Beim Thema Demut begegnen wir dabei einem interessanten Erfahrungsfeld. Ich habe schon in einigen früheren Beiträgen auf die zentrale Bedeutung dieser Haltung für den inneren Weg hingewiesen. An der aktiven, frei gewählten Haltung der Demut bricht das Ego. Sobald wir erkannt haben, dass wir weder größer noch kleiner sind, als wir sind, sondern genau so groß, wie wir eben sind – in jeder Hinsicht –, und dass das auch gut so ist; sobald wir aufhören, uns mit anderen zu vergleichen, muss das Ego seine Ansprüche und Erwartungen aufgeben, die entweder von Größenfantasien oder Minderwertigkeitsgefühlen gefüttert sind. Unser Ego will uns immer anders haben als wir sind. Es nörgelt und kritisiert an uns herum, bewertet und vergleicht uns und ist nie zufrieden. Es zweifelt und macht uns Vorwürfe. Wenn es etwas von Demut hört, kriegt es Angst und bewirkt, dass jeder Schritt in diese Richtung unterlaufen wird.
Auf diese Weise entstehen Demutsposen, die sich selbst widersprechen, oft ohne dass es den betreffenden Personen auffällt. Es sind Kompromisse zwischen einem mentalen Konzept, in dem klar geworden ist, dass Demut eine gute Sache ist, und den Bedürfnissen des Egos, das sich gegen seine Entmachtung sträubt.
Die hochmütige Demut
Manchmal begegnen wir einer großspurigen Demut, die jeden direkt oder indirekt wissen oder spüren lässt, wie wichtig und vorbildhaft sie ist. Jemand, der diese Einstellung pflegt, fühlt sich besser als die anderen, die noch weniger demütig sind, und schaut auf sie herab. Die echte Demut hingegen ist bescheiden, ohne sich zu beschneiden. Sie weiß, dass sie nur durch Handlungen und nicht durch zur Schau getragen Posen wirken kann. Denn sie hat nichts, was sie sich auf irgendeine Fahne heften könnte, nichts, was sie vor sich hertragen könnte mit der Aufforderung: „Sieh mal, was ich da Tolles habe, sieh mal, wer ich bin!“
Demut, die zur Schau getragen wird wie ein neues prächtiges Kleid, das alle bewundern sollen, kommt als hochmütige Überheblichkeit an und ist unglaubhaft, weil sie nur den Narzissmus füttert. Häufig verbindet sich diese Haltung mit dem Drang, andere manipulativ zu beeinflussen, damit sie die Selbstbestätigung liefern, die jemand braucht, der sich selbst in seiner Demutshaltung idealisiert.
Die unsichere Demut
Das Gegenteil ist die selbstunsichere Demut. Sie will Verständnis und Mitgefühl dafür, dass sie gerne noch demütiger wäre, aber noch lange nicht so weit ist. Wenn wir diese Tendenz in uns entdecken, können wir uns darüber klar werden, dass sich die echte Demut nicht klein macht, sondern zu sich steht; nicht, weil es nach irgendeinem Maßstab so sein sollte, sondern weil es sich für einen selber genau so richtig und stimmig anfühlt. Demut ist erst dann verwirklicht, wenn sie einfach da ist, und nicht dann, wenn sie sich als Ergebnis eines Übungsprogramms oder einer Erbauungsbelehrung wie ein Ideal im Kopf eingenistet hat.
Wir verwechseln also gerne einen schwachen Selbstwert mit Demut. Jemand gibt sich schüchtern und zurückhaltend, weil sie über sich denkt, dass sie nichts wert ist oder nichts zu bieten hat. Das hat nichts mit Demut zu tun, sondern mit einem blockierten Zugang zur eigenen Kraft. Die echte Demut erwächst aus der inneren Stärke, die es sich erlauben kann, sich selber nicht so wichtig zu nehmen.
Die geheuchelte Demut
Die geheuchelte Demut macht sich und anderen eine Haltung vor, die gar nicht gelebt wird. Sie will ein Ziel erreichen, um z.B. nach einem Misserfolg wieder Sympathie zu bekommen. Da die Haltung der Demut bei anderen Menschen Vertrauen erweckt, weil sie sich nicht vor einem Angriff fürchten müssen, kann sie auch strategisch eingesetzt werden, um als fairer Verlierer gut anzukommen.
Mit Heucheln wollen wir Eindruck schinden, bei den anderen und auch bei der kritischen Instanz im eigenen Inneren. Auch hier spielt ein Ideal, dem wir entsprechen sollen, aber eigentlich nicht wollen, die tonangebende Rolle. Die Aufgabe, das Ideal zur Realität werden zu lassen, wird gerade durch diese Rolle behindert. Denn das Ideal täuscht und kann mit scheinbaren Gewinnerfahrungen mit der Täuschung zur Gewohnheit werden.
Authentische Demut beginnt erst dort, wo kein Beweis und keine Bestätigung von außen notwendig ist. In dieser Haltung folgen wir keinem Ideal, sondern dem, was sich für uns selber als stimmig anfühlt. Was aus dieser Haltung heraus geschieht, hat kein Ziel und keinen Zweck und ist nicht von den Reaktionen der anderen Menschen abhängig.Thérèse von Lisieux schrieb: „Wir müssen unsere Unvollkommenheit annehmen und lieben und nicht länger daran arbeiten, Heilige zu werden, sondern nur uns mühen, Gott Freude zu machen."
