Sonntag, 13. Dezember 2020

Die Beschönigung von Gewalt in der Erziehung

 Aus der schicksalshaften Verknüpfung zwischen Eltern und Kindern stammt ein Satz, der häufig zu hören ist, wenn Erwachsene über schlimme Kindheitserfahrungen, z.B. körperliche Strafen, reden und sagen: „Es hat mir ja nicht geschadet.“ 

Im Alten Testament heißt es in dem berüchtigten Zitat: „Wer seiner Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.“ Interessant dabei ist auch, dass es die Söhne sind, die die Liebe durch die Züchtigung spüren sollten – in die männlichen Nachkommen soll der Same der Gewalt eingepflanzt werden, indem sie der Wut der Älteren physisch ausgesetzt werden und später ihre Wut durch körperliche Gewalt zum Ausdruck bringen. Es geht also um einen Motor der patriarchalen Machtdynamik.

Die Wurzeln der Gewaltpädagogik liegen weit zurück in der Geschichte. Diese Mittel der Erziehung waren lange Zeit Standard und selbstverständliche Norm. Die körperliche Strafe („Wer nicht hören will, muss fühlen“, die „gesunde Watschn“) ist im Gefolge der Aufklärung in Verruf geraten und im Lauf der Zeit schrittweise aus den Strafrechtsbüchern in der westlichen Welt verbannt worden. Denn es wurde klar, dass die Grausamkeiten von Strafen die Täter nicht bessern und dazu nichts zur Verbrechensprävention beitragen, sondern das Ausmaß an Brutalität in einer Gesellschaft nur zusätzlich erhöhen. 

Auch in der Kindererziehung wurde vor allem in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg die Körperstrafe zunehmend verpönt und schließlich unter Strafe gestellt. Der Begriff der Kindesmisshandlung wurde auf sexuelle und emotionale Gewalthandlungen ausgeweitet, sodass klar ist, dass der Gesetzgeber jede Form von körperlicher Bestrafung bei Kindern unterbinden will. Im deutschen Grundgesetz gibt es das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung. 

Jede zugefügte körperliche Verletzung ist eine seelische Verletzung

Dennoch sind viele Menschen Opfer elterlicher Gewaltanwendung geworden und die „Rute“ ist noch lange nicht aus der Erziehung verschwunden. Wir sprechen hier nur von körperlicher Gewalt, also von physischen Verletzungen, die Kindern mit dem vermeintlichen Ziel der Erziehung zugefügt wurden. 

Jede physische, mit aggressiver Einstellung begleitete Verletzung ist zugleich eine seelische Verletzung. Kinder, die sich der überlegenen Kraft und Macht ihrer Eltern beugen müssen, erleiden eine Demütigung: Wer groß ist, hat die Macht, wer klein ist, muss sich fügen. Die einzige Chance, die Eigenmacht zu erwerben, besteht darin, groß und stark zu werden, um sich dann nie wieder verletzen lassen zu müssen. Im Extremfall auch dadurch, andere zu demütigen.

Der zugefügte Schmerz ist ein doppelter: Körperlich und seelisch. Der körperliche Schmerz vergeht, der seelische Schmerz bleibt. Wenn es keine Entschuldigung und kein Verständnis für den emotionalen Schmerz gibt, muss die Erfahrung verdrängt werden. Zumindest der seelische Schaden, der angerichtet wurde, verschwindet im Unterbewusstsein. Das Kind muss dann mit der Erfahrung leben, dass es missachtet und missbraucht wurde, aber mit dem Schmerz alleine bleiben muss oder dass es sogar für den Ausdruck des Schmerzes und Leids beschämt wird.

Eltern sind unvollkommen und fehlerhaft. Manchmal „rutscht einem die Hand aus“, wie es oft nachträglich verharmlosend gerechtfertigt wird. Das geschieht vor allem, wenn es Gewaltübergriffe in der eigenen Kindheit gegeben hat, die in einer Stresssituation durchschlagen. 

Gewalterfahrungen können passieren und sie sollten möglichst unmittelbar danach besprochen und entschuldigt werden. Es handelt sich um Überreaktionen, für die die Eltern die Verantwortung tragen. Es hilft nichts, wenn dem Kind gesagt wird: „Ich habe dir eine Ohrfeige gegeben, weil du dich daneben benommen hast.“ Wenn also dem Kind die Verantwortung als Auslöser des Übergriffs angelastet wird, geschieht keine Versöhnung, sondern eine Vertiefung der Wunde. Die Eltern müssen ihre Schuld, die aus ihrer Unbewusstheit stammt, eingestehen und dafür die Verantwortung tragen. Wenn das Kind dabei spüren kann, dass es trotz dem, was es gemacht hat, und trotz der Strafe geliebt wird, kommt es in Frieden mit der Erfahrung.

