Frühe Erfahrungen als Opfer von Gewalt, die auch rein emotional sein kann, prägen einen Ablauf ein, der im späteren Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholt wird. Als Beispiel nehmen wir die emotionale Gewalt, die in der Anklage eines Elternteils stecken kann: Du hast mein Leben verpfuscht, wegen dir konnte ich mein Leben nicht leben, wie ich es wollte, wärest du nicht gekommen, hätte ich etwas aus meinem Leben machen können usw. Dem Kind wird eine massive Schuld auferlegt und eine massive Beschämung bereitet. Es reagiert zunächst mit einer inneren Erstarrung und Lähmung auf diesen Angriff, einem Totstellreflex, der die eigene Existenz, die so fehl am Platz ist, auslöschen möchte. Wenn sich die Schockstarre löst und die Kräfte wieder kommen, ist es die Gelegenheit für die Wut, an die Oberfläche zu kommen.
Diese Gelegenheit kann nur ergriffen werden, wenn die Ressourcen dafür ausgebildet sind und nicht schon derart ausgeleert wurden, dass die Energien zur Selbstverteidigung erschöpft sind. Die Wut nährt sich aus der Täter-Opfer-Dynamik: Die Elternperson, die die verdammende Anklage ausstößt, versetzt sich in die Opferrolle, obwohl sie dem Kind gegenüber zur Gewalttäterin wird. Das Kind bekommt die Rolle des Täters, ohne dass es mehr getan hätte als einfach nur zu existieren. Mit dieser Rolle erhält es eine Imprägnierung mit Macht, die nicht real ist, aber eine verhängnisvolle Symbolkraft enthält. Die Botschaft lautet: Du, kleines Wesen, bist durch dein Dasein so mächtig, dass du mein erwachsenes Leben des Sinns beraubst.
Diese zugeschriebene (vom Elternteil projizierte und vom Kind introjizierte) Macht gibt der Wut eine zerstörerische Richtung und nimmt zugleich die Gestalt einer anmaßenden Selbstüberschätzung an, aus der sich der Hass nährt und seine Objekte sucht. Die Logik der Projektion-Introjektion-Projektion ist ganz linear: Elternteil: Du hast mir durch deine Existenz Gewalt angetan. Kind: Ich bin der Gewalttäter. Ich kann nicht anders, weil ich dadurch, dass ich existiere, gewaltsam bin. Ich habe nur die Wahl, die Gewalt gegen mich selbst zu richten oder gegen andere. Den Hass, den ich erfahren habe, gebe ich jetzt nach außen weiter, in eine Welt hinein, die voll von Hass auf mich ist.
Die Projektion des Elternteils trifft das Kind voll, da es die Gefühlsabwehr dahinter nicht erkennen kann, sondern für eine berechtigte Wahrheit hält. Es kann dann nicht anders, als selber wieder zu projizieren und im Extremfall die gesamte Außenwelt für bedrohlich zu erklären, der mit Gewaltbereitschaft begegnet werden muss.
Die Rechtfertigung von Gewalt
Die unbewusste Rechtfertigung für die eigenen Gewaltfantasien oder Gewalthandlungen liegen in der erlittenen Gewalterfahrung, die in der massiven Ablehnung der eigenen Existenz enthalten ist. Die Gewalt besteht ja ursprünglich darin, dass dem Kind Gewalttätigkeit unterstellt wird. Zugeschriebene Gewalttätigkeit kann sich unter entsprechenden Bedingungen in gewalttätige Impulse verwandeln, die sich auf der unbewussten Ebene dadurch begründen, dass sie gewissermaßen von außen eingeflößt wurden, also gar nicht zu einem selber gehören. Sie entziehen sich damit der korrigierenden Wirkung des Gewissens.
Bei Fanatikern, die Terroranschläge verüben, liegt die Rechtfertigung meist in einer Ideologie. Der Fanatiker unterwirft sich dem religiösen oder politischen Konstrukt, weil es Gewalt verherrlicht und damit auch ihre Weitergabe, in dem Fall von den Eltern zu oft beliebigen Opfern. So wie gemäß den eigenen Kindheitserfahrungen Konflikte nur mit Gewalt überwunden werden konnten, scheint es auf gesellschaftlicher oder globaler Ebene auch nicht anders zu gehen. Häufig gibt es in diesen Ideologien den Verweis darauf, dass von den Gegner der Ideologie Gewalt verübt wurde und wird und dass deshalb nur Gegengewalt zu einer Verbesserung führen kann. Die Gewaltspirale geht weiter, aber Individuen fallen nur dann auf diese primitiven Konzepte herein, wenn sie früher Gewalt imprägniert sind.
Die Urscham und die Gewalt
Die Urscham, an der Wurzel der eigenen Existenz in Zweifel gestellt zu werden, wird bei jeder Form der Bezweiflung der eigenen Existenz aktiviert. Sie kann nach innen gerichtet schwere Depressionen bis zum Suizid auslösen und sich nach außen gerichtet in Gewalthandlungen Ausdruck verschaffen.
Das oft irritierende Bild des reuelosen Täters wird aus dem Verständnis dieser inneren Dynamik nachvollziehbar. Wie sollte jemand, in dessen Selbstbild die Gewalttätigkeit eingebaut wurde, anders sein als gewalttätig? Aus dem übertragenen Selbstbild wird ein Selbstverständnis. Es wäre, als würde das eigene Wesen verleugnet, wenn die Gewalttätigkeit ausbleibt. Natürlich geht es dabei nicht um das Wesen im tiefsten Sinn der Menschlichkeit, sondern um eine Abwehrschicht, die aufgebaut wurde, um vor der Scham und dem Schmerz der erlittenen gewaltsamen Ablehnung zu schützen. Auf der Ebene der Abwehr und der aus ihr abgeleiteten Überlebensstrategie ist die nach außen orientierte Zerstörung ein folgerichtiges Handeln, das keiner ethischen Bewertung unterliegt, weil es unter subjektiven Extrembedingungen stattfindet. Ethik gelte dann nur für Menschen, die sich den Luxus einer an der Basis abgesicherten Existenz erfreuen können.
Die Dynamik verstehen
Das Verständnis dieser Dynamik ermöglicht einen geänderten Blick auf die Gewalttäter, denen wir gerne mit Verachtung und moralischer Verdammung begegnen. Es gibt keine ethische Rechtfertigung für Gewalttaten, sie müssen verurteilt und bestraft werden. Aber es gibt ein Verständnis für die Täter, das vor den selbst wieder gewaltgetränkten Bildern von Monstern und Tötungsmaschinen bewahrt.
Gelingt es einem Täter, zu diesem Verständnis vorzustoßen, kann das zu einer inneren Kehrwende führen.
Für alle, die mit Kindern zu tun haben, ist es wichtig, diese Zusammenhänge zu bedenken und das eigene Verhalten danach auszurichten, um keine Gewaltspiralen mit unabsehbaren Folgen anzulegen.
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