Deutungsmacht, und deshalb müssen die Kinder bei einem derartigen Vorwurf annehmen, dass an ihnen etwas Grundlegendes falsch und makelhaft ist. In der Reaktion darauf werden sie vielen Gefühlen ausgesetzt sein: Angst, Verwirrung, Hilflosigkeit, Verzweiflung, und unweigerlich ist eine tiefe Scham mit dabei. 

Verdrehung und Verwechslung

Solche Sätze drehen die Beziehung zwischen Eltern und Kind um. Dem Kind wird die Verantwortung für die Gefühle der Elternperson aufgebürdet, so, als wäre es zuständig für deren Lebensglück. Das Kind kommt in eine Täterrolle, ohne zu wissen wie, und steht seinem Opfer, dem anklagend-klagenden Elternteil, ohnmächtig gegenüber. 

Eine massive Last, stets für das Wohlbefinden der Eltern sorgen zu müssen, wird auf seine Schultern geladen, bleibt dort oft ein Leben lang und manifestiert sich irgendwann später als unerklärliche Schulter- und Nackenschmerzen oder in anderer Form einer körperlich-seelischen Krankheit. Im Inneren des Erwachsengewordenen schwelt ein lebenslanges schlechtes Gewissen, zu wenig für die Eltern da zu sein und so viel schuldig zu bleiben. Die eingetrichterte Botschaft verhindert die Abnabelung und befestigt eine dauerhafte Abhängigkeit mit einer Verantwortung, die nie abgetragen werden kann. Das eigene Lebensglück muss dem der Eltern untergeordnet bleiben, sonst wird man es nie schaffen, ein guter Mensch zu werden, so lautet der selbstzerstörerische Glaubenssatz.

Wie kommen Eltern auf die Idee, ihren Kindern derartige Lasten aufzuerlegen? Das Kinderkriegen und -großziehen ist eine Belastung, es ist nicht immer ein Honiglecken und enthält neben vielen erfüllenden Momenten schwere Phasen und Zeiten. Das ist seit alters her bekannt. Dennoch bekommen Eltern Kinder „wider besseres Wissen“, weil sie bereit sind, die Herausforderungen auf sich zu nehmen und mit der Freude ausgleichen, die Kinder durch ihr bloßes Dasein schenken. 

Wenn aber Eltern aber diese „Rechnung“ als nicht ausgeglichen wahrnehmen, sondern sich ausgebeutet oder ausgenutzt vorkommen, ist es wahrscheinlich, dass sie offene Rechnungen aus der eigenen Kindrolle ins Elternsein übernommen haben. Die Folge sind Verwerfungen und Verkehrungen in der Eltern-Kind-Beziehung. Nicht die Eltern sollen für das Glück der Kinder Sorge tragen, bis es sich selbst darum kümmern kann, sondern umgekehrt sollen die Kleinen für die Großen und deren Leben verantwortlich sein. Sie sollen ausgleichen, was den Eltern deren Eltern schuldig blieben. Wenn sie das nicht in ausreichendem Maß machen, müssen sie dafür kritisiert und beschämt werden; in jedem Fall muss ihnen ein schlechtes Gewissen eingeimpft werden.

Die Abgabe der Verantwortung für das eigene Schicksal, zu dem das Kinderkriegen gehört, an die Kinder ist eine Form des emotionalen Missbrauchs. Die abhängige Position der Kinder wird ausgenutzt, um sie für die offenen Bedürfnisse, die aus der eigenen mangelhaften Kindheit resultieren, in die Pflicht zu nehmen. Damit wird die Abhängigkeit zementiert und dem Erwachsenwerden ein mächtiges Hindernis in den Weg gestellt.

Eine unangemessene emotionale Macht

Die Kinder erhalten eine emotionale Macht zugeteilt, die sie nie und nimmer tragen können. „Du machst mir solche Sorgen“ statt: „Ich mache mir solche Sorgen“ bedeutet, dass das Kind die Macht hat, das Leben ihrer Mutter oder ihres Vaters einzunehmen und zu belasten. Es bekommt eine riesengroße Bedeutung für deren Leben, die ihm nicht zusteht und der es auch nicht gerecht werden kann. 

Die Folge ist ein zugleich aufgeblähtes und gebrochenes Ego, eine überdimensionale Selbstüberschätzung beim Kind, gepaart mit dem Bewusstsein der eigenen Unfähigkeit und Unzulänglichkeit, dieser Forderung jemals zu entsprechen. Denn die elterliche Botschaft lautet, dass an ihm etwas grundsätzlich Fehlerhaftes ist, das Sorgen oder andere belastende Gefühle erzeugt. 

Schambeladene Doppelbotschaft

Die Folge ist die Scham für das eigene Dasein, für das eigene Sosein, und in diese Scham sind die entsprechenden Sorgen mit eingeschlossen: „Ich sollte ganz anders sein und dafür sorgen, dass sich die Eltern nie wieder um mich sorgen müssen. Dafür, dass ich diese Sorgen bereite, muss ich mich schämen. Aber woher soll ich diese Fähigkeit nehmen, so mangelhaft, wie ich bin? Auch dafür muss ich mich schämen.“

Die Doppelbotschaft, die den Kleinen einerseits eine unermessliche Macht zuspricht und sie andererseits aberkennt, wirkt auf sie lähmend, schwächend, verwirrend. Das Kind, das diese doppelte Last aufgeladen bekommt, verliert die Orientierung für die Richtung, in die seine Liebe fließen soll, sodass sie auch nach innen nicht mehr stärken kann und irgendwo im Pendeln zwischen Innen und Außen hoffnungslos versiegt. Es bleibt in seiner Hilflosigkeit in der Rolle des Kindes, ohne je zu erfahren, wie das Erwachsensein gelebt werden könnte.

Eltern, die die Wunden ihrer Kindheit nicht integriert haben, bleiben innerlich verletzte Kinder und tun sich deshalb schwer, ihre Kinder erwachsen werden zu lassen. Sie wissen nicht, was das bedeutet und wie es bewerkstelligt werden könnte. Erwachsensein heißt, die Verantwortung für das eigene Leben voll und ganz zu tragen. Dazu gehört, sich am Erwachsenwerden und Erwachsensein der Kinder zu erfreuen, das aus dem bedingungslosen, von Liebe getragenen Geben der Eltern gewachsen ist.

Zum Weiterlesen:
Die Seelen- und die Planetenzerstörung
Kinder in der Täterrolle


2 Kommentare:

  1. So könnten wir diese Bewandnis auch dahin übertragen, wie es die "Erwachsenen" nun, mit der Abschiebung ihrer Selbstverantwortung, in Richtung "etwas wird mich retten" anwenden. Die Unfähigkeit zu erkennen, wann das Mittel von Schuldzuweiung angewendet wird, durch welche die Unfähigkeit für Liebe, im Sinne von Gleichwertigkeit zu verdecken.

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  2. Es trifft genau den seit Kindheit entzündeten Nerv. Genauso trug es sich mein Leben lang zu. Nun ist mein 85jähriger Vater auf dem Weg in die Demenz und ich erreiche ihn mit dieser, auf den Punkt gekommenen Erklärung, fast nicht mehr... In jedem Fall ein Dankeschön an den Autor,da es auch sehr hilfreich ist bei Aufarbeitung...

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