Die Rolle der Scham

Eine wichtige Komponente der Verletzung ist die Scham. Jede Bestrafung beschämt, weil sie auf ein sozialwidriges Handeln hinweist. Dazu kommt die Scham durch das Bestraftwerden, das im schlimmen Fall mit einer Bloßstellung und Demütigung verbunden ist. Und schließlich ist es beschämend, mit dem eigenen Schmerz und der Verletztheit alleine gelassen und ignoriert zu werden. 

Eine Kaskade der Scham entspinnt sich um jede körperliche Bestrafung. So ist es dieses vielschichte Gefühl, das schließlich die Überzeugung produziert, dass die Strafe keinen Schaden angerichtet habe. Das Verhalten der Eltern wird gerechtfertigt, oft auch noch mit dem Hinweis, dass ja jetzt die Beziehung zu den Eltern gut sei. Die Scham muss im Verborgenen bleiben – die Scham für die Bestrafung, aber auch die Scham, Eltern zu haben, die sich nicht anders zu helfen wissen als zuzuschlagen oder an den Ohren zu ziehen, wenn das Kind „ungezogen“ ist. 

Das Bündnis des Verschweigens

Es ist ein Bündnis des Verschweigens, das das Kind und seine Eltern aneinander bindet, geschmiedet von der Scham. Das Kind vergisst den Schmerz, für den es kein Verständnis bekommen hat oder noch schlimmer, für den es zusätzlich beschämt wurde. Es muss diese Erfahrung überleben und weiterhin mit den Eltern gut auskommen. Also ist es besser, die emotionale Erinnerung, den Schmerz und die Scham zu tilgen. Die Erfahrung selbst, die als Schock irgendwo im Körper steckenbleibt, kann nicht vergessen werden. Aber der Kontext wird verändert, vom Bösen zum Guten, von der Scham zur Beschönigung. 

Die Reinwaschung der Eltern hat das Überleben nach dem Schock der Bestrafung ermöglicht. Das ist die Funktion des Satzes, „dass es nicht geschadet hat“: „Ich habe trotz der Erfahrung von Grausamkeit überlebt, ich habe es geschafft, die lebenswichtige Beziehung zu den Eltern wieder aufzurichten und weitergehen zu lassen, so, als ob nichts passiert wäre. Ich habe die Scham tief in mir begraben, sodass sie heute die Beziehung zu meinen Eltern nicht überschattet.“

Menschen mit solchen Erfahrungen und solchen Bewältigungsstrategien finden sich oft im Leben unerklärlich starken Wutimpulsen ausgesetzt. Sie können diese Impulse nicht steuern und schämen sich nachträglich dafür. Sie können nicht wissen, dass es die ohnmächtige Wut auf die bestrafenden und beschämenden Eltern ist, die sich da Bahn bricht. Diese Wut konnte als Kind nicht ausgelebt und ausgedrückt werden, weil die elterliche Übermacht zu groß war und die Angst vor weiterer Bestrafung dem Zorn einen Riegel vorschob. Jetzt, als Erwachsener, in der Position der Macht, erlaubt sich die Wut, für die seinerzeit erlittene Demütigung Rache zu nehmen.

Brüche in der Autonomie 

Die Entwicklung der Autonomie erleidet durch die gewaltsamen Unterbrechungen der Handlungsketten und des damit verbundenen emotionalen Schocks veritable Brüche. Sie muss gewissermaßen nachgeholt werden, indem die Wut aus der damaligen Situation ausgelebt werden muss. Doch weil es keine Erinnerung darüber gibt, was der Sinn und der ursprüngliche Ort der Wut ist, muss sie sich immer wieder austoben, in einem Wiederholungszwang, der sich erst beruhigen kann, wenn die ursprüngliche Erfahrung mit ihren Schmerzen und ihrer Scham anerkannt und durchlebt wird. Im Annehmen dieser Gefühle erst wird der unterbrochene Aufbau der Autonomie nachgeholt.

Der erwachsene autonome Mensch braucht keine gewalttätige Wut, um seinen Unmut auszudrücken oder seine Bedürfnisse und Interessen durchzusetzen. Die Mittel der gewaltfreien Kommunikation reichen dafür aus. Das heißt nicht, dass es keine Wutgefühle mehr geben sollte, sondern dass sie nicht destruktiv ausgelebt werden müssen. Sie werden gespürt, in angemessener Form ausgedrückt und überwunden. Der erwachsene autonome Mensch braucht auch keine Beschönigung von beschämenden Erfahrungen, sondern gibt ihnen den Platz in der eigenen Lebensgeschichte, der ihnen gebührt, mit allen schlimmen Aspekten und mit den dazugehörigen unbewussten und bewussten Lernerfahrungen.

Zum Weiterlesen:
Die Wurzeln der Gewalt
Kinder in der Täterrolle


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