Die verlegene Demut
Sie verwechselt Demut mit übertriebener, weil selbstverleugnender Bescheidenheit. Sie tut sich schwer, Lob und Anerkennung anzunehmen. Ihr Ideal erlaubt nicht, herauszuragen und andere zu übertreffen. Wenn sich jemand für eine gute Tat bedankt, wirkt eine Person mit dieser Einstellung verlegen und abwehrend: "Was ich getan habe, ist ja nicht der Rede wert”. Es handelt sich also um eine Spielart der unsicheren Demut, die es peinlich findet, im Rampenlicht zu stehen, und sei es auch nur in kleiner Runde, wenn jemand lobend erwähnt, was gemacht wurde.
Zwar ist die echte Demut nicht auf Lob und Anerkennung angewiesen, aber sie kann sich freuen, wenn andere Menschen die eigene Leistung erkennen und bestätigen. Es ehrt Menschen und ist Ausdruck ihrer Demut, wenn sie andere Menschen für ihr Tun bestätigen und loben. Sich zu bedanken für etwas, was man empfangen hat, zeigt von Herzlichkeit und Großmut und erfordert das offene und dankbare Annehmen von der Person, die bedankt wird. Jeder Akt, der aus Demut geschieht, verdient Dank, und jeder Dank, der gegeben wird, verdient seine Annahme und Anerkennung.
Die belehrende Demut
Die zumutende Demut will bei anderen die eigene Einsicht einfordern: Nimm dein Schicksal demütig an, dann bist du so glücklich wie ich. Deine Leiden stammen aus deiner Unwilligkeit zur Demut. Also bemühe dich mehr, deinen Hochmut zurückzudrängen.
Belehrung kommt immer aus einer überlegenen Position. Wer sich in der Haltung der Demut befindet, gibt gerne sein Wissen und seine Erfahrungen weiter, will aber niemanden zum eigenen Weg überzeugen, weil klar ist, dass jeder Weg zur Befreiung individuell ist. Gelehrte Demut baut ein Ideal im Kopf der Belehrten auf und muss von diesen in ihrer Art erst in die Praxis umgesetzt werden. Beim Belehren müssen wir immer mit Widerständen rechnen, so gut auch die Absicht ist.
Wir alle brauchen Impulse von außen, wenn wir im Inneren weiter wachsen wollen. Am besten lernen wir durch die Vorbildwirkung, die im Fall der Demut dann besonders gut ankommt, wenn sie uns ganz still und unprätentiös begegnet, ohne jede Absicht, uns zu verändern.
Reue und Demut
Wenn wir etwas, was wir getan haben, bereuen, weil es jemand anderem geschadet hat oder Verletzungen bewirkt hat, dann kommen wir in die Haltung der Demut. Wir erkennen und anerkennen die Grenzen unseres Gutseins und die Diskrepanz zwischen Absichten und Ergebnissen. Wir gestehen uns ein, dass unser Unbewusstes seine weiterwirkende Macht hat und uns zu Handlungen führt, von denen wir nachher einsehen, dass sie falsch und schädlich waren. Wir erkennen, dass wir unvollkommen und fehleranfällig sind und unsere Schwächen haben, und dass wir aus dieser Mangelhaftigkeit heraus anderen Schaden zufügen können.
Die Demut nach der Reue steht in einem sozialen Funktionszusammenhang. Sie ist nicht von Dauer, denn sie verschwindet, wenn die betroffene Person eine Entschuldigung annimmt. Aber wir können über die Reue mehr über das Wesen der Demut erfahren und verstehen. Wir erkennen, dass wir mit dem demütigen Eingestehen unserer Schwachstellen und Persönlichkeitsmängel mit anderen wieder in Gleichklang kommen können und damit Konflikte lösen können.
Die authentische Demut
Die wirkliche Demut, die auch die ist, die als einzige Gutes in der Welt schafft, ist selbstbewusst und kräftig, klar und kompetent. Sie steht ganz in der Welt und ist voll aktiv in ihr. Sie ist nur von den eigenen Ambitionen losgelöst. Die authentisch demütige Person braucht sich ihre guten Taten nicht mehr selber zuzuschreiben und sich damit brüsten. Vielmehr kann sie sich als „Handlanger“ einer höheren Macht verstehen und dafür dankbar sein. Sie ist nicht von Anerkennung und Bestätigung abhängig.
Authentische Demut entsteht, wenn jemand ein gerades Verhältnis zur eigenen Wertigkeit hat und weder einem narzisstischen Hochmut unterliegt noch an sich selbst zweifelt oder verzweifelt. Eine ausgereifte Selbstakzeptanz ist der Schlüssel für eine echte Haltung der Demut, die sich daraus wie von selbst ergibt. Denn man muss niemandem irgendetwas noch beweisen, sondern kann seine Handlungen an der Übereinstimmung mit den eigenen Werten ausrichten.
Die aktive und authentische Demut ist nicht an vorhergehende Fehler oder an emotionale Schwächen geknüpft. Sie sucht nicht einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation, sondern weiß um die grundlegende Unvollkommenheit des Menschseins. Wie schon Immanuel kant gemeint hat: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.”
Oft ist diese Demut mit Humor und Selbstironie verbunden, mit einer barmherzigen Einstellung sich selbst und den anderen gegenüber. Ein demütiger Mensch kann über die eigenen Schwächen schmunzeln oder lachen und tut sich deshalb auch leicht mit den Schwächen der Mitmenschen. Fehler und Unachtsamkeiten passieren unter Menschen, Mängel sind unser Wesenszug. Da können wir schon mal über die Unzulänglichkeiten von uns und unseren Mitmenschen lächeln, anstatt uns zu ärgern und uns selber oder andere zu kritisieren und abzuwerten. Wie sagt die Volksweisheit: „Auf Erden lebt kein Menschenkind, an dem man keinen Mangel find’t.”
Zum Weiterlesen:
Passive und aktive Demut
Demut als spirituelle Haltung
Demut und Mitmenschlichkeit
Reich und arm, Demut und Würde
Die Gleichberechtigung des Seins
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