Samstag, 30. September 2017

Hat die Vernunft eine Zukunft?

Wir leben in einer ins Unermessliche wachsenden Informationswelt und sehen uns der Überfülle an Wissen und Meinungen ausgesetzt, sodass wir nichts mehr wie Orientierung und Ordnungsgesichtspunkte brauchen, um uns nicht zu verlieren. Verschiedene Deutungsmächte, die um die Vorherrschaft buhlen, bietet ihre Dienste an, zumeist nicht uneigennützig.

In gewisser Weise erinnert die Situation an das Szenario des europäischen Mittelalters, in dem es das Meinungsmonopol der Kirche gab, die alles, was sich an abweichenden Gedanken am Rande rührte, mit aller Macht unterdrückte. Die Aufklärung machte Schluss mit diesem Machtmonopol und propagierte die Glaubens- und Meinungsfreiheit. Die Wissenschaften etablierten sich statt der Religion als oberste Instanzen der Wirklichkeitsdeutung, auf der Grundlage von nachvollziehbaren und kommunizierbaren Wegen der Erkenntnisgewinnung. Der Anspruch der Wissenschaften, objektives Wissen über die Wirklichkeit anbieten zu können, bot Sicherheit angesichts der schwindenden Deutungsmacht der religiösen Instanzen. Unterstützt wurde dieser Erfolg der Wissenschaften durch die Technik, die ihre Einsichten in alle Arten von Maschinen umsetzte, die in vielen Belangen das Leben der Menschen erleichtern. Die Wissenschaften bieten gültiges Wissen an, weil sie die Erzeugung brauchbare Güter ermöglichen.

Das ist das Credo der Moderne: Wir brauchen uns nur auf die Wissenschaften zu verlassen, dann kann es nur besser und besser werden. So unterschiedliche Geister wie Karl Marx und Auguste Comte waren sich einig im Vertrauen auf die Wissenschaften.

Inzwischen haben allerdings auch die Wissenschaften an Vertrauen verloren, so wie die Moderne insgesamt. Die Ambivalenz der technologischen Entwicklung hat zur Entstehung neuer Ängste beigetragen. Dort, wo uns das Leben leichter gemacht wird, richten wir ungeahnte Schäden an. Wir freuen uns über die Bewegungsfreiheit durch Autos und Flugzeuge, merken aber mehr und mehr, wie der Einfluss auf das Klima, das wir durch die Nutzung dieser Fortbewegungsformen herbeiführen, unsere Lebensqualität bedrohen kann. Durch die Technisierung der Landwirtschaft haben wir mehr als genug zu essen und haben dennoch den Eindruck, dass wir mehr Gifte als gesunde Nährstoffe zu uns nehmen. Offenbar halten sich Gewinne und Verluste in Hinblick auf die technischen Errungenschaften die Waage, oder, je nach Betrachtungsweise, wird gar alles in Summe schlechter und schlechter, je mehr wir den Weg der Technisierung unseres Lebens gehen.

Die Ernüchterung über die furchterregenden Kehrseiten des technischen Fortschritts hat auch zur Relativierung der wissenschaftlichen Autorität geführt. Es ist längst nicht mehr peinlich, wenn Leute ohne wissenschaftliche Ausbildung und Forschungspraxis die Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien in Bausch und Bogen ablehnen und gegen andere Forschungen ausspielen, die der eigenen Ideologie entsprechen. Durch die Allverfügbarkeit von Information gelingt es leicht, Unseriöses als seriös darzustellen, sorgfältige und integre wissenschaftliche Arbeiten zu diskreditieren, indem gegenläufige Ansichten als wissenschaftlich ausgegeben werden, oft ohne, dass Quellen genannt werden, und wenn, dass sich diese Quellen als unwissenschaftlich herausstellen. Nur macht sich selten jemand die Mühe, den Hintergrund von Behauptungen auszuleuchten, und wir sind im postfaktischen „Zeitalter“ gelandet, in dem Fakt und Fiktion ununterscheidbar geworden sind.


Verlust der rationalen Öffentlichkeit


Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, der seit dem Erscheinen des Buches von Jürgen Habermas im Jahr 1962 dramatische Wendungen vollzogen hat. Es scheint, dass sich im Gegenzug zur Allverbreitung von Information die Deutungsräume sukzessive verengt und fragmentiert haben. Während nahezu das gesamte Wissen der Menschheit allgemein zugänglich ist (vorausgesetzt es gibt einen Internet-Zugang), werden die Foren für die Auswahl und Interpretation der Informationsfülle immer kleinräumiger.

In einem lesenswerten Interview sagt der Philosoph Achill Mbembe: „An die Stelle der Öffentlichkeiten sind mittlerweile Binnengemeinden getreten, Empörungsgemeinschaften von Menschen, die genau dasselbe fühlen und denken; Argumente, rationales Für und Wider, Abwägen dergleichen, das alles verschwindet und wird preisgegeben zugunsten von Gefühlsräumen, wo wir alle nur das suchen, was wir alle ohnehin schon kennen.“

Wenn dieser Befund zutrifft, erfolgt die Verwaltung und Steuerung der öffentlichen Meinung dann konsequenterweise über die Erzeugung von Gefühlsfeldern, über die die überforderten Individuen und Kleingruppen unterhalb der kognitiven Schwelle erreicht werden. Auf dieser Ebene können die fingierten Fakten so eingestreut werden, dass sie bestehende Ängste und Vorurteile verstärken und stereotype Lösungen suggerieren. Die Gefühlsblasen von Gleichgesinnten, die sich auf der Ebene von unbewussten Ängsten zusammenfinden, bräuchten als Korrektiv rationale Diskurse, in denen das Abwägen und Vergleichen von Argumenten stattfindet und eine offene und tolerante Gesprächskultur herrscht. Solche Austauschprozesse können zeigen, dass unterschiedliche Einschätzungen und Meinungen nebeneinander stehen können, ohne dass Brücken abgebrochen werden müssen, dass es vielmehr Überschneidungen gibt, dass gemeinsame Interessen identifiziert und unterschiedliche Bewertungen stehen gelassen werden können.


Die Weiterführung der Aufklärung ist für die Menschheit überlebenswichtig


Gelänge es, die Gefühlslagen, die in den diversen emotionalisierten Meinungsräumen entstanden sind, in die Rationalität von diskursiven Öffentlichkeiten einzubringen, könnte die Demokratie zu neuer Blüte gelangen. Denn die Menschen, die sich offensichtlich in unterschiedlicher Weise emotional instrumentalisieren lassen, sind nicht dumm oder borniert; sie haben nur das Vertrauen verloren (oder nie gehabt), dass rationale Gespräche in einer wertschätzenden Atmosphäre dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen, und zwar einem Fortschritt, der alle Teilhaber an der Gesellschaft mitberücksichtigt und deren Gefühlslage miteinschließt.

Ein solcher Fortschritt kann allerdings nicht aufgrund von Gefühlspolitik erreicht werden, wie des bisherige Scheitern der Trump-Administration in fast allen Belangen eindrucksvoll belegt. Nur auf rationaler Ebene wird einsichtig, dass aus unterschiedlichen Interessenslagen (die aus unterschiedlichen Gefühlsprioritäten entstehen), gemeinsame Lösungswege entwickelt werden können. Erst, wenn die Mühen des Dialogs und des Interessens- und Werteaustausches in einer konstruktiven Weise stattgefunden haben, zeigt sich dann die Rückwirkung auf die Gefühlswelten, in denen ein tieferes Vertrauen in das Ganze einer Gesellschaft wachsen kann, das mit jeder Isolation von voreinander abgeschotteten und sich permanent selbst bestätigenden Hassinseln unweigerlich ausgedünnt wird.

Nur die Weiterführung des Projekts der Aufklärung, die Menschheit durch gemeinsame Vernunftarbeit zu einer vertrauensstärkenden und gerechten Willensbildung zu motivieren, wirkt als Gegenmittel zur Entmachtung der Vernunft, die eine Selbstentmachtung der Menschheit darstellt. Haben wir den Mut, immer wieder zu argumentieren, wo nur Gefühle sind, und Gefühle anzusprechen, wo nur rational argumentiert wird, und dies in einer Atmosphäre der Offenheit und des Respekts.

Dort, wo rationale, mit emotionaler Kompetenz geführt Diskurse die Menschen zusammenführen, halten die Wissenschaften ihren gebührenden Rang als unbestechliche und uneigennützige Ergründer der Wirklichkeit. Die Selbstkontrolle und Selbstkritik, die innerhalb der Wissenschaften etabliert ist, bedient sich der gleichen Grundsätze wie sie im gesellschaftlichen Diskurs notwendig sind. Das Vertrauen in die Wissenschaften kann allerdings nur dadurch wieder hergestellt werden, dass die Anwendungen wissenschaftlicher Forschungen im Sinn ihrer technischen Umsetzungen vom gesellschaftlichen Diskurs überwacht und kontrolliert werden müssen.

Die theoretische Vernunft, auf die sich die Wissenschaften stützen, kann den Stellenwert ihrer Wirklichkeitserkenntnis nur von einem funktionierenden sozialen Diskurs erhalten; die soziale Willensbildung kann allerdings ihrerseits nur mit dem Rückhalt der von den Wissenschaften gewährleisteten Qualität an Wissen zukunftsträchtige und sozial gerechte Regelungen aufstellen.